Lernwelten 2030: Kapitel 3 – Ein Learning Center mit vielen Gesichtern

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 8. Februar 2030, 10 Uhr – Kibe lernt Fiona und den Campus kennen

Hallo Fiona“, sagte Kibe und schüttelte höflich ihre Hand. Sie standen sich zum ersten Mal leibhaftig gegenüber. „Sie ist zierlicher als ihr Avatar und ihre Augen leuchten viel wärmer“, schoss es Kibe durch den Kopf.

Toll, dass du endlich hier bist“, strahlte Fiona und umarmte ihn. „Karibu“, versuchte sich Fiona an einem Willkommensgruß auf Swahili. „Wie war deine Reise? Fühlst du dich im Wohnheim wohl?“

Kibe erzählte ihr, dass er sich in den letzten Tagen gut eingelebt hatte.

Du sprichst so gut Englisch und Deutsch“, bemerkte Fiona. „Wie hast du das gelernt?“

Meine Muttersprache ist Kikuyu, sie wird in der Gegend um Nairobi gesprochen. In Kenia gibt es ganz viele Volksstämme mit eigenen Sprachen. Damit wir alle miteinander reden können, lernen wir schon in der Grundschule Swahili und Englisch. Diese beiden Sprachen hört man auch im Radio, Fernsehen und Web. Deutsch habe ich mit Online-Tutorials gelernt.“ Kibe zeigte Fiona auf seinem Smartphone seinen Sprachtrainer und wie er auch bei seinem Learning Content Untertitel in verschiedenen Sprachen einschalten konnte.

Look, ich habe eine smarte Translation App, die gerade unser Gespräch mithört und mir sofort eine Übersetzung in Swahili zeigt“, sagte Kibe.

Dann kann ich ja losplappern“, lachte Fiona. „Komm, jetzt zeige ich dir unseren Campus. Hier gibt es ein paar Sachen, die du noch nicht vom SimCampus kennst.“

Sie standen gerade in der Mitte des Meet and Greet Foyers im belebten Learning Center.

Guck, hier im Open Space kannst du dir aussuchen, was du gerade brauchst. Wenn du was essen und mit Freunden chillen willst, dann ist das Café das Richtige. Du kannst dein Essen auch in die Lounge nebenan mitnehmen“, erklärte Fiona Kibe. „Wenn du was Unimäßiges mit anderen besprechen willst, gehst du lieber in die ruhigeren Lernareale.“

Fiona führte Kibe ein Stück weiter, sie gelangten in einen riesigen Raum, der von einer Glaskuppel überspannt war. Dort oben schwebten farbige Stoffbahnen wie Drachen am Himmel, sie fingen den Schall ein. Der Boden und die Wände waren mit dunklem Filz verkleidet, von dem sich die Sitzlandschaft mit ihren fröhlichen Farben abhob. Viele der überkopfhohen Sitzmöbel waren so arrangiert, dass sie kleine Häuser bildeten. Aus ihnen drang gedämpftes Gemurmel, viele Lernteams waren gerade aktiv.

Dieser Bereich wird The Village genannt, weil es eine Art Lerndorf ist“, erklärte Fiona leise. „Guck, hier hinter diesen Polsterwänden verstecken sich gemütliche Sitzbänke rund um einen Tisch, da können sechs Leute zusammenarbeiten. Auf den Schildern steht „Soundroom“, weil sie schallgeschützt sind, aber wir nennen die Dinger einfach Sofahütten. Sie haben kein Dach und es kommen Licht und frische Luft von oben rein. Natürlich gibt es außerdem Leselampen und eine Klimaanlage. Am schönsten finde ich, wenn es draußen dunkel wird und in der Glaskuppel ein Sternenhimmel aufgeht. Okay, die Sterne sind fake, aber das Feeling ist fab“, schwärmte Fiona.

Was Kibe am besten gefiel, waren die „Green Walls“, die überall zu sehen waren. Auf diesen Wänden wuchs echtes Moos. Kibe wusste, wie wichtig solche Mooswände waren, um die Luft in den Städten zu filtern und zu kühlen.

Im Sommer werden die Betonfassaden zum reinsten Backofen“, erzählte Fiona. „Deshalb wurden hier am Campus und in der Innenstadt so viele Mooswände und hängende Garten gebaut. Bei Neubauten nimmt man direkt viel Holz für drinnen und draußen, das sorgt für ein gutes Klima und verbraucht wenig Energie.“

In Kenia benutzen wir Holz schon seit vielen Jahren zum Bauen“, sagte Kibe.

Kibe berührte das samtige Moos und sog das würzige Aroma ein. „Das erinnert mich an die Wiesen daheim in der Regenzeit.“

Fiona fragte Kibe mit Feuereifer nach all den Pflanzen und Tieren, die in seiner Heimat, der Hochebene beim Mount-Kenya-Massiv, lebten.

Wo wir gerade von Natur reden: Komm mit in unseren Learning Forest“, sagte Fiona und führte Kibe in eine Halle, die mit ihren vielen Pflanzen, Bäumen und Vogelstimmen einen Wald vortäuschte. Aus hygienischen Gründen waren nur die Pflanzen im Freilichtinnenhof lebendig. Die Holzverkleidung der Wände und die Möbel waren aus Echtholz, wie Kibe an den Astlöchern und Ritzen sah. Sie gingen mit lautlosen Schritten über den grünen Filzteppich. Es gab hier in verschiedenen Nischen Sitzgruppen für Lernende und auch auf den Hochplateaus konnte man abgeschirmt sitzen. Fiona nannte sie Baumhäuser.

In der Mitte lag das „Lagerfeuer“, ein digitaler SmartCube, um den rundum Holzsitzbänke treppenförmig angeordnet waren. Gerade saß dort eine Gruppe von Studierenden, die sich Artefakte virtuell am SmartCube ansah und besprach. Einige riefen virtuelle Objekte auf ihren Smartphones auf, platzierten sie im Raum und umkreisten sie mit Blick aufs Smartphone im Gehen. Andere trugen Mixed-Reality-Brillen zum Ansehen der virtuellen Objekte, die den physischen Raum überlagerten.

Hier wird nicht nur gelernt. Wenn das fake Lagerfeuer brennt, liegen die Leute hier auch gerne rum und quatschen. Ich nenne das ganze Ding Finnische Sauna … weil es halt so aussieht“, scherzte Fiona. In ihr Smartphone sagte sie zu ihrer K.I. Assistentin: „KIM, bestell mir einen Aufguss mit Aroma ‚Fichtenwald‘, in 10 Minuten“.

Es dauerte etwas länger als sonst bis KIM antwortete, erst musste sie Fionas Standort über GPS orten und einige Informationen im Netz suchen:

Du befindest dich im Lovelace Learning Center. Dieses Gebäude verfügt nicht über eine Sauna. Das nächste Saunacenter befindet sich in der Schützallee Nummer 6. Die Entfernung beträgt 3,2 Kilometer. Soll ich dir den Weg zeigen?“

KIM, das war ein Witz! Merk dir das“, versuchte Fiona, KIM zu erziehen.

Kibe hatte den Dialog amüsiert verfolgt. „Mein K.I. Assistent kapiert auch einige Sachen nicht, deshalb nenne ich ihn Kevin“, sagte Kibe und beide brachen in Gelächter aus.

Sie gingen ein Stück weiter. In einigen Zonen gab es verschließbare gläserne Räume.

Wenn du es noch leiser haben willst, kannst du in einen Gruppenarbeitsraum gehen, den musst du aber vorher übers Campusbuchungssystem reservieren“, erklärte Fiona. „Es gibt eine große Auswahl von solchen Räumen am Campus in verschiedenen Größen und Ausstattungen.“

Sie standen gerade vor einer Glaswand und blickten in einen Gruppenarbeitsraum, in dem vier Studierende an einem großen Smartboard standen.

Stört es euch nicht, wenn jeder reingucken kann?“, fragte Kibe.

Dafür gibt es einen Trick: Wenn du den Privatsphäre-Modus aktivierst, verwandelt sich die Scheibe in Milchglas, das ist irgendwie ein chemischer Prozess“, sagte Fiona. Sie zeigte ihm diese Funktion und Kibe staunte, als sich die Scheibe wie von Zauberhand verwandelte und der gläserne Raum aussah, wie mit Zuckerguss überzogen.

Wir nennen diesen Modus auch „Zuckerberg-Filter““, erklärte Fiona und zwinkerte Kibe zu.

Dann führte Fiona Kibe in die zweite Etage des Learning Centers, den Creative Floor.

Komm, ich zeig dir den Idea Market. Dort kann jeder seine Projekte und Ideen mit Postern, Exponaten und multimedialen Showcases vorstellen. Wenn man die Projektleute persönlich treffen will, geht man dort zur „Meet and Talk Time“, die fängt jetzt gleich um 12 Uhr an“, erzählte Fiona.

Sie gingen zum Stand von Fionas deutschtürkischen Freunden Nesrin und Serkan, sie studierte Kulturwissenschaften und er Pädagogik. Sie warben dort für ihre multimediale Märchenausstellung „Gretel trifft Aladin“. Sie handelte davon, wie die Grimm‘sche Märchenheldin einst mit Aladin die Wunderlampe in der Welt von 1001 Nacht suchte und ein Knusperhaus fand. Fiona hatte an der virtuellen Schnitzeljagd mitgearbeitet. Diese Erlebnisausstellung war im Exhibition and Performance Space am Campus zu erleben. In dieser Mehrzweckhalle mit Auditorium fanden alle Kunstprojekte statt. Das Märchenprojekt war eine Zusammenarbeit mit einer Berliner Schauspielschule, die dort einmal im Monat „Hänsel und Gretel“ als Theaterstück aufführte.

Morgen sehe ich mir die Ausstellung an, ich bin sehr gespannt!“, sagte Kibe.

Willst du wissen, wo solche Ideen entstehen?“, fragte Fiona.

Kibe ahnte die Antwort: „Dafür wäre das Creative Mashup Board gut!“

Er kannte dieses Board aus vom SimCampus. Sie gingen in den Nebenraum, wo ein wandfüllendes Whiteboard mit einer riesigen Bild-und-Wort-Collage hing. Dort am Mashup Board konnten alle Studierenden ihre Ideen anschreiben, anmalen und alles Mögliche wie Fotos, Poster, Zeitungsartikel oder Stoffe mit Magneten befestigen und mit Wollfäden Querverbindungen zeigen. Auch QR-Codes mit Links zu Online-Content waren zu sehen.

Im letzten Sommer hatten Kibe und Fiona an einer virtuellen „Utopiewerkstatt“ teilgenommen. Dort hatte die Dozentin die Collage zum Thema Zukunftsträume abfotografiert und in eine virtuelle Kreativleinwand eingebunden. Die Studierenden hatten dann digitale Artefakte und Texte ergänzt.

Das Mashup Board wurde von einer Studierendengruppe betrieben. Jeder konnte Diskussionsthemen aufschreiben und mitmachen. Am ersten Tag jeden Monats wurde das Whiteboard geleert. Fiona hatte vor ein paar Tagen diese Frage aufgeschrieben:

Dein Prof hat dich mit einer old school Powerpoint-Präsentation beauftragt. Nun stehst du im Seminarraum vor lauter Leuten mit zero Motivation. Was tun?“ Dazu gab es schon viele bildreiche Beiträge. Fiona machte ein Foto von dem aktuellen Stand und fügte es in ihr My-Path-Portfolio ein.

Ein Stück weiter befand sich ein großer Maker Space, dazwischen lag The Beach, ein Entspannungsareal mit sandfarbenem Boden und Strandkörben. Hier machten Fiona und Kibe nun eine Pause und aßen vegane Frühlingsrollen aus dem Snackautomaten. Dann saßen sie schweigend in ihren Strandkörben und beide war in ihr InstaREAL vertieft. Kibe stellte ein 360-Grad-Video mit immersion effect ein, das er im Learning Forest gemacht hatte und bekam sofort 77 Likes von ein paar Freunden und vielen Fremden. An seine Mutter sendete er ein happy Selfie von sich und Fiona. „Wir sehen aus wie alte Freunde. Dabei haben wir uns erst vor zwei Stunden in Real Facetime kennengelernt … seltsam“, dachte er.

Plötzlich fühlte er sich erschöpft von den vielen neuen Eindrücken und sehnte sich nach dem vertrauten Blick aus seinem Fenster daheim auf die glitzernden Gletscher des Mount-Kenya-Massivs. Hier beim künstlichen „Beach“ standen die Strandkörbe vor einem Panoramafenster und Kibe ließ nun seinen Blick über die Parklandschaft des Campus‘ wandern. Dunkle Stämme und Zweige ragten wie Geistergestalten aus Nebelschwaden hervor. „Wie lange wird es wohl dauern, bis ich in dieser neuen Umgebung den Durchblick haben werde?“, fragte er sich.

Als nächstes gingen sie in den Study Complex, der neben dem Learning Center lag. Dort gab es Seminarräume für Lehrveranstaltungen, Gruppenarbeitsräume, Project Labs, einige Büros für die Professorinnen und Professoren und einen großen Co-Working Space. Nur wenige der Lehrenden hatten hier ein eigenes Büro, die meisten arbeiteten im Home Office und kamen nur für Seminare, Besprechungen und gemeinsame Projektarbeiten auf den Campus.

Ihren Lieblingsort hatte Fiona als großes Finale des Rundgangs aufgehoben: den Rooftop Garden.

Wenn der Dachgarten nicht gerade Winterschlaf macht, blühen hier ganz viele Blumen und man kann sich sonnen oder im Schatten saggen“, erzählte Fiona. „Im Gewächshaus werden das ganze Jahr über Gemüse und Kräuter für unsere Cafeteria angebaut. Meine Öko-Gruppe hat erreicht, dass die Cafeteria an zwei Tagen ein rein vegetarisches Angebot hat. Wir Studis können an unserer Uni echt was bewirken. Und hier in der beheizten Orangerie gibt es diese Kokonsessel, ein Geheimtipp, wenn man in Ruhe was arbeiten will. Es gibt auch Leute, die dort gar keine Unisachen lernen, sondern in Fantasyromanen schmökern…“, sagte Fiona und ihre Augen funkelten schelmisch.

Foto von Dorit Günther: LEO Universität Kassel, 2019
Foto von geralt, frei nutzbar nach Pixabay License

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Die Autorinnen stellen sich vor

Titelbild: Foto von Dorit G.: Bibliothek der FU Berlin, 2017

Lernwelten 2030: Kapitel 2 – Zukunftsträume fliegen von Berlin nach Afrika

Deutschland: Berlin Dahlem, Fionas Zuhause – 4. Februar 2030, 6:55 Uhr Fiona frühstückt mit ihrem Vater und geht zum Campus

Fiona träumte wieder von diesem Baum, der sich wie ein wütender Riese aus dem Betonboden der Universitätsbibliothek erhob. An seinen knorrigen Armen hingen anstelle von Laub die Seiten alter Bücher. Er fegte seine Äste durch die leeren Regale und Tischreihen und seine Buchblätter fielen zu Boden wie welkes Laub. Sie lief hilflos auf dem Blätterteppich aus bedruckten Seiten umher und versuchte, den Wüterich zu besänftigen. Sie war verantwortlich für die Rettung des Bücherbaums, er war der letzte seiner Art! Trommelnde Bongos rissen sie aus ihrem Traum und sie setzte sich ruckartig im Bett auf. Blinzelnd orientierte sie sich im Zimmer. Auf dem wandfüllenden Display neben ihrem Bett war die Sonne in der afrikanischen Savanne bereits aufgegangen und einige Giraffen näherten sich der Wasserstelle. Täuschend echt war auch die Wärme, die aus dieser Savanne ins Zimmer strahlte. Obwohl die ThermoSkin vor ihren Fenstern heruntergefahren war, wusste sie, dass Berlin noch im Dunkeln lag. Das Trommeln kam nun näher, wurde lauter.

Lass mich schlafen“, murmelte Fiona in Richtung von KIM, aber diese schien sie nicht zu hören, denn die Bongos hörten nicht auf. „Ruhe“, rief Fiona nun energisch, aber wirkungslos. Sie tastete nach ihrem Smartphone. Kein Wunder, dass ihre SmartAssistentin KIM sie nicht hörte, denn deren Sprachsensor war tief vergraben unter dem Quilt, an dem Fiona gestern Abend genäht hatte.

Schluss mit den Bongos, ich stehe jetzt auf“, sagte sie zu KIM. Augenblicklich befahl KIM dem Soundsurroundsystem des Zimmers, den Bongoweckruf auszuschalten. Seit Fiona vor zwei Jahren auf der Abiturfeier ihrer Waldorfschule bei der Bongo-Aufführung mitgespielt hatte, liebte sie den Klang der Bongos. Sie sind der Ruf Afrikas, fand Fiona.

Guten Morgen, Schlafmütze, mach dich fertig für die Uni“, sagte die Stimme von KIM im Strict Mummy-Klangmodus, den Fiona ausgewählt hatte. „Okay, KIM. Bereite mir mein Frühstück Fresh2 vor, fertig in 40 Minuten.“

Sie ging ins Bad, wo KIM vor einer Viertelstunde die Bodenheizung angeschaltet hatte. Die Lichtsensoren erkannten den Badezimmergast und die Lampen strahlten Weißlicht auf Fionas Netzhaut zur Anhebung ihres Serotoninspiegels für eine energiereiche Morgenstimmung. Während die warmen Ströme der Regenwalddusche Fiona auf Kopf und Schultern plätscherten, dachte sie an den Baum mit seinen Blättern aus Buchseiten in ihrem Traum. Der war echt seltsam. An ihrer Universität gab es gar keine klassische Bibliothek mehr, stattdessen sorgten Buchattrappen in der Learning Library für eine nostalgische Lernatmosphäre. Alle Bibliotheken dieser Welt standen ihr offen, sie musste nur die virtuellen Türen auf ihrem Smartphone oder auf einem der Displays am Campus öffnen und eintreten. KIM und der K.I. Wizard der Mediathek halfen ihr, alles Gesuchte schnell zu finden.

Während Fiona ihre widerspenstigen Locken stylte, las KIM ihr die Termine des Tages vor. Fiona sagte: „KIM, reserviere einen Gruppenarbeitsraum für 6 Personen im Study Complex C und lade meine Lerngruppe WaldiForever ein. Uhrzeit: zwischen 12 und 16 Uhr, Dauer: 75 Minuten. Automatischen Abgleich mit den Kalendern der Teilnehmenden aktivieren.“

Die Raumreservierung war erfolgreich. Zwei der vier Eingeladenen haben bereits zugesagt“, sagte KIM ihr kurz darauf im Stimmmodus Happy Helper. Seit dem neusten K.I.-Update konnte die smarte Assistentin auch auf Emotionen in Fionas Stimme reagieren. Gerade brachte Fiona ihr bei, auf gefühlsaufgeladene Ausdrücke und Stimmlagen zu reagieren. Wenn Fiona wütend klang, sagte KIM etwas Beschwichtigendes. Wenn Fiona niedergeschlagen klang, lieferte KIM etwas Aufmunterndes. Giga witzig, fand Fiona. Nur Ironie kapierte KIM nie.

Als Fiona in die Wohnküche kam, saß ihr Vater Steven schon am wabenförmigen Tisch, den Blick auf das Display seines All-in-One-Pads gerichtet, ausgestattet mit K.I. Features aus seiner Firma. Er las Nachrichten, ein Sensor erkannte die Bewegung seiner Pupillen und folgte seiner Lesegeschwindigkeit, ein Wischen auf dem Pad war so nicht mehr nötig. Das war sehr praktisch, wenn man während des Lesens essen wollte. Ihr Vater brauchte dafür aber ohnehin nur eine Hand, denn sein Frühstück nahm er in Form eines Healthy-Drinks zu sich, der alle nötigen Nährstoffe perfekt auf ihn zugeschnitten lieferte. Das war das Richtige nach seinem Fitnessprogramm am frühen Morgen.

Fiona nahm den bei KIM bestellten Fair Trade Kakao und den frisch gepressten Orangensaft aus der SmartKitchen-Maschine. Sie verschlabberte etwas vom Saft und ROB surrte herbei, um die kleine Lache vom Boden aufzuwischen. Der Reinigungsroboter sah wie ein kleines Ufo aus, hatte aber Allüren wie ein Kater, fand Fiona. Wenn er im Schlafmodus war, stupste sie ihn gerne mit der Fußspitze an, dann miaute er beleidigt.

Wie läuft es im Studium?“, fragte Steven seine Tochter und blickte von seinem Pad auf.

Alles im grünen Bereich.“ Was sollte diese Frage von ihrem Vater? Nachdem sie ihm die Zustimmung abgerungen hatte, in diesem Semester das kostenpflichtige Zusatzmodul „Nachhaltige Entwicklungsstrategien für Bildung in Schwellenländern“ belegen zu dürfen, hatte sie ihm widerwillig die Funktion PPP (Peek for proud parents) freigeschaltet. Nun bekam ihr Vater automatisch jeden Monat eine Zusammenfassung ihrer angesammelten Credit Points und Warnmeldungen, wenn sie den Level von 70 Prozent Lernbeteiligung unterschritt.

Ich habe dich für das Praktikum im Juli bei uns in der Big Data Abteilung eingelogged“, sagte er. Ihr Vater leitete die Softwareentwicklungsfirma FUTURA und wollte, dass sie in ein paar Jahren in seine Fußstapfen treten würde.

Danke, Papa“, murmelte Fiona und holte sich eine Maismilch im Softpack und Quinoaflocken aus dem Schrank.

Du könntest schon etwas begeisterter klingen“, sagte ihr Vater.

Sorry, ich hab meinen Enthusi-Modus noch nicht eingeschaltet“, gab sie mürrisch zurück.

Sie ließ ein paar Quinoaflocken auf den Boden fallen, damit ROB etwas zu tun hatte.

Das wird halt zeitlich eng, wenn ich im Sommer für drei Wochen zu Lena nach Kenia fliege“, warf Fiona ein.

Dass deine Cousine mit ihren kenianischen Schülerinnen Mangobäume pflanzt in allen Ehren – aber du qualifizierst dich für anspruchsvollere Arbeiten mit Education SmartSystems. Steck deine Energie lieber da rein“, mahnte ihr Vater. „Mit Bildung hilfst du den strukturschwachen Ländern am effektivsten. Deshalb ist FUTURA genau das Richtige für dich.“

Trotzdem bringt das smarte Education Zeug nichts, wenn vielen Menschen immer noch die einfachsten Dinge fehlen!“, meldete sich Fionas Temperament.

Der digitale Markt in Afrika ist fest in den Händen der großen Player“, sagte Steven.

Diese scheiß Datenkapitalisten stürzen sich bestimmt nicht aus Menschenliebe auf Afrika!“, rief Fiona.

Ruhig Blut, Fiona“, schaltete sich KIM ein und begann, „Don’t worry, be happy“ aus Fionas Playlist abzuspielen. „Du nervst“, sagte Fiona in Richtung ihres Smartphones und KIM machte die Musik leiser. Dann musste Fiona doch grinsen, die gute Laune des Retrosongs sprang einfach über.

Ihr Vater nahm den Faden wieder auf: „Jedenfalls bietet unser neues FUTURA Projekt SmartEduTech in Peking die besten Perspektiven für junge Upstarter – auch für dich!“

Papa, jetzt fang nicht schon wieder mit Peking an!“, stöhnte Fiona.

Wir werden sehen“, lenkte ihr Vater ein. Während Fiona ihr Müsli aß und aus dem Fenster hinaus träumte, betrachtete Steven seine Tochter mit Vaterstolz. Mit ihren wilden, kastanienbraunen Locken und den schelmischen Grübchen sah Fiona kindlicher aus, als die Kajalumrahmung der Augen und der pinke Lipgloss glauben machen wollten. Es kam ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, als die vierjährige Fiona auf seinen Schultern geritten war und jauchzend an seinen Haaren gezogen hatte, um das ungestüme Zebra zu lenken.

Auf Stevens Pad poppte eine Meldung auf: Das Elektroauto in der Garage war fertig aufgeladen. Seine Augen befahlen dem digitalen Assistenten, das Auto vorfahren zu lassen. Heute hatte er ein face-to-face Meeting im Co-Working-Lab der Universität.

Soll ich dich im Auto mitnehmen?“, fragte er.

Nein, ich gehe lieber zu Fuß. Ich muss unterwegs noch einen Projektbericht ins My-Path-Portfolio einsprechen.“

Fiona machte sich auf den Weg und diktierte im Gehen ein paar Sätze in das digitale Portfolio. Dann öffnete sie dort ihren smarten Zeit- und Lernplaner und verschob einen Task, den sie am Vortag nicht erledigt hatte, auf den übernächsten Tag.

Mist, das schiebe ich ständig vor mir her“, murmelte sie, was sie sofort bereute, denn KIMs Spracherkennung reagierte auf solche „Prokrastinationssätze“ und meldete sich nun in ihrer Rolle als Study Coach:

Fiona, was höre ich da?“, sagte KIM in ihrer strengen Stimme. „Dein Portfolio meldet mir, dass du den Task „EconomyTest“ zum dritten Mal nicht erledigt und verschoben hast. In deiner Activity Schedule hast du heute einen Free Slot zwischen 13:45 und 14:30 Uhr. Soll ich den Task „EconomyTest“ in diesem Slot einbuchen?“

Nein“, sagte Fiona laut und blockierte die Study-Coach-Funktion, bevor KIM widersprechen konnte.

Der Weg zum Campus führte Fiona nun durch ein kleines Waldstück. Hier steckte sie ihr Smartphone weg, lauschte in die winterliche Stille und sog den natürlichen Duft der Fichtennadeln ein. Der Kunstschnee auf den Tannenzweigen funkelte im Sonnenlicht und unter ihren Stiefeln knirschte das weiße Pulver – das war ein Klangeffekt, an dem die Hersteller vom „Winterzauber“ lange getüftelt hatten. In Fionas Kindheit gab es noch richtig kalte Winter und echten Schnee in Berlin. Jetzt musste sie die Winter-Illusion mit Erinnerungen ausfüllen.

Fotos von geralt, frei nutzbar nach Pixabay Licence

Schnee, Sun, Junge Fichte, Schneeverwehung

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

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Personen und Schauplätze

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CC: Titelbild: Foto von congerdesign auf Pixabay

Lernwelten 2030: Kapitel 1 – Zukunftsträume fliegen von Afrika nach Berlin

Liebe Leserinnen und Leser meines Blogs: Hiermit ist der Startschuss gefallen für die Fortsetzungsgeschichte “Lernwelten 2030 – Zusammenstoß ungleicher Lernkulturen” von Dorit Havel und Ulrike Arabella Meran.

In dieser Verquickung von fiktionaler Erzählfreude und einer wissenschaftsbasierten Zukunftsvision zu Lernräumen und -technologien möchten wir euch ins Jahr 2030 entführen: an der Seite des kenianischen Studenten Kibe und der deutschen Studentin Fiona geht es nach Kenia und an eine Hochschule in Berlin.

Ich wünsche euch einen unterhaltsamen Einstieg mit dem ersten Kapitel:

Kapitel 1 – Zukunftsträume fliegen von einer afrikanischen Bastmatte nach Berlin

Kenia: Ein Dorf bei Murang’a, Kibes Zuhause 4. Februar 2030, 6:45 Uhr Kibe frühstückt mit seiner Mutter und macht sich auf die Reise nach Berlin

Wach auf, Kibe. Ni tha cia gukira. Es ist Zeit, aufzustehen“, hörte Kibe die Stimme seiner Mutter und spürte ihre warme Hand sanft auf seiner Schulter. „Ich fange jetzt an, unser Frühstück zu kochen“, sagte sie und ging.

Kibe setzte sich auf und blickte benommen um sich. Eben war er noch im Traum mit schweren Beinen über den Berliner Campus gerannt, er wusste, dass er für seine Präsentation zu spät kam, aber immer, wenn er sich der Tür zum Workshopraum näherte, verwandelte das 3D-Morphing sie in etwas Seltsames und alles drehte sich. Jetzt tastete er nach Halt und spürte die Bastmatte unter seinen Füßen. Seine Orientierung kehrte zurück, er war im Zimmer seiner Kindheit. Die Morgensonne schien durch die Ritzen der Holzläden herein und an der Wand gegenüber sah er das vertraute Poster seines Lieblingsfilms Black Panther. Ja, das war sein Zuhause. Aber der Besuch bei seiner Mutter war nur kurz, denn heute reiste er nach Berlin, um sein Stipendium an der renommierten Ada Lovelace Universität anzutreten. Zwei Jahre würde er fort sein. Beim Gedanken daran, dass er diese ferne Stadt, die er bisher nur als virtuelles Abbild kannte, morgen in Echt erkunden würde, kribbelte es in seinem Magen.

Kibe ging ins Badezimmer, das im Garten lag, und duschte sich kurz. Aus alter Gewohnheit passte er auf, kein Wasser zu verschwenden. Er erinnerte sich gut an die schweren Wassereimer, die er als Kind jeden Tag vom Dorfbrunnen nach Hause getragen hatte. Was für ein Luxus, dass das frische Wasser nun aus der Leitung floss und von der Instant Shower sogar erwärmt wurde!

Als Kibe in die kleine Küche kam, stand sein Frühstück bereits auf dem Tisch. Er ließ sich den schwarzen Tee und sein Lieblingsgericht Githeri aus gekochtem Mais mit Bohnen, Kartoffeln und Grünkohl schmecken. Seine Mutter Mukami betrachtete ihn, wie er mit seinen breiten Schultern an dem kleinen Küchentisch saß. Er hatte die starken Hände eines Arbeiters, aber in seinem Kopf drehten sich feine Rädchen und bewegten große Träume von fernen Dingen, die Mukami nicht kannte.

Für die Reise packe ich dir Ugali mit Sukuma ein. Hoffentlich verträgst du das Essen in Deutschland“, sagte Mukami.

„Mach dir keine Sorgen, Mama, ich bin 26 Jahre alt und werde gut auf mich aufpassen“, sagte Kibe. „Ich bin gespannt auf all die neuen Sachen.“

Als du mit Vierzehn auf die gute High School in Nairobi gegangen bist, hast du wenigstens bei deinem großen Bruder gewohnt.“

In Berlin warten auch nette Menschen auf mich“, beruhigte Kibe sie.

Diese Leute kennst du doch nur aus SimCampus, wer weiß, wie die in Wirklichkeit sind!“

Kibe hatte seiner Mutter gestern die virtuelle Campuswelt, an der er seit zwei Semestern ein Fernstudium machte, auf seinem Notebook gezeigt. In dieser fotorealistischen 3D-Umgebung fühlte er sich mittlerweile heimisch, spazierte am Campus umher und besuchte die Projektseminare in den virtuellen Education Labs. Seine Mutter war allerdings erschrocken, als sie den täuschend ähnlichen Avatar ihres Sohnes sah. Auch die Avatare der anderen fand sie unheimlich in dieser Mischung aus lebensechtem Aussehen und Künstlichkeit.

Pass auf, dass die anderen dort keinen Voodoo Zauber mit dir machen!“, warnte sie ihren Sohn.

Ach was, Mama, egal, was mit meinem Avatar passiert, meinem echten Körper und Geist kann das nichts anhaben… und ich kann jederzeit raus aus der Simulation. Außerdem passt meine Mentorin Fiona auf mich auf“, sagte Kibe und schmunzelte.

Dieses junge Mädchen?“, wandte seine Mutter sein. „Sie kann höchstens was von dir lernen! Kann sie etwa einen Soft Robot bauen? Oder die Bewässerungsanlage auf unserem Maisfeld neu programmieren?“ Der Fundi, den sie zur Reparatur bestellt hatte, war daran verzweifelt.

Zum Abschied umarmte seine Mutter ihn fest und legte ihre Hand auf seinen Kopf. Dann machte sie mit ihrem Smartphone ein Selfie von beiden.

Vergiss nicht, mich hin und wieder auf SkypeMAX anzurufen. Ich bin so stolz auf dich! Wenn du in zwei Jahren wiederkommst, wirst du sicherlich schon Professor sein!“

Kibe verkniff sich eine Richtigstellung. Es würde schwer genug werden, den Masterabschluss zu erringen – an dieser internationalen Universität musste er sich mit den Besten messen.

Draußen empfing Kibe die kühle Morgenluft. Die Sonnenstrahlen tanzten bereits auf den Solarkollektoren der Dächer, ein warmer Sommertag kündigte sich an. Wie fühlte es sich wohl im winterlichen Berlin an?

Er ging mit federnden Schritten zur Bushaltestelle am Dorfplatz. Seit seinen Kindertagen standen der Brunnen und der Solarkiosk Seite an Seite, beide waren die Lebensader des Dorfes. Er grüßte die Alte Wangari, die gerade gekühlten Mangosaft an Kamau ausschenkte und mit ihm plauderte, während er den Akku seiner Flugdrohne am Solarstrom auflud. Mit der Drohne wachte er über seine Grünkohlfelder. Auf der Bank neben dem Solarkiosk saß seine Nachbarin und nutzte den guten WLAN-Empfang zum Skypen, während sie am Brunnen ihre Wasserkanister volllaufen ließ.

Kibe wechselte ein paar Worte mit den Kindern in ihren grünen Schuluniformen, die auf den Bus zur Grundschule in Murang’a warteten. Alle Kinder aus den Dörfern im Umkreis von 30 Kilometern gingen auf die Schule in dieser Kleinstadt. Wie oft hatte Kibe in seiner Kindheit vergeblich auf den alten Bus gewartet, besonders, wenn der Bus in der Regenzeit in der Sandpiste stecken geblieben war. An solchen Tagen war Kibe schon um 5 Uhr früh aufgestanden und die 6 Kilometer querfeldein zu Fuß gegangen. Jeden Tag erkundete er einen anderen Pfad, jeden Tag wollte er ein Entdecker sein! Früher konnten sich viele Eltern das Schulgeld für einen Internatsplatz nicht leisten. „Wie gut, dass die öffentlichen Internate jetzt kostenlos sind“, dachte Kibe.

Gemächlich näherte sich der Bus über die frisch asphaltierte Straße. Heute war er pünktlich.

Jambo“, grüßte der Busfahrer. Um den Fahrpreis zu zahlen, öffnete Kibe die M-Pesa App auf seinem Smartphone und tätigte die Transaktion. Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten sie Murang’a, von dort aus ging es 90 Kilometer auf der gut ausgebauten Thika-Murang’s Road nach Nairobi. Ein letztes Mal schaute Kibe auf die majestätische Silhouette des schneebedeckten Batian. Er war noch nie dort oben gewesen, die Besteigung des Fünftausenders war ein Luxus, von dem er nur träumen konnte.

Aber jetzt bezwinge ich einen anderen Gipfel: Berlin!“, dachte Kibe und lächelte.

Fotos frei nach Creative Commons, Quelle: https://pixabay.com/de/ Titelbild von Jürgen Böhm

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Interview: Die Kenianerin Kate Ouma erzählt von ihrem Heimatland

Die Autorinnen stellen sich vor

Grünraums Blogadventkalender 2019 – Türchen 17

Schön, dass ihr auch heute wieder das Türchen vom Grünraums Blogadventkalender 2019  öffnet, um die Fortsetzung unserer Gemeinschaftsgeschichte zu entdecken.  Was gestern geschah (in kursiv):

Türchen 16: 

Sie blickte mutig nach vorn, als von oben der warme Klang einer Männerstimme zu hören war. Das hatte sie völlig vergessen! Irgendwer hatte ihr doch vorhin die Hand gereicht, als sie auf der letzten Stufe stand. Sie war gar nicht allein.

„Es ist nicht mehr weit.“

War das nicht die gleiche Stimme wie vorhin, einige Stufen unter ihr? Aber das war doch unmöglich. Sie hörte sich auch anders an, deutlich freundlicher. Weder soeben noch jetzt sah sie jemanden, aber ihre Intuition sagte ihr, dass sie richtig lag. „Sie sind das wirklich! Aber warum sind Sie plötzlich weiter als ich?“

„Es gibt Dinge, die verstehen weder Sie noch ich. Vertrauen Sie sich einfach. … übrigens wartet hier ein kleines Mädchen.“

Weihnachten, Dekoration, Urlaub, Feier

Türchen 17:

Henni horchte auf die seltsam vertraute Stimme und kramte in ihrem Kopf nach der Erinnerung an das Gesicht, das zu dieser Stimme gehörte. Aber es war ihr, als ob ihr Geist von Zuckerwatte eingehüllt war und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie blinzelte, aber ihre Tränen und das Strahlen der Sterne ließen ihre Umgebung zu einem Nebel aus Helligkeit verschwimmen. Für einen Moment überkam sie ein Gefühl völliger Orientierungslosigkeit, sie hatte jeden Halt verloren und schwebte im Nichts – wo war die Hand, die sie gehalten hatte, wo die Stimme, die sie geleitet hatte?

Da umschmeichelte ein wunderbarer Duft ihre Nase – es duftete nach Vanille, Zimt und Orangen – ein Kinderlachen gluckste ihre Kehle hinauf und Henni öffnete wieder ihre Augen und nun sah sie alles klar vor sich: Sie war in der Küche ihrer Oma!

Da stand Oma und summte “Alle Jahre wieder…” während sie mit einem Nudelholz einen Batzen Teig im Mehlteppich auf dem großen Holztisch ausrollte. Der Ofen brummte die Bassstimme zum Gesang von Oma und warmer Plätzchendampf legte sich auf Hennis Haut.

Aber was war das? Eine kleine Hand rollte ihr eine Orange entgegen und hinter der Tischplatte sah sie zuerst einen Scheitel, dann eine Stirn und schließlich zwei wache Äuglein und eine Stupsnase auftauchen.

“Henni, du kommst gerade richtig”, sagte das Mädchen mit Glockenstimme.

Wie es weiter geht, erfahrt ihr morgen bei Renate.

Orangen, Apfelsinen, Zitrusfrüchte, Obst

Was bisher geschah (die vollständige Geschichte):

Türchen 1-10 findet ihr hier.

Türchen 11:

Als sie die Augen wieder öffnete, wirbelten die puscheligen Schirmchen wie Schneegestöber um sie herum. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken.

Aus dem Augenwinkel sah sie etwas Braunes flink an sich vorbeihuschen. Durch die Flocken blickte sie in zwei schwarze Äuglein. Von der Sprosse über ihr schaute ein Eichhörnchen sie mit geneigtem Kopf keck an. Zwischen den Pfötchen hielt es eine Orange.

„Na, was machst du denn hier? Wusste gar nicht, dass ihr auch Orangenfresser seid.“ Henni streckte die freie Hand aus, um das Tierchen zu streicheln, wobei sie ins Wanken geriet und sich eine Sprosse tiefer wiederfand. Die Leiter schwankte.

„Huch“, ihr Herz wummerte vor Schreck. Der buschige Schwanz des Eichkätzchens verschwand im Astwerk.

Wollte das Tier mir wohl etwas sagen? Einen Wunsch, ich habe einen Wunsch frei … aus ihrem rechten Auge quetschte sich eine Träne.

„Ho, ho, hoo, was ist da oben los? Geht’s denn bald mal weiter?“, unterbrach die grollende Stimme von unten ihre Gedanken.

„Tut mir leid, ich steck‘ hier irgendwie fest.“ Hennis Hände krampften sich um die Stege der Leiter, ihr schwirrten die Sinne, woher kam diese plötzliche Rührseligkeit?

Türchen 12:

Aber ja doch, ja, es fiel ihr wieder ein. Die Rührseligkeit wird vom Weihnachtsfest verursacht. Sie kam daher, dass nicht mehr all ihre Lieben mitfeiern konnten. Sie vermisste sie so sehr, dass ihr die Tränen nun ungehemmt über das Gesicht liefen. Das Eichhörnchen war im Baum verschwunden.

Sie erinnerte sich an ihre liebe Großmutter. Was konnte sie für leckere Plätzchen backen und was konnte sie Weihnachtslieder singen! Mit einer hohen und weichen Stimme hatte sie immer dafür gesorgt, die richtige Stimmung aufkommen zu lassen, wie ein Engel. Henni erinnerte sich daran, wie sie bei ihr auf dem Schoß gesessen hatte, sich wiegen ließ und den Weihnachtsgeschichten zuhörte, die sie ihr und nur ihr allein erzählte, während ihre großen Brüder durch das Wohnzimmer tollten.

Das wünschte sie sich sehnlichst von den Pusteblumenschirmchen. Nur noch einmal auf Omas Schoß sitzen, den Duft der Plätzchen riechen und ihre Stimme hören! Henni schaute in den wirbelnden, goldenen Strom hinein, der sie warm umstrahlte. Sie hielt sich an der Sprosse fest und schloss die Augen und genoss im leuchtenden Strom der Flocken die warmen Gefühle von Glück und Geborgenheit, vom ungetrübten Glanz ihrer Kindheit und Keksen, und sie lächelte zufrieden, als jemand an ihrem Fuß zog. Es war der Drängler von unten.

„Hey, wir wollen alle nach Hause!“, knurrte er, „Nun gehen Sie schon endlich weiter!“ Henni dachte gar nicht daran. Dann bekam sie einen ordentlichen Schreck.

Nach Hause?! Stimmt. Doch wohin führt denn nun diese Leiter?

Türchen 13

„Das werde ich wohl nur herausfinden, wenn ich ihr folge. Also, nur Mut!“, ermunterte Henni sich selbst, griff beherzt nach der nächsten Sprosse und kletterte weiter nach oben.

Mit jeder Sprosse fühlte sie sich kraftvoller, verwegener und frischer. Eine heitere Gelassenheit breitete sich in ihr aus und plötzlich hörte sie eine sonderbare, leicht dissonante, aber dennoch wunderschöne Folge von Tönen und Henni begriff, dass dies ihr eigenens Lachen war, doch auch nicht ganz. Vielmehr war es das Lachen des Kindes in ihr, das da frohlockend und wohlklingend aus ihr herausbrach. In Henni breitete sich neben einem Gefühl der Heiterkeit nun auch ein Gefühl der Rührung aus, als sie erkannte, wie sehr sie diesen Teil von sich in diesem Jahr vermisst hatte. Doch nun war er endlich wieder da und beschwingt stieg sie weiter. Sie fürchtete sich kein bisschen mehr, obwohl über ihr außer der nächsten Sprosse nichts als ein helles goldenes Licht zu sehen war.

Und dann hörte die Leiter einfach auf. Suchend sah Henni sich um. Unter ihr waren die Sterne, über ihr das Licht, sonst gab es da nichts. Nur ab und zu unter sich ein kindliches Jauchzen. Was sollte sie denn jetzt machen?

„Hey, Sie da unten!“, rief sie in Richtung des grummligen Mannes irgendwo unter sich. „Es gibt hier keine Sprossen mehr. Wissen Sie, wie’s ab hier weiter geht?“

Doch er gab keine Antwort. Hatte sie ihn am Ende doch abgehängt?

Henni sah wieder nach oben in das Licht.
Schien sich da nicht etwas zu bewegen, ganz vage nur, oder bildete sie sich das ein?

Aus einem Gefühl heraus, reckte sie eine Hand noch oben und streckte sich, soweit sie nur konnte, doch nichts geschah. Also nahm sie allen Mut zusammen und kletterte noch zwei weitere Leitersprossen nach oben, so dass ihr nur noch die oberste Sprosse an den Schienbeinen etwas Halt gab und noch einmal reckte sie ihre Hand in Richtung Licht und siehe da, ihre Hand schien in das Licht einzutauchen. Henni wurde noch mutiger und trat mit dem rechten Fuß auf die letzte Sprosse. Langsam und vorsichtig drückte sie sich nach oben und zog dann auch den linken Fuß nach. Nun balancierte sie auf der obersten Sprosse, ganz ohne Halt. Und auch ohne Netz oder doppelten Boden?

Henni zuckte mit den Schultern. „Was soll’s!“, rief sie aus einer plötzlichen Zuversicht heraus aus und sprang mit all ihrer Kraft nach oben. Es verging ein winziger Moment, in dem nichts geschah, doch er war lang genug für erste Zweifel, für einen ersten Anflug von Angst, aber dann ergriff jemand Hennis Hand und zog sie weiter hinauf.

Türchen 14

Jetzt, wo sie gehalten war, bekam Henni noch Herzrasen ob ihres Mutes, der sie so ins Leere springen hatte lassen. Sie konnte sich gar nicht erklären, woher sie den Mut genommen hatte. Sie war nie die Mutigste gewesen, war immer etwas furchtsam. Oder ging es etwa gar nicht um Mut, sondern um Vertrauen?

Das verlorene Vertrauen

Woher kam auf einmal dieses Vertrauen, an dem es ihr im Leben seit langer Zeit mangelte. Damals hatte sie ihr Vertrauen verloren und es nie mehr gefunden. Mit heute schien sich das geändert zu haben. Sie vertraute wieder in das Leben und ein Gefühl von Hoffnung machte sich in ihr breit. Sie hatte dieses schwarze, zähe Damals mit diesem wagemutigen Schritt abgestreift. Endlich! Nach all den Jahren der Traurigkeit und Mutlosigkeit. Das Damals war ihr bis heute wie Kaugummi an der Schuhsohle geklebt. Aber jetzt, jetzt hatte sie es geschafft, es loszuwerden.

Struppis Tod – das Damals

Das Damals war der Tod ihres geliebten Hundes Struppi. Sie musste zusehen, wie dieser von einem Auto überfahren wurde. Das Gartentor war offen und Struppi jagte der Nachbarkatze hinterher über die Straße. Da hatte ihn das Auto erwischt. Sie war 11 gewesen und die Erwachsenen waren nur dagestanden und hatten nichts getan. Niemand rettete Struppi oder half ihm. Niemand tröstete sie. Ein alter Mann mit Vollbart und einem dicken Bauch meinte sogar, dass es ja nur ein Hund gewesen sei. Seitdem hatte sie kein Vertrauen mehr in die Menschen gehabt. Es hatte Spuren in Hennis Seele hinterlassen. Auch nach all diesen Jahren bekam sie noch Zustände, wenn sie alte Männer mit Vollbart und dickem Bauch sah.

Aber mit diesem Sprung ins Vertrauen würde sich das nun ändern. Da war sich Henni ganz, ganz sicher.

Türchen 15

Auf einmal hatte Henni das Gefühl mit ihrem Sprung die ganze Welt verändern zu können. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber mit diesem Sprung hatte sie plötzlich ein unglaubliches Vertrauen, dass sie richtig entschieden hatte und ihr nichts passieren konnte.

Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie immer wieder vor Situationen stand in denen sie dachte, JETZT würde sich alles verändern, JETZT hatte sie endgültig die Person gefunden der sie doch vertrauen konnte. Irgendwann stellte sich dann heraus, dass sie der Person doch nicht trauen konnte, oder sie stellte fest, dass sie doch wieder in alte Muster gefallen war. Ohne es zu merken und eigentlich auch ohne das sie es wollte. Es war einfach wieder passiert.

Sie hatte das Gefühl, dieser Flug endete nie. Das Gefühl der inneren Stärke, die plötzlich ihr inneres verletztes Kind an die Hand nahm wurde immer stärker. Sie nahm sich fest vor, dieses Gefühl für immer zu behalten…

 

Grünraums Blogadventkalender 2019 – Türchen 3

Willkommen zu Grünraums Blogadventkalender 2019. Auch in diesem Advent gibt es wieder eine spannende Gemeinschaftsgeschichte. Was bisher geschah (in kursiv):

Scheiß Verspätung immer!“, schimpfte Henni und trat von einem Bein auf das andere. Es war bereits dunkel und dazu noch typisch nasskaltes Dezemberwetter. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch keine Zigaretten mehr. Ihre ehemals wasserfeste Winterjacke, ein Geschenk von Uwe, dem alten Haudegen, hatte ihre besten Jahre auch hinter sich.
„Ach Henni!“, seufzte sie. Nur ihre Mutter rief sie mit ihrem vollem Namen Henriette. „Wir sind schon ganz schön alt geworden, wir beide.“ Sie merkte gar nicht mehr, dass sie mit sich selbst sprach.
Der Junge, der neben ihr im Buswartehäuschen stand, schaute sie irritiert an. Sie zuckte mit den Schultern und entdeckte in dem Moment auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine beleuchtete Leiter, die an einen Baum gelehnt war.

„Junge, sieht du das auch?“, fragte sie. Er drehte demonstrativ seinen Kopf zur Seite. Henni seufzte erneut. Wo war sie nur hingegangen, die Phantasie der Menschheit, ihre Traumbereitschaft, ihr Wunsch, leuchtenden Leitern in den Himmeln zu folgen und dort wem auch immer zu begegnen. Sollte sie vielleicht noch einen Vorstoß wagen?

„Hast du mal eine Zigarette für mich?“ fragte sie vorsichtig den von ihr abgekehrten schmalen Rücken in seiner viel zu großen Felljacke. Ob er wohl glaubte, dass er eines Tages in diese Jacke hineinwüchse? Vielleicht führte die Leuchtleiter direkt zu seinem Ziel, dabei fiel Henni das Monopoly Spiel ein und den Spruch, den sie tausendmal zu Hause gesagt hat: „Gehen Sie direkt ins Gefängnis, gehen Sie nicht über Los!“

Der junge Mann drehte sich verwundert um…

Türchen 3:

Er zog den Stöpsel des In-ear-wireless-Kopfhörers aus seinem linken Ohr – Henni sah, dass seine Ohrmuschel sehr groß und an den Rändern ganz rot vor Kälte war.

“Wie bitte?”, fragte der Junge mit den großen Ohren. Henni führte ihre zwei zigarettenlosen Finger in einer Rauchergeste zum Mund. Der Junge verstand und schüttelte bedauernd den Kopf. In diesem Moment kam der verspätete Bus um die Ecke und rollte in gemächlichem Tempo auf die Haltestelle mit den zwei Wartenden zu. Der Junge kramte in den tiefen Taschen seiner Felljacke nach dem Fahrschein.

“Jetzt bist du gleich im Warmen, Henni”, murmelte Henni. Sie hatte keine Zeit sich zu wundern, warum der Bus an diesem geschäftigen Adventsabend im Innern dunkel war und ohne Passagiere zu fahren schien – und was hatten die gelb leuchtenden Buchstaben “L-E-V” in der Zielanzeige über der Windschutzscheibe zu bedeuten? Der Bus kam direkt vor ihrer Nase zu einem Halt und die Türen öffneten sich  mit einem hydraulischen Seufzen. Eine Frau in einer gelben Weste mit Reflexionsstreifen stieg aus und verstellte ihr den Weg zum Einsteigen. Die Türen des Busses schlossen sich zischend und das Gefährt verschwand in der regennassen Nacht.

“Was soll das?”, wollte der Junge wissen und stapfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

“Heute haben wir Leiter-Ersatz-Verkehr”, verkündete die Frau und deutete auf den Baum, an dem die leuchtende Leiter lehnte.

Bus, Bushaltestelle, Straße, Anschlag

Morgen öffnet sich Törchen 4 bei  Michaela und dort geht die Geschichte weiter.

(Das Titelfoto stammt von Anne Winckler)

Mit einer Hochzeit über die Ziellinie im NaNoWriMo

Es ist vollbracht – ich habe mich 30 Tage lang der Schreib-Challenge des NaNoWriMo unterworfen und dies ist meine Bilanz (Stand 30.11.2019, 22:30 Uhr – die Zeit bis Mitternacht habe ich mit einer Ehrenrunde um den Häuserblock verbracht):

42.242 Wordcount total

2053 mein höchster Wordcount an einem Tag

1408 mein durchschnittlicher Tages-Wordcount (für die 50k hätte ich 1667 schaffen müssen)

1001 x gedacht: „In einer halben Stunde fange ich wirklich an!“

252 mein niedrigster Wordcount an einem Tag

179 Normseiten mit Carolines Briefen gefüllt

91 Schokoladenstücke (mit 70 % Kakaoanteil) beim Schreiben genascht

59 Spaziergänge (27 davon nach Mitternacht)

51 x mich beim Namen „Klarius“ vertippt: Klarisu

32 x Lebensmittel und Leckereien eingebaut (inkl. Recherche norwegischer Rezepte)

27 Tage, an denen ich mindestens ein Wort für meinen Roman geschrieben habe

23,58 die Uhrzeit, an der ich meinen Tages-Wordcount in die NaNoWriMo-online Statistik eingetragen habe (da kein Rückdatieren möglich)

21 x das Wort „Kuss“ verwendet

11 Namen für die Geschwister von Caroline ausgesucht: Elin, Liv, Hanne, Smilla, Gunda, Femke, Jaspar, Tjark, Finn, Mads und Jan (4 fehlen mir noch)

3 Tage, an denen ich genullt habe (d.h. kein einziges Wort zustande gebracht)

0 x die NaNoWriMo-Challenge verflucht

Nachtrag 1

1 x fälschlicherweise behauptet, ich hätte niemals die NaNoWriMo-Challenge verflucht

Nachtrag 2

Nicht quantifizierbar:

x Freude über die Geschichte, die entstanden ist

x ermutigendes und belohnendes Feedback aus meinem Familienkreis und von meinen treuen Blogleserinnen (DANKE an euch alle!)

Luftballons, Feier, Farben, Gummi

Verlobung auf dänisch-norwegisch (NaNoWriMo)

In der dritten Woche  bin ich in einen guten Schreibschwung gekommen. Ich schaffe an den meisten Tagen zwischen 1.700 und 1.900 Wörtern – liege damit über dem Tagespensum von 1.667 Wörter – aber um meinen  schwachen Start  der ersten zwei Wochen aufzuholen, reicht es nicht aus – aber mein neues Ziel lautet ja sowieso 40.000. Zurzeit liege ich bei 33.000 Wörtern (144 Normseiten) – ich kann das also in den nächsten 6 Tagen gut schaffen.

Inhaltlich bin ich immer noch bei Caroline im Winter 1933 bis Frühling 1934 und ihrem Kennenlernen mit dem Kapitän. Am Freitag hatte ich einen echt guten Lauf mit dem Erzählen ihres Verlöbnisses.

Als nächstes steht natürlich die  Hochzeitsfeier an (dazu habe ich dänische Hochzeitsbräuche recherchiert – wirklich witzig, was es da alles gibt – zum Beispiel schneidet die Braut ihrem Bräutigam die Zehenspitze der Socken ab – früher musste sie diese dann wieder annähen und den Hochzeitsgästen damit ihre hausfraulichen Fähigkeiten  beweisen). Aber am Samstag war ich dann so blockiert vor der Aufgaben, die Hochzeit nun als kleinen dramaturgischen Höhepunkt besonders toll zu beschreiben, dass ich an diesem Tag kein einziges Wort zu Papier gebracht habe (was meiner Wörter-Statistik einen weiteren Tiefpunkt verschafft hat).

Am Sonntag ging es dann wieder (habe mich schreibend in Hochzeitskleid-Diät und andere Vorbereitungen gestürzt)  heute ist der Polterabend dran – ich zögere das große Ereignis ein bisschen heraus…

Seil, Knoten, Gebunden, Verdreht, Boot, Nautik, Meer

Halbzeit im NaNoWriMo – Eiszeit für Wörter – 40 ist die neue 50

Zum dritten Mal stelle ich mich im November wieder der Herausforderung des National Novel Writing Month (NaNoWriMo) – einen Roman mit mindestens 50.000 Wörter in 30 Tagen zu schreiben – und heute ist Halbzeit (Tag 15). Meine Bilanz: Ich trage hechelnd die rote Laterne und habe den Anschluss ans Feld verloren. Mein täglicher Wordcount kommt an vielen Tagen kaum über 500 Wörter hinaus, an zwei Tagen habe ich genullt. Manchmal schaffe ich die 1.667 Wörter des Tagespensums – lege mich zufrieden ins Bett (nach Mitternacht – denn ich schaffe den Kraftakt des Schreibens meistens erst nach 20 Uhr) – nur damit der Wörterkampf am nächsten Morgen wieder von vorne anfängt. Hinzu kommt, dass ich ständig mit meinen körperlichen Beschwerden (starke Kopfschmerzen) zu kämpfen habe, was die Schreiblust nicht gerade erhöht.

Für das Soll-Pensum brauche ich 2 ½ bis 3 Stunden reines Schreiben. Meistens versuche ich, vor dem Mitagessen eine 45 Minuten-Session zu machen – wenigsten 600-800 Wörter, damit ich am Abend innerhalb von 2 Stunden die fehlenden 1000 Wörter hinbekomme. In der Zwischenzeit gehe ich viel spazieren und denke ein bisschen über meine Geschichte nach (aber meistens entwickelt sich die Handlung beim Schreiben selbst).

Und worüber schreibe ich: Meinen Antarktis-Frauenroman habe ich schon im Mai diesen Jahres entworfen und eine Exposé plus 20 Romanseiten für das Berliner Autorenarbeitsstipendum eingereicht (bisher noch nichts gehört, ich rechne mit einer Absage). Vielleicht ist es ja dieser Umstand, dass ich das Konzept schon recht gut ausgearbeitet habe, was mich jetzt so hemmt – ich habe jedenfalls keine Lust, meinen „Fahrplan“ abzuarbeiten.

Also habe ich am ersten Tag einfach mit einem Brief der jungen Caroline Mikkelsen an ihre Lieblingsschwester begonnen (diese habe ich Elin genannt – übrigens ist die Webseite für dänische Vornamen die am häufigsten von mir aufgerufene – ich brauche ständig neue Namen – am zweit häufigsten suche ich nach Rezepten, denn meine Heldin nascht gerne süße Sachen und muss auch für ihre Schwiegermutter ein nordisches Fischgericht zubereiten). So beginnt der Brief: Sandefjord (Norwegen) im Sommer 1934, die 27-jährige Dänin Caroline ist frisch mit Kapitän Mikkelsen verheiratet (den sie kaum kennt und der 19 Jahre älter ist als sie) und muss sich in ihrer neuen Heimat zurecht finden.

In der Briefform ist es mir recht leicht gefallen, die Stimme dieser jungen Frau zu finden, die vertrauensvoll ihrer Schwester von ihren Gefühlen und Eindrücken erzählt (ich habe mich im Briefschreiben auch davon befreit gefühlt, „literarisch“ zu schreiben, Caroline schreibt von der Seele weg, sprunghaft, mit Zwischeneinschüben in Klammern und vielen Gedankenstrichen).

Dieses Konzept habe ich beibehalten und ich bin immer noch briefeschreibend bei Caroline, auch wenn ich mich immer wieder ermahnen muss, nicht von meinem Stil der ersten Tage abzuweichen (je länger ich schreibe, umso reflektierter drückt sich Caroline aus, ich streiche zwischendurch immer wieder zu „gehobene“ Vokabeln und Formulierungen).

In den ersten drei Tagen habe ich die Begegnung von Caroline mit der Familie Christensen beschrieben, die ihre Antarktisexpediton von 1935 beauftragen. In dieser Brieferzählung kam der Kapitän nur am Rande vor und obwohl ich Caroline mit (naiver) Bewunderung über ihn schreiben lasse, klingt doch sein herrisches Temperament durch und ich habe einen Geizkragen aus ihm gemacht (so kontrolliert er zum Beispiel Carolines Haushaltskasse).

Am Tag 4 habe ich mir überlegt, dass man so nicht nachvollziehen kann, warum Caroline diesen Mann geheiratet hat. Also bin ich zeitlich in das Jahr 1933 zurück gesprungen, nach Frederikshavn (Dänemark) und habe mich ausführlich in die Begegnung des Paares vertieft: Sie arbeitet im Büro ihres Onkels, der einen Fischgroßhandel betreibt, der Kapitän ist Zulieferer und kommt als Geschäftsparter ins Büro und so kreuzen sich ihre Wege. Dann gibt es ein erstes „Date“, außerdem taucht eine Konkurrentin in Person der Bürovorsteherin Fräulein Olsen auf.

In den letzten Tagen habe ich beschrieben, wie Caroline (mit zwiespältigen Gefühlen) die Einladung des Kapitäns auf einen Besuch in seine Heimatstadt annimmt (der seine Heiratspläne klar zu verstehen gibt, die Mutter von Caroline drängt ihre Tochter, auf das Werben des Norwegers einzugehen). Heute habe ich eine Szene begonnen, in der Caroline ihrer skeptischen Schwiegermutter in spe etwas vorkochen soll (was gründlich schief geht).

Bei alledem habe ich mich alleine von meiner Fantasie leiten lassen – die biografischen Informationen über Caroline Mikkelsen (später Mandel), die ich von ihrem Sohn und aus diversen Zeitungsartikeln gewonnen habe, sparen diese frühe Phase ihres Lebens aus.

In vielen Details fehlt es mir an historischem Wissen (z.B. wie waren die Häuser in Norwegen in den 1930er ausgestattet, wie war die Infrastruktur von Sandefjord, wie fuhren die Autos, welche Musik wurde gehört, welche kitschigen Frauenbücher wurden gelesen – meine Suche hierzu bei Google hat keine Treffer ergeben) und von der Ausstattung eines Walfängers ganz zu schweigen. Aber im Moment will ich mich davon nicht aufhalten lassen (ich schreibe einfach auf Geratewohl), die historisch korrekten Details muss ich dann in der Überarbeitungsphase einfügen bzw. berichtigen.

Ich werde nun erstmal so weiter machen und nicht versuchen, meinen Plot-Plan abzuarbeiten. Im Moment habe ich keine Lust (und keine Inspiration), zu meiner zweiten Protagonistin Jesse zu wechseln, der Journalistin in Australien, die sich im Jahr 1995 auf die Suche nach der ersten Antarktis-Betreterin macht.

Völlig klar ist, dass ich bis Ende November die Romanhandlung nicht (annähernd) zuende schreiben kann. Und den 50.000 Wörtern will ich auch nicht mehr hinterher hecheln (ich könnte es bei einem Tagespensum von ca. 2.100 Wörtern noch schaffen). Ich sage mir: 40 ist die neue 50.

Mein neues Ziel sind 40.000 Wörter (das kann ich mit dem regulären Tagespensum von 1.667 Wörtern schaffen – das ist schwer genug).

Meine ernüchternde Statistik

PS: Die 925 Wörter dieses Blog-Artikels füge ich als Autorinnenreflexion in mein Romandokument ein – diese werden gnädig für heute mitgezählt.

Lyriklaune

Was haben die Apothekenzeitschrift und das Lindt-Weihnachtsmagazin gemeinsam? Es lassen sich so wunderbar seltsame Wörter darinnen finden.

Am Sonntag habe ich aus diesem bunten Wörterfundus Gedicht-Collagen zusammen gefügt. Bin immer wieder erstaunt, welche überraschenden Wortzusammenstellungen hierbei entstehen.

Vielen Dank an Urs (schreiben.rocks) für den guten Impuls.

Lyrische Collage 1:

Lyrische Collage 2:

Making of:

Für meine Wörtersuche habe ich mir die kostenlose Zeitschrift aus der Apotheke geholt – hiermit habe ich zuvor schon gute Erfahrungen gemacht – die Wörter dort sind erstaunlich vielseitig und ergibig (okay, “Reizdarm” und “Rheuma” muss ich ja nicht ausschneiden). Dann hat mich noch im Supermarkt auf meinem Pilgerweg zu den Weihnachtsleckereien das Werbemagazin von Lindt angelacht. Da versteckt sich ein Schatz sinnlicher und genussvoller Wörter drinnen.

Dann ging es ans freudige Durchblättern und Wörter Ausschneiden, die mich angesprochen haben.

Als nächstes habe ich die Wörter sortiert (nach Substantiven, Verben, Adjektiven, Bindewörtern und Satzanfängen) vor mir ausgebreitet und mich schließlich ans spontane Zusammenfügen gemacht, wobei ich gegen Ende doch ziemlich getüftelt habe, um an einigen Stellen das ideale unperfekte Wort zu finden.

Probiert es doch auch mal aus! Es macht wirklich Spaß.

Wer noch andere inspirierende Wörter-Collagen entdecken möchte, dem empfehle ich die kunstvollen Kreationen von Mo, einer Absolventin meines Jahrgangs im Masterstudiengang “Biografisches und Kreatives Schreiben” an der ASH Berlin.

Mondschein-Serenade

Mondschein-Serenade

Wenn die sinkende Sonne

die Hoffnung mit sich in die Tiefe zieht

steigt der Mond und eröffnet unverhofft

einen Blick in deine Augen die

den Himmel klein erscheinen lassen

wir sprechen und schauen

„Wie heißt du?“ möchtest du wissen

 

Unsere Hände finden zueinander

in einer Choreografie der Wohlerzogenheit

keine Zeit für Zärtlichkeit

ein kurzes Umschließen und

eine Bewegung auf und ab

dann lassen wir beide los

keine Sekunde später als höflich

 

Wir wenden uns voneinander ab

du bleibst und ich gehe hinaus

in die Nachtluft die mich umfängt

in ihrem Mantel aus Dunst

im U-Bahntunnel trifft grelles Licht

auf meine Pupillen die noch geweitet sind

von der Helligkeit deines Lächelns

 

Meine Schritte folgen dem Pulsschlag

der mein Blut in heißen Bahnen kreisen lässt

jetzt nicht stehenbleiben

will traumwandeln auf vertrauten Pfaden

breitgetreten von der Phantasie

unberührt vom Fußabdruck der Wirklichkeit

der Traum trägt viel auf seinen Schultern

 

Schwer wiegen die Erwartungen an dieses „wir“

was es vielleicht geben könnte

ausgepolstert mit Vertrauen und Verlangen

umspannt vom Netz verknüpfter Ideale

angepasster Gewohnheiten und geteilter Gedanken

und dem Gefühl endlich angekommen

zu sein im Mittelpunkt des Seins

 

Ich will noch eine Weile träumen

von der Möglichkeit und deinen Augen

will vergessen dass meine Traumbilder

längst als Illusionen in den

Ecken meines Lebens hängen

und der feine Staub sie sichtbar

macht im milden Mondenschein

Nach den vielen Prosa-Texten der letzten Zeit habe ich mich in diesen Tagen mal wieder zu einem Gedicht inspiriert gefühlt. Ich hoffe, es gefällt euch.