Menschenbetrachtungen – Schwäbischer Kunstsommer (Teil 2)

Nachdem wir uns in der Prosa-Meisterklasse zuerst den Tieren und Pflanzen zugewendet haben, stehen in der zweiten Schreibaufgabe von Katja Lange-Müller die Menschen im Fokus unserer Betrachtungen. Es gilt, einen hässlichen (abstoßenden) Menschen mit Empathie zu beschreiben oder alternativ einen unsympathischen Menschen mit Spott, Hohn oder Zorn zu portraitieren. Das Portrait soll in wenigen Sätzen gezeichnet werden (nicht länger als eine halbe Seite). Da ich mich zwischen den Möglichkeiten nicht entscheiden konnte, habe ich beide umgesetzt.

Hier nun meine Texte. Ihr dürft gerne raten, welche Figur aus welcher Aufgabe hervorgegangen ist.

Text 1:

Alexanders großartiger Sieg

Alexander saß auf dem dritten Sessel linker Hand des Abteilungsleiters am Konferenztisch und lauerte hinter gesenkten Lidern auf den richtigen Moment, um seinen präzisen und eleganten Todesstoß zu vollführen. Ein aberratio ictus war ihm noch nie unterlaufen – seine Geschosse trafen zuverlässig das richtige Ziel. Heute hieß das Ziel Peter der Große – diesen Beinamen verdankte er solum seiner Körpergröße von 1,92 Metern und war mitnichten auf Intelligenz oder strategisches Geschick zurückzuführen. Peter ergoss sich in einem unendlichen Redeschwall von Trivialitäten und täuschte Kompetenz vor. Alexander frohlockte innerlich, wie Peter seine rechtlichen Ausführungen als “de lege artis” bezeichnete, wo jener de facto mit seinem Vortrag bewies, dass er keinesfalls die Regeln der Kunst beherrschte. De facto verstrickte der tölpelhafte Schwätzer sich in Widersprüche und tappte in jede Falle, die Alexander ihm voller Raffinesse gestellt hatte.

“Attacke”, sagte der General in seinem Kopf und Alexander erhob sich zu seiner vollen Größe von 1,61 Metern.

“Mein geschätzter Kollege scheint übersehen zu haben, dass im vorliegenden Fall ein Empfangsbekenntnis der Partei vorliegt, Blatt 8 der Akte. Somit dürfte ihm ein saltus in demonstrando unterlaufen sein.”

Der Abteilungsleiter warf einen verächtlichen Blick auf Peter. Alexander – der wahrlich Große – spürte den Triumph warm durch seine Brust rauschen.

Text 2:

Schönheit und Sorgen am Morgen

Alba richtete sich ächzend auf und tastete mit ihren krummen Zehen auf dem Teppichboden nach Halt. Unter ihren Fußsohlen spürte sie das harte Granulat vom Hamsterfutter – vielleicht waren auch ein paar Köttel ihrer Lieblinge mit dabei. Die Hamster Max und Moritz hockten auf dem zerrupften Polster vom Lehnsessel beim Fenster und schliefen. Draußen war es noch dunkel, aber Alba konnte nicht mehr schlafen. Ihr Rücken schmerzte und ihre Gelenke auch. Ihre schmale Hand mit den dicken Venen tastete nach dem Off-Knopf der Fernbedienung und das körnige Bild im Flimmerkasten erlosch. Sie griff nach ihrem Holzstock und rappelte sich hoch, schlurfte langsam in die Küche und zur Kaffeemaschine. Sie presste den spitzen, brüchigen Nagel ihres Zeigefingers in eine Öffnung im Plastikgehäuse, wo einst die Einschalttaste saß. Die Maschine erwachte gurgelnd zum Leben und heiße Tropfen fielen in großen Abständen in den Filter mit dem Kaffeepulver von Gestern. Alba nickte zufrieden und drehte das Radio auf.

“Juuu ahhhr soooo bjutifuul tu miiii”, stimmte sie zahnlos und heiser in den Gesang der Frau aus dem Radio ein. Sie öffnete das Fensterglas im knirschenden Holzrahmen und streute Sonnenblumenkerne für die Spatzen auf den Fenstersims; dabei musste sie sich mühevoll hochrecken, ihr buckliger Rücken sträubte sich. Sofort kam die fette Taube mit dem Klumpfuß aus dem Kirschbaum der Liebermanns angeflogen und wollte die Körner picken.

“Der Winter bringt Hunger und Sorgen”, schmatzte Alba und ließ die Taube gewähren.

Von Menschen und Kühen – Schwäbischer Kunstsommer 2019

Ein zweites Mal lasse ich mich im Schwäbischen Kunstsommer im Kloster Irsee von den Musen umgarnen. Dieses mal bin ich in der Meisterklasse Prosa bei Katja Lange-Müller. Schon beim Abendessen am Samstag sehe ich einige bekannte Gesichter aus dem letzten Jahr – zwei Dichterinnen sind wieder in der Lyrik-Klasse und wir frischen alte Erinnerungen auf.

Klosterpark

Am Sonntagmorgen um neun Uhr sitze ich im Kapitelsaal unter Stuck und Freskomalerei – es ist derselbe Raum, wie letztes Jahr in der Lyrik, aber ein Déja-vu erlebe ich nicht.

Die Meisterin Katja Lange-Müller setzt sich nicht an das Kopfende des Tischs, aber das Zepter hält sie trotzdem in der Hand. In der Vorstellungsrunde beäuge ich meine Prosa-Gefährt*innen für die nächsten sieben Tage. Neun Frauen (eine davon aus Österreich) und ein Mann (aus der Schweiz), alle zwischen 60 und 75 Jahre alt bis auf ein junges Mädel (22), die einen Schwäbischen Nachwuchsliteraturpreis gewonnen hat (in Form eines Stipendiums für den Kunstsommer). Alle verbindet die Leidenschaft für das Schreiben und das Lesen („Im Schreiben wirken Lebenserfahrung und Leseerfahrung zusammen – wobei auch Leseerfahrung Lebenserfahrung sein kann“ – so die Meisterin). Einige haben einen Hintergrund als Lehrerin, sind nun im Ruhestand, bei allen ist das Interesse an Bildung und Kultur groß. Eine hat früher schon ein Kinderbuch veröffentlicht, alle anderen bewegen sich noch in den Sphären von Schriftstellerei ohne Veröffentlichungen mit vielen Texten in der Schublade („Ein Text ist erst fertig, wenn es zwischen zwei Buchdeckeln steckt.“).

Katja Lange-Müller (Jahrgang 1951) nimmt das Leben in vollen Zügen (nicht nur beim Rauchen) in sich auf, ist eine echte Berlinerin (erst im Osten, dann im Westen – aber auch sonst viel in der Welt herumgekommen) und als Linkshänderin mit Rechtsschreibeverbot hat sie sich dem Schreiben schon aus purer Rebellion zugewandt, sie schreibt immer gegen Widerstände und mit viel Empathie für die unterdrückten Menschen (sie hat z.B. viele Jahre als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet) und die missverstandenen Tiere, dabei mit viel skurrilem Humor. Von ihrem unvergleichlichen Witz bekommen wir in der Klasse viel ab, sie haut Sätze raus, die uns zum Lachen bringen (und die wir bald schon eifrig als Zitate für die Ewigkeit notierten).

Zeichnung und Schrift stammen von Gabriele Vogt

Das Thema der Meisterklasse ist die schreibende Beobachtung von etwas Lebendem (Pflanze, Tier, Mensch). Zum Einstieg liest Katja uns Auszüge aus „Bummel durch Europa“ von Mark Twain vor, wo er urkomisch und ironisch zwei Ameisen bei ihrer sinnlosen Aktivität beschreibt. „Das Fliegenpapier“ von Robert Musil erschüttert mit seiner detaillierten Annäherung an den Todeskampf. Zur Vorbereitung auf die Klasse habe ich (auf Empfehlung der Meisterin) die Grauen erweckenden Erzählungen von Patricia Highsmith und die von Katja selbst („Die Enten, die Frauen und die Wahrheit“) gelesen, um mich auf das Genre der Erzählung einzustimmen. Wir kommen auf Kafkas „Verwandlung“ zu sprechen und auf seine genaue Beschreibung des Käfers, der sich für den informierten Biologen als Kakerlake entpuppt. Im Stundentakt machen wir Pause, weil Katja rauchen gehen muss (50 pro Tag) – von diesem Laster will/kann sie sich trotz Dauerhusten nicht lösen.

Für den Nachmittag bekommen wir die Aufgabe, einen Spaziergang in die Natur zu unternehmen und etwas Lebendiges (es darf auch ein phantastisches Wesen sein) zu beobachten und zu beschreiben – aber nicht (nur) äußerlich, sondern wir sollen das Wesen erfassen. Am Montagvormittag wollen wir uns wieder treffen und kurz berichten, ob jede etwas gefunden hat, ab 16 Uhr soll Vorleserunde sein.

Damit starten die ersten zwei Tage schreiberisch eher geruhsam. Ich mache einen langen Spaziergang durch den Klostergarten und in die Felder (die mir aus dem letzten Sommer noch angenehm vertraut sind), hocke mich an einen Teich und beobachte Fliegen, die auf dem Wasser schweben (nein, es sind Wasserläufer, wie ich später in der Klasse aufgeklärt werde – leider bin ich ein ziemlicher Biologie-Depp und weiß fast nie, wie die Pflanzen und Tiere heißen) und Frösche, die wie tot im Wasser tümpeln.

Zum Glück treffe ich noch auf sechs Jungkühe (seit meiner Kindheit meine Lieblingstiere), die am Zaun Futter suchen und die ich eine Viertelstunde lang Aug in Aug beobachte (inklusive Fliegengeschwirre und ein paar Mückenstichen).

Stürmische Begrüßung

Meinen Kuh-Text schreiben ich dann vor dem Abendessen innerhalb einer Viertelstunde per Hand (am nächsten Morgen tippe ich es auf dem PC ab und mache ein paar Änderungen). Zu den Wasserläufern schreibe ich auch eine halbe Seite, aber die Tierchen sind für mich nicht so ergiebig.

Die Musen halten mich ganz schön auf Trapp. Das Programm ist voll und ich gehe zu jeder Veranstaltung. So sieht mein Tagesablauf aus:

07:00 Uhr: Aufstehen

08:00 Uhr: Frühstück

09:00-12:00 Uhr: Arbeit in der Meisterklasse (bzw. Schreibzeit)

12:00-13:30 Uhr: Mittagessen (plus Spaziergang)

13:30-14:15 Uhr: Werkstattgespräch (die Meister der bildenden Künste – 2x Malerei, Illustration, Textilkunst – stellen sich und ihre Werke vor)

15:00-18:00 Uhr: Arbeit in der Meisterklasse (bzw. Schreibzeit)

18:00 Uhr: Abendessen

20:00-21:00 Uhr: Abendwerkstatt (Einblicke in Tanz, Chor, Kammermusik, Lesungen Prosa und Lyrik)

21:00-22:00 Uhr: Spaziergang

22:00 Uhr: Bettruhe

Hierbei sammele ich jede Menge Inspiration. Beim Essen gibt es neben den Gaumenfreuden am reichhaltigen Buffet auch viel Gelegenheit, mit anderen Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen. In den ersten Tagen tragen alle Namensschilder mit Klassen-Angabe – aber mit der Zeit lerne ich, die Menschen anhand ihres Aussehens ihrer Kunstform zuzuordnen – die Tänzerinnen sind aufgrund von Jugend und Schönheit leicht zu erkennen, die Maler sind mit Farbklecksen verziert, die Chorsänger sind öfters rund.

Am Montagnachmittag lesen wir erste Texte in der Klasse vor. Zu meinen Kühen gesellen sich eine Wespenfliege (die ein Florentiner Porträt bekrabbelt), eine gemeine Ackerwinde, Wasserläufer, ein Elch, eine Staublaus in einem Schweizer Labor und eine Raupe im grauen Bus auf dem Weg in den Tod (die jüngste Teilnehmerin überrascht mit einem Faible für schwere Themen und hat die Euthansie-Verbrechen der Nazis aufgegriffen, die im Kloster Irsee stattgefunden haben – es gibt hier eine Gedenkstätte).

Bei der Besprechung unserer Texte zeigt sich Katja als sehr interessiert, zugewandt und direkt. Sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn sie etwas zu kritisieren hat (“Da hast du mit dem Schinken nach der Wurst geworfen” – bei einer Anhäufung von Klischees). Sie verbündet sich mit dem Text, notfalls auch gegen die Autorin („Das war aber so, ist kein literarisches Argument“), aber mit Herzlichkeit und Humor. Es zeigt sich auch ihre frühere Ausbildung zur Textsetzerin – sie nimmt die Texte auf Punkt und Komma unter die Lupe („Jeder Literaturliebhaber freut sich, wenn er mal wieder einem Semikolon begegnet“), auch der Schrifttyp (bitte mit Serifen) und Zeilenabstände (groß genug, einzeilig ist ein no-go) müssen stimmen, sonst vergehe der Leserin von vorneherein die Lust am Text.

Auch die Mitschreibenden geben sich sehr wertschätzend und konstruktiv Feedback. Mein Kuh-Text stößt auf viel positive Resonanz, was mich natürlich freut (vielleicht liegt es auch an den Tieren, die die meisten so sympathisch finden).

Nur die Zeit hat Katja nicht im Blick, da wird schon mal eine Stunde lang ein einziger Text auf jedes Wort hin abgeklopft. Eine Teilnehmerin übernimmt dankenswerterweise die Rolle der Strukturwächterin und macht die Meisterin auf die Uhrzeit und andere organisatorische Belange aufmerksam.

Katja selbst kämpft mit dem Berg loser Blätter (wir kopieren unsere Texte immer für alle, damit jeder ein Mitleseexemplar hat) bis sie schließlich davon träumt, sie hätte die Büroklammer erfunden. Eine ganze Schachtel dieser Drahtwunder kapert sie sich Mitte der Woche aus dem Hotelbüro, um das Blätterchaos zu bändigen. Am Dienstag ist sie völlig überrascht, dass sie am Abend mit einer Lesung auf dem Programm steht (ein Organisationsgenie ist sie wahrlich nicht, dafür umso spontaner).

Am Donnerstag scheint die Sonne höchst sommerlich (übrigens ist das Wetter keineswegs so verregnet, wie im Wetterbericht angedroht – was mich am Abend meiner Abreise dazu brachte, erschrocken noch schnell ein Regencape in meinen Koffer zu den Röcken und Sandalen zu stopfen, das ich dann doch nicht gebraucht habe) und wir halten unsere Vorleserunde im Park ab.

Hierbei raucht Katja unaufhörlich und nach zwei Stunden stehen ihre Füße in einem Berg von Zigarettenstummeln. Inzwischen haben wir eine zweite Schreibaufgabe bekommen: Wir sollen einen Menschen auf einer halben Seite beschreiben, entweder einen Hässlichen mit Empathie oder einen Unsympathen mit Spott, Zorn, Ironie. Ich bearbeite beide Varianten (meine Texte dazu teile ich nächste Woche mit euch). Hier bin ich wieder über die stilistische Bandbreite und den Einfallsreichtum meiner Mitschreiber*innen erstaunt. Auch wenn in der ganzen Woche nur zwei Texte von mir besprochen wurden und ich weniger Text produziert habe, als ich mir gewünscht hätte, sind der Lerneffekt und die Anregung aus den Fremdtexten doch ziemlich groß.

Die große Kunstsommernacht am Samstag rückt näher und wir müssen unsere Lesung vorbereiten. Die Prosa bekommt zwei Zeitblöcke zu je 30 Minuten zugeteilt. Katja legt fest, dass im ersten Block fünf Autorinnen ihre Tier-Texte lesen werden und im zweiten fünf Autorinnen ihre Menschen-Texte. Wer was vorlesen soll/möchte, entscheidet sich einvernehmlich (ich will meinen Kuh-Text vorlesen). Wir sollen kürzen und proben (Freitag).

Als Werbung für unsere Lesungen (in der Kunstsommernacht finden immer drei Veranstaltungen gleichzeitig statt, so dass man Konkurrenz hat) druckt eine Teilnehmerin, die ein talentiertes Zeichenhändchen hat, ihre Illustrationen zu Katja-Zitaten auf grünes Papier, das wir den Besuchern austeilen und auslegen werden.

Am Samstag um 19:30 Uhr ist der große Moment unserer Lesung gekommen. In den Fluren des Klosters wimmelt es von kunstinteressierten Besuchern aus nah und fern. In unserem Lesesaal haben sich etwa 50 Zuhörer versammelt.

Katja Lange-Müller (erste Reihe links im schwarz-weißen Kleid)

Katja spricht einleitende Worte, in denen sie die Aufgabenstellung für unsere Texte erklärt. Ich komme als Zweite dran (wir lesen in alphabetischer Reihenfolge) und trage meinen Text vor, bemühe mich langsam zu sprechen und gut zu betonen und ernte sogar einige kleine Lacher für meine Kuh-Komposition (mit Proben ist es nun das vierte Mal, dass ich den Text vor Publikum vorlese und ich denke, ich konnte mich in der Interpretation steigern – bin ja im Vorlesen eher verhalten). Auch meine Mitleser*innen laufen zu Höchstform auf und interpretieren ihre Texte wunderbar verschroben, pedantisch, zornig. Je öfter ich die Texte höre, umso mehr treten deren sprachlichen Stärken und die Persönlichkeiten der Verfasserinnen hervor.

Unsere Lyrik-Kollegen erhasche ich nur im dritten Teil ihrer Lesung – in der Kunstsommernacht gibt es so viel zu erleben, dass man kaum alles schaffen kann – ich höre ein eindrucksvolles Chorkonzert mit einer Uraufführung der Vertonung des Dietrich Bonhoeffer Gedichts „Wer bin ich“, erlebe den zeitgenössischen Tanz, die Kammermusik und die Bilderausstellung in den Fluren und Ateliers (Pressebilder von der Kunstsommernacht hier). Während der Woche habe ich natürlich mit großem Interesse bei meinen alten Bekannten nachgehorcht, wie es ihnen dieses Jahr so in der Lyrik-Klasse ergeht. Auch die Lesung ihres Meisters Mirko Bonné habe ich angehört, ein kühler Hamburger, der neben seiner Dichtertätigkeit auch Prosa schreibt und sich als Übersetzer (z.B. von Emily Dickinson) einen Namen gemacht hat. Die Lyriker hatten ein höchst konträres Programm zu unserer Prosa-Klasse. Seminarartige Informationsfülle (einige historische Gedichte wurden analysiert), strenge Vorgaben vom Meister, der zuweilen auch hart mit einigen Gedichten seiner Schülerinnen ins Gericht ging, wenig Werkstattcharakter (vor Ort haben sie zwar auf Schreibimpulse kurze Gedichte geschrieben, die aber eher als Entwürfe verstanden wurden und auch in der Lesung nicht zu Gehör gebracht wurde, stattdessen Gedichte, die schon zuvor entstanden waren). Da hätte ich nicht tauschen wollen. Unsere herzlich-impulsiv-chaotische Katja war der ganzen Klasse ans Herz gewachsen und umgekehrt.

So nun dürft ihr zu guter Letzt auch meine Kühe kennenlernen (die ich übrigens jeden Tag beim Spazierengehen besucht habe und die immer hoffnungsvoll zum Zaun gelaufen kamen, obwohl ich sie mit leeren Händen enttäuschen musste, was sie am nächsten Tag verziehen oder vergessen hatten…).

Mein Lesetext:

Ich kriege was, was du auch kriegst“

Sechs Kühe stehen dicht nebeneinander, eine Herde wie in Scheiben geschnitten, lange Seite an langer Seite, ihre Bäuche und Flanken berühren sich. Fünf Köpfe schauen in eine Richtung, eine Kuh ist falsch herum eingeklemmt und guckt in die Gegenrichtung. Im linken Ohr hat jede ein gelbes Nummernschild mit einem Knopf angetackert wie bei einem Plüschtier.

Die Weide ist groß und doch stehen sie hier dicht an dicht. Auf wenigen Quadratmetern reiben sie sich aneinander, wedeln im selben Rhythmus mit ihren langen Ohren, um die Fliegen zu vertreiben, die sie unablässig umschwirren und sich auf ihren feuchten Nüstern, in den Augen und auf dem braunen Fell niederlassen. Dazu zucken die Kühe mit der Haut und wedeln mit den Schwänzen, aber es ist ein sinnloser Kampf. Jedes Zucken lässt die Fliegen aufsteigen, die sich wenige Sekunden später an anderer Stelle auf dem Kuhkörper erneut niederlassen. Die Kühe können nicht gewinnen. Sie könnten sich das Zucken und Wedeln sparen. Aber es ist ein Reflex, nicht zu unterdrücken.

Seite an Seite suchen sie Futter. Nicht auf der grünen Wiese, sondern im Kiesschotter unter den zwei elektronischen Drähten des Zauns. Hier hat die Bäuerin etwas für sie hingeworfen. Salzbonbons vielleicht. Hier suchen sie nun mit ihren langen Zungen den Kiesboden ab. Bauch an Bauch schiebt sich die eine neben der anderen her. Sie arbeiten nicht zusammen, aber auch nicht gegeneinander. Jede versucht, einen Salzkrümel für sich zu finden, jede folgt der Bewegung ihrer Nachbarin. Eine Kuh quetscht sich beharrlich zwischen zwei andere, streckt ihren Kopf in die Höhe, reibt ihren faltigen Hals auf dem Nacken der anderen. Ihr gefällt der Körperkontakt. Vielleicht ist es eine Art von Zärtlichkeit. Jedenfalls ist sie hier im Zentrum des Geschehens. Hier entgeht ihr nichts.

Eine andere Kuh ist die Anführerin. Wenn eine Stelle abgesucht und abgeleckt ist, drängt sie entschlossen mit ihrem kräftigen Körper gegen die Körper ihrer Gefährtinnen. Wie eine Welle geht der Anstoß durch die Fleischmasse der anderen fünf Kühe. 24 Beine stampfen und straucheln im leicht abschüssigen Kiessand. Der Tross schaukelt sich wie in einer einzigen Bewegung einige Meter zur Seite und dort senken sich die Köpfe und Zungen wieder zur Nahrungssuche.

Die Kühe schnaufen, die Fliegen summen. Sonst ist es still.

Ein Plätschern kommt dazu. Eine der Kühe hat den Schwanz gehoben und lässt einen dicken Strahl gelber Pisse zu Boden stürzen. Die Artgenossin daneben kaut ungerührt und ihr Maul vollzieht dabei kreisende Bewegungen.

Dicht an dicht bewachen sie jeden Bissen der anderen mit gutmütigem Futterneid. So bekommt jede gleich viel vom Gleichen. Man könnte es Kuhkommunismus nennen.

So ist eine intensive Woche voller Prosa und Kunst wie im Fluge vorbei gegangen. Ich bin bestimmt nicht zum letzten Mal dort gewesen.


Mein neues Romanprojekt führt mich von Australien über Norwegen bis zum Südpol – alles kreist um Caroline Mikkelsen – die erste Frau in der Antarktis (1935)

Gestern habe ich alle Unterlagen (Exposé und die ersten 22 Romanseiten) für das Arbeitsstipendium 2020 für Literatur des Berliner Kultursenats abgesendet – ich bewerbe mich mit meinen neusten Romanprojekt mit dem Arbeitstitel: „Das Lachen der Pinguine“.

Als kleiner Teaser hier Teil 1 meines Exposés:

Kurzinhalt

Die erste Frau, die 1935 den Südpol betritt, steht 60 Jahre lang im Schatten männlicher Heldengeschichten und ist der Welt unbekannt. Erst als 1995 eine australische Journalistin öffentlich nach ihr sucht, bricht die Norwegerin Caroline Mikkelsen ihr Schweigen und nimmt ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte ein. Die Spurensuche führt auf einem Walfänger durch das Eis der Antarktis bis hin zum hektischen Zeitungsbetrieb in Sydney. Wenn sich die bescheidene Südpol-Pionierin und die ehrgeizige Journalistin begegnen, prallen ihre unterschiedlichen Wertvorstellung aufeinander und beide Frauen stellen sich die Frage, ob eine Lebensleistung ohne Anerkennung einen Wert hat. Der gründlich recherchierte Roman gibt erstmalig Einblicke in die facettenreiche Biografie der Pionierin Caroline Mikkelsen und schlägt über die fiktive Figur der Journalistin eine Brücke in die Lebenswelt von Frauen in der heutigen Zeit, die sich gesellschaftlich immer noch gegenüber männlicher Dominanz behaupten müssen.

Falls ihr euch fragt, wie ich auf diesen Stoff gekommen bin:

Alles fing im April diesen Jahres an, als ich das Internet nach einem neuen Romanstoff durchforstet und „erste Frau“ in Google eingegeben habe auf der Suche nach einer historischen Persönlichkeit, die etwas Interessantes vollbracht hat, aber in der Literatur noch nicht (erschöpfend) behandelt worden ist. Meine zweite Suchidee war nach einer Hochstaplergeschichte, irgendwas mit Lebenslüge und Verheimlichen. Zuerst bin ich auf die erste Frau im Weltall (eine sowjetische Kosmonautin) gestoßen, habe einige Artikel über sie gelesen und Videos angeschaut, aber irgendwie hat es bei mir nicht „klick“ gemacht.

Als irgendwann in den Suchergebnissen die Schlagzeile auftauchte: „Lange geheim: Die erste Frau am Südpol. 1935 war Caroline Mikkelsen am Südpol – als Begleiterin ihres Mannes. Wegen ihres zweiten Mannes schwieg sie lang darüber“ war ich sofort Feuer und Flamme.

Zum einen interessiert mich der Südpol schon seit 2011, als ich eine Dokumentation zum 100. Jahrestag der Erstbetretung des Südpols gesehen habe. Das Wettrennen zwischen dem Norweger Roald Amundsen (der Sieger) und dem Engländer Robert Falcon Scott (der Zweitplatzierte, der mit seinem Leben bezahlte) ist echtes Heldendrama. Im Nachgang zur TV-Doku habe ich noch ein Sachbuch über das Wettrennen zum Südpol gelesen. Anlässlich des Jubiläums wurde sogar die Oper „Southpole“ komponiert und im Januar 2016 an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt (habe ich mit Faszination im TV angesehen). Außerdem mag ich Pinguine sehr gerne und habe vor Jahren den Film „Die Reise der Pinguine“ im Kino gesehen und war ganz ergriffen. Mein Bezug zur Antarktis liegt also auf der Hand.

Aber richtig hinein gezogen hat mich die Frage: Warum hat Caroline Mikkelsen 60 Jahre lang über ihr Erlebnis geschwiegen? Das berührt auch meinen zweiten Ansatz, nämlich die Sache mit der „Lebenslüge“ oder vielleicht eher ein Familiengeheimnis.

Jedenfalls habe ich dann fieberhaft das Internet nach weiteren Zeitungsartikeln abgesucht (und wenige gefunden), auch Wikipedia nach Personen und Fakten durchsucht. Eine Schlüsselfigur in der „Entdeckung“ von Caroline Mikkelsen anlässlich des 60. Jubiläums der Landung ist Diana Patterson, die Leiterin der Davis Station (eine Forschungsstation an der antarktischen Ostküste nahe der Landungsstelle der Norweger im Jahr 1935), die 1995 die Suche nach der ersten Frau in der Antarktis voran trieb. Schließlich meldete sich Caroline im November 1995 auf eine Suchanzeige in einer norwegischen Zeitung. Im Nachgang gab es einige Zeitungsinterviews mit ihr und sie wurde offizielle ins Guinness Buch der Rekorde eingetragen.

Im Mai war ich mit 4 Freundinnen und Kommilitoninnen zur Schreibwoche in Winterberg und habe mich dort ganz in die Imagination der Charaktere und des Plots auf zwei Zeitebenen vertieft und meine ersten 12 Seiten des Romans geschrieben. Ich stelle mir Caroline als bescheidene junge Frau vor, die von ihrem 20 Jahre älteren Kapitänsehemann auf die Expedition mitgenommen wurde und sich ihm (und dem männlich dominierten Heldenverständnis) unterordnete und nach der Rückkehr nicht darauf bestanden hat, die öffentliche Anerkennung für ihre Erstbetretung einzufordern. Der Kapitänsmann starb im zweiten Weltkrieg und 1944 heiratete Caroline erneut: einen Gärtner aus Tønsberg. Aus Rücksicht auf seine Gefühle schwieg sie während der Ehe über ihr Antarktiserlebenis (so vage stand es im Zeitungsartikel). Das gibt meiner Fantasie jedoch viel Stoff, um über die Charaktere der Eheleute und deren Beziehungsdynamik nachzudenken. Ich stelle mir den Gärtner Johan als schüchtern vor (das komplette Gegenteil zum ersten Ehemann), der sich im Vergleich zum Abenteurer-Kapitän minderwertig gefühlt hat, weil er seiner Frau keine exotischen Reisen ermöglichen konnte. Caroline zeigte viel Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme als Ehefrau, den zweiten Mann seine „Schwäche“ nicht spüren zu lassen.

Der historischen Figur stelle ich die fiktive Journalistin (die ich in Sydney ansiedele, wegen des Australien-Bezugs der Davis Station), die sich auf die Suche nach Caroline macht.

Ich habe jedoch gemerkt, dass es mich reizt, selbst auf Spurensuche nach Caroline (die 1998 im Alter von 91 Jahren gestorben ist) zu gehen, um dem Menschen näher zu kommen und an mehr biografische Informationen zu gelangen. Das Internet ist in dieser Hinsicht wirklich toll. Meine Freundin Hedda hat noch in Winterberg über ihr LinkedIn-Profil (was ich selbst nicht habe) mit Diana Patterson Kontakt aufgenommen. Die Australierin hat mir sehr freundlich und hilfsbereit zurück gemailt. Ich habe sie zur ihren Eindrücken zu Caroline aus ihrem Treffen im Jahr 1995 befragt und eine gute Beschreibung zurück bekommen.

Noch näher dran würde ich natürlich kommen, wenn ich Kontakt zu den Kindern (zumindest von einem Sohn weiß Diana) von Caroline bekommen könnte, um sie zu befragen (und auch den „Segen“ für mein Romanprojekt zu bekommen). Diana hat keine Kontaktdaten zur Familie Mandel, gibt mir jedoch den Tipp, es bei Susan Barr (vom Norwegischen Polarinstitut) zu versuchen, die seinerzeit beim Interview dabei war und schon damals den Kontakt hergestellt hatte. Im Internet finde ich sogar eine E-Mail-Adresse von Susan und schreibe sie an. Prompt bekomme ich eine sehr nette und hilfsbereite Antwort und die Adresse eines Johan Mandel (der Sohn heißt vielleicht wie der Vater) aus Tønsberg – in Norwegen findet man Personennamen, Adressen und Telefonnummern (sogar mit Satellitenbild vom Haus) online. Es handelt sich um eine Festnetznummer, so dass sms oder whatsapp ausscheiden. Also schreibe ich einen Brief an den mutmaßlichen Sohn (stelle mich vor, erkläre kurz mein Romanprojekt und frage, ob er der Sohn von Caroline sei, bitte um Rückmeldung, gebe meine Blog-Seite als Referenz und meine E-Mail-Adresse an) und schicke ihn per Post ab.

Auch die Jahrhunderte alten Kommunikationswege haben noch ihren Wert! Etwa 10 Tage später entdecke ich eine E-Mail in meinem Postfach: Johan Mandel hat mir geantwortet: In wackeligem Englisch bestätigt er, dass er der Sohn von Caroline ist und mir gerne weiter hilft. Ich bin begeistert! Ich formuliere 10 Fragen rund um Carolines Biografie – zunächst auf Englisch, dann jage ich den Text durch den Google-Translator und füge die norwegische Übersetzung bei und schreibe, Johan möge mir gerne in seiner Muttersprache antworten. Wenige Tage später bekomme ich eine freundliche und sehr interessante Antwort auf Norwegisch (tolle Sprache – langsam verstehe ich einige Wörter!) und erfahre viel Neues. Mein Bild von Caroline wird immer runder – sie war eine sehr vielseitige Frau, aus einer kinderreichen dänischen Familien stammend, mit Ausbildungszeit in Hollywood (zur Näherin), Designerin, Geschäftsfrau. Sie ist keinesfalls ein verhuschtes Mädel unter dem Kommando ihrer Ehemänner, sondern eine starke Frau, die trotzdem zeitlebens sehr bescheiden war und ihr Licht unter den Scheffel gestellt hat, um den (zweiten) Ehemann nicht in den Schatten zu stellen. Diese Widersprüche sind für meinen Roman äußerst reizvoll.

Ich habe noch eine zweite Mail an meinen norwegischen Brieffreund (der Sohn müsste in seinen 70ern sein) geschickt mit weiteren Nachfragen. Er will mir nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub darauf antworten.

Am letzten Freitag finde ich einen Umschlag mit norwegischen Briefmarken im Briefkasten und siehe da – Johan hat mir einige Zeitungsartikel und Originalfotos von der Antarktisreise geschickt! Das ist wie Weihnachten! Bin immer noch total begeistert und auch berührt über das Vertrauen.

Die norwegischen Zeitungsartikel aus 1995/96 enthalten noch viele weitere biografische Details (wie meine ersten Übersetzungen hervorgebracht haben), die ich in den nächsten Wochen auswerten werde.

Am Freitag (12. Juli) war ich von der Sendung aus Norwegen so euphorisiert, dass ich meine Schreibblockade überwinden konnte (seit Anfang Juli habe ich mich jeden Tag damit gequält, dass mir noch 5-10 Romanseiten für meine Stipendiumsbewerbung fehlen, aber ich konnte mich nicht zum Schreiben aufraffen). Zaghaft habe ich eine Szene in der Redaktion des Sydney Morning Herolds mit meiner fiktiven Journalistin Jesse entworfen, die ihren Kollegen die Antarktis-Story verkaufen will. Da ich beim Schreiben immer großen Wert auf gute Recherche lege, habe ich mich zunächst über New-Themen (Politik/Gesellschaft) aus Februar 1995 in Australien und über die Zeitungs- und Journalistenwelt in Australien informiert (welche Zeitungen gibt es, welche Journalisten und Themen haben 1994/95 den Walkley-Award – wie Pulitzer-Preis in Amerika – gewonnen?).

So konnte ich am Samstag und Sonntag doch in einen kleinen Schreibrausch kommen und habe 10 neue Seiten produziert. Neben der Redaktionssitzung (1995) auch eine Szene mit Caroline im Walfänger vor der Antarktisküste (1935).

Meine Schwester Dorit hat mir wertvolles Last-minute-Feedback gegeben (wie immer super hilfsbereit), so dass ich am Montagabend alle Texte einreichen konnte (immerhin 1 Tag vor Fristende – ich brauche scheinbar ein gewisses Maß an Termindruck, um in die Gänge zu kommen).

Drückt mir die Daumen für das Stipendium – die Chancen stehen allerdings 300 (Bewerbungen) : 17 (Stipendien) – so steht es jedenfalls im Antragsmerkblatt.

Unabhängig vom Stipendium werde ich im November im „National-Novel-Writing-Month“ (NaNoWriMo) auf jeden Fall wieder in den Roman einsteigen und (hoffentlich) eine erste Fassung schreiben. Freue mich schon darauf.

Nun möchte ich euch einen Eindruck aus meinem Romananfang geben.

Viele Spaß beim Lesen! Wie gefällt euch der Stoff und meine Umsetzung?

Prolog: Die Stimme der Antarktis

Ich liege außerhalb deiner Reichweite, in unermesslicher Entfernung – und doch streckst du deine Hand nach mir aus, willst mich berühren, deinen Fuß auf meine weiße Haut setzen, deine Fahne in meine eisigen Tiefen rammen. Mich in Besitz nehmen – für deine Nation, für deinen Ruhm, für deine Unsterblichkeit. Ich liege vor deinem Auge, so weiß, dass du blind davon wirst. So weit, dass die Distanz ihre Bedeutung verliert. Du hörst meine Stimme. Sie führt dich über das Meer. Dein Schiff bahnt sich einen Weg zwischen den Eisspalten mit ihren scharfen Kanten, die wie Säbel in deinen Bug schneiden. Du gibst nicht auf. Deine Schritte führen dich über meine Oberfläche aus Fels und Eis. Meine weiße Haut trinkt das Öl aus deinen Schlittenmotoren und das Blut deiner Hunde. Ich bewahre deine schmutzigen Spuren auf in meinen gefrorenen Kammern der Jahrhunderte, abgedeckt durch neue Schichten meiner Reinheit. Ich bleibe unberührt. Ich erneuere mich und du verlierst dich in mir. Dein Atem geht schnell, meine Atem geht im Rhythmus der Jahreszeiten, steigt auf und ab mit Licht und Dunkelheit. Die Kälte lässt meine Stimme in deinen Ohren klirren. Weiter, immer weiter zieht sie dich zu meinem Mittelpunkt, der im unsichtbaren Irgendwo liegt. Vielleicht findest du diesen Punkt, der dich zum Eroberer macht. Du willst belohnt werden für deine Entbehrungen, deine Opfer, deinen Mut. Du wirst ein Kreuz auf deiner Landkarte machen und all meinen Wölbungen einen Namen geben. Rufst du mich mit diesen Namen, bleibe ich stumm. Ich bleibe Niemandsland. Der Niemand, der bist du.

 

Sommerpanorama auf O

Die Sommersonne hat meine Vokale eingeschmolzen zu einem endlosen „o“. Domot losst soch ooch got dochton…

Sommerpanorama auf O

Oh Sommer, Sonne, Sohlenglühen

ob schattenlose Tropen oder Großstadtpflaster

gehorchen offenkundig vor Hitzedominanz

Orchideen oder Osterglocken

wogen farbenfroh bevor trockener

Torf sinnloses Pflanzenopfer fordert

Wo Fußsohlen rote Flipflops lose kosen

wo Anton ohne Socken ohne Sorgen

salopp Cola-Limo-Dosen poppt

wo Ottilie rigoros große Melonen rollt

wo Leopold Zitronen konsumiert

schmollt Olga vor Wacholderschorle

Ottos Ohren horchen andachtsvoll

oktavenreichem Orchestersolo voller Bravo

Onkel Moritz