Schalttag statt Alltag – Ein Manifest & mehr

EIN MANIFEST CONTRA CALARIUS und PRO SOLARIS

Nieder mit der Diktatur der Uhren! Alle Macht den solarischen Sekunden!

Wir, die Gruppe 366, sind eine Vereinigung von Sonnenanbetern und Tropentrojanern. Wir haben uns der Rückkehr zur natürlichen Zeitmessung und der Abschaffung der diktatorischen Zeitverfälschung verschrieben.

Die Zeit ist in ihrer Ausführung und Richtung vom Kalender und den Uhren abhängig, in deren Korsett sie lebt, ein Korsett erdacht von den Menschen und Sklaven ihrer Epoche. Die höchste Zeit wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht.

Hat der Kalender unsere Erwartungen auf eine solche Zeit erfüllt, die eine Ballotage unserer vitalsten Angelegenheiten ist?

Nein! Nein! Nein!

Haben die Uhren unsere Erwartungen auf eine Zeit erfüllt, die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt?

Nein! Nein! Nein!

Wir, die Gruppe 366, haben uns zusammen getan, um eine Zeit durchzusetzen, von der wir die Verwirklichung unserer Ideale erwarten.

Wir fordern ab sofort:

5. Das annus intercalarius bzw. annus bissextus (im Volksmund Schaltjahr genannt) wird abgeschafft.

1. Alle Chronometer (im Volksmund: Uhren) werden abgeschafft. Das gleiche gilt für jede Art von Chronologie.

7. Die Länge der Tage wird ausschließlich vom Sonnenkalender bemessen, auch tropischer Kalender genannt.

3. Jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze hat das Recht, die volle Länge des tropischen Jahres auszuleben, nämlich 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 45,261 Sekunden. Das entspricht einer zusätzlichen täglichen Bonuszeit von durchschnittlich 57,329 Sekunden. Diese Sekunden sollen aber nicht gezählt, sondern genossen werden. Sie heißen fortan: solarische Sekunden.

2. Zur Zeitmessung werden ekliptische Frühlingspunkte bezogen auf die Sonne in gleichmäßiger Präzession und Nutuation angesetzt. Hierfür wird ab sofort das Tulpen-Chronometer eingeführt. Solange die Tulpe ihren Kopf nicht neigt, ist der Tag noch nicht zu Ende.

4. In einer Welt ohne Uhren gibt es auch keine Verspätungen mehr. Folgerichtig fordern wir die Ersetzung des Wortes “Verspätung” in allen Sprachen dieser Welt durch das Wort: „Solarequivalenz“.

6. Jeder, der versucht, die Lebensausdehnung über das diktatorische Tagesmaß von 24 Stunden hinaus einzuschränken, wird auf unbestimmte Zeit ins Solarium verbannt, inklusive Sonnenbrand.

Wir, die Gruppe 366, verpflichten uns gegenüber dem Universum, den Menschen, Tieren und Pflanzen, die Einhaltung dieser Forderungen niemals chronometrisch zu überwachen.

Lang lebe die Zeitlosigkeit!

gez. PRO SOLARIS 366

Die Sprecher der Gruppe 366 beim Verlesen des Manifests. Urs und Ulrike

Diesen Text habe ich heute, am 29. Februar 2020, bei der Lesung “Der geschenkte Tag” in der Lettrétage vorgetragen. Diese Lesung habe ich gemeinsam mit anderen Absolventinnen und Absolventen meines Jahrgangs BKS 11 – Biografisches und Kreatives Schreiben an der ASH Berlin – gestaltet.

In einem weiteren Text habe ich das Thema lyrisch  interpretiert:

SIE

Sie ist die Schönste und die Höchste, die es gibt

seit jeher bist du schon mit ihr zusammen

Du kannst auf sie spielen und ohne sie nicht sein

manchmal würdest du sie am liebsten totschlagen

Du hättest sie so gern für dich allein

doch musst du sie mit allen anderen teilen

 

Du möchtest mit ihr gehen

doch oft rennt sie dir davon

je mehr du mit ihr Schritt zu halten versuchst

desto mehr hinkst du ihr hinterher

doch manchmal steht sie still mit dir

dann bist du ganz versöhnt mit ihr

 

Sie heilt so manche Wunden

und hinterlässt doch tiefe Spuren

an ihrem Zahn möchtest du sein

ihren Nerv treffen und sie reif sein lassen

wenn sie kommt, dann kommt auch Rat

ihr Rad dreht sich ganz ohne Tat

 

Mit ihr kannst du nur voran gehen

sie lässt sich nicht von dir zurück drehen

Für die einen ist sie gleichermaßen Geld

die anderen wollen sie mit vollen Händen verschwenden

Manche sind sehr darauf versessen

sie ganz genau zu messen um sie ja nicht zu vergessen

 

Du kannst nicht von ihr lassen

und sie trotzdem nicht fassen

Sie weilt mit dir lange oder in Eile

Sie teilt mit dir dein Glück und deine Not

Ob traurig oder heiter

mit ihr geht es immer weiter

zusammen seid ihr schon zu zweit

Ach, du liebe ZEIT

Hier könnt ihr euch einen Einruck von meiner Lesung machen:

 

Meinen dritten Text “Schalttag statt Alltag” möchte ich euch zum Anhören präsentieren.

Hier noch ein Video-Auszug aus der Lesung meines Textes “Schalttag statt Alltag”:

Wir haben uns über ein sehr interessiertes Publikum in der Lettretage gefreut. Hier liest gerade Urs seinen Text, der 29 x das Wort 29 enthält.

Wer noch mehr Texte zum geschenkten Tag entdecken möchte, der wird auf den Blogs meiner Mitleserinnen und Mitleser fündig:

Urs Küenzi: Twentynine Palms

Christiane Henkel: Der geschenkte Tag

Sabine Hinterberger: Der geschenkte Tag oder Henni und die Schlagsahne

 

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9 Antworten auf „Schalttag statt Alltag – Ein Manifest & mehr“

  1. Liebe Ulrike,

    danke für die gesammelten WortBildTon-Eindrücke zum gestrigen geschenkten LesungsTag …
    Wenn ich morgen später ins Büro kommen sollte, habe ich jetzt die neue “Ausrede” dafür: Solarequivalenz.
    Ich freue mich jetzt schon auf die Gesichter meiner Kolleg*innen,
    liebe Grüße,
    Mia

  2. Liebe Ulrike
    Ich habe mich sehr über das Manifest gefreut und bin stolzes Mitglied der Gruppe 366!
    Aber auch Dein erster Text hat mir sehr gut gefallen, ein wahrer Ohrenschmaus, stimmiger Sound&Rhythmus, überraschende Wendungen, schöne Wortschöpfungen.
    Du hast den Schalttag bereichert!
    Herzlich, Urs
    PS: Und lieben Dank fürs Verlinken!

    1. Vielen Dank lieber Urs! Ich freue mich schon auf unser nächstes Gruppentreffen am 366. Tag des Jahres (nach dem Tulpenkalender). 🙂

  3. Liebe Ulrike,
    Ich hätte mich am 29. Februar gerne nach Berlin gebeamt, um live dabei zu sein bei eurer Lesung “Der geschenkte Tag”, insgesamt ein tolles Event!
    Vielen Dank für deine tollen Texte und auch die Audio- und Videokostprobe.
    Das “Manifest CONTRA CALARIUS und PRO SOLARIS” finde ich auf Anhieb sehr gewitzt … und bei weiterem Nachdenken steckt auch einige Weisheit drinnen. Das ist ein Text, den ich gerne mehrmals lese. Ich finde die Befreiung von der künstlichen Uhr – und zurück zur Uhr der Natur – ein verlockendes Konzept! Das werde ich im nächsten Urlaub ausprobieren!

    Dein Gedicht über SIE gefällt mir sehr! Sprachlich fließt es ganz mühelos dahin, wirkt verspielt, überrascht mit Witz und Wendigkeit und weckt lebhafte Bilder und Gefühlsstimmungen in mir.
    Es ist wirklich erstaunlich, wie viel wir uns im Leben mit “Zeit” beschäftigen, mal im Messbaren, mal im emotionalen Erleben. Das zeigt sich auch in den vielen Redewendungen rund um Zeit, die du in deinem Gedicht aufgreifst und ebenso originell wie poetisch neu verknüpfst. Wunderschön! Mit dem Lauschen auf dein Gedicht nehme ich mir Zeit fürs Träumen. 🙂

    Deinen Poetry Slam “Schalttag statt Alltag” finde ich einfach genial! Ein Feuerwerk von Ideen und sprachlicher Finesse!
    Du trägst deinen Text auch sehr professionell und mitreißend vor, auch mit unverwechselbarer Persönlichkeit. Weitere Poetry Bühnen warten auf dich!

    PS: Reserviere mir schon mal einen Backstage Pass, dann werde ich deine Videografin und inszeniere dich auf Social Media für deine Fans. 🙂
    LG Dorit

    1. Vielen Dank liebe Dorit! Ja, lass dich gut von deiner ureigenen Natur-Uhr urlaubend und unterwegs unterweisen. 🙂
      Den Backstage-Pass für meine zukünftigen Poetry-Slam-Auftritte reserviere ich gerne für dich. Vielleicht kannst du mich via youtube zur Julia Engelmann der 20er Jahre machen… 😉 Die Frau ist inzwischen erfolgreiche Buchautorin – Hauptsache, man hat einen bekannten Namen.

  4. Liebe Ulrike,
    ich wäre gern Mitglied der Gruppe 366, gehöre allerdings überhaupt nicht zu den Sonnenanbetern und in die Tropen zieht es mich aufgrund der dort herrschenden Hitze nicht. Andererseits bin ich nicht Freundin der arktischen Weiten und Schattengewächse, mag ich allenfalls in Form von Tomaten und Kartoffeln. Ich lebe und liebe das gepflegte Mittelmaß der Dinge . Für Extreme konnte ich mich nie erwärmen und Radikales lässt mich kalt. Ohne Uhr zu leben, erscheint mir eine annehmbare Herausforderung. Der 29. Februar scheint mir verzichtbar. Warum schaffen wir nicht einfach die Zeitrechnung für eine gewisse Zeit ab?
    Deine Texte bringen mich wunderbar ins Fabulieren und Sinnieren über die Zeit und ihre Vergänglichkeit. Du sprühst vor Ideen und findest immer wieder neue Formen zur Textumsetzung. Danke, dass ich so ein bisschen an der Lesung in Berlin teilhaben konnte.
    Liebe Grüße
    Anne

    1. Vielen Dank liebe Anne! Hiermit bist du herzlichst in der Gruppe 366 aufgenommen! 🙂 Wir ernennen dich zur uhrlosen Schutzpatronin von Tomaten und Kartoffeln im natürlichen Mittelmaß. Erntezeit ist immer am 29. Februar, der zwar offiziell abgeschafft ist, aber vom Schattenkalender bei Mondschein angezeigt wird.

      1. Liebe Ulrike,
        dieses Amt nehme ich sehr gern an und werde ab sofort die Tomaten und Kartoffeln mit Augenmaß beschützen. Das Mittelmaß der Dinge wird mir inoffiziell den 29. Februar unuhrmäßig anzeigen und wir werden gebührend feiern.
        Bis dahin herzliche Grüße von der Ka-To Schutzpatronin.

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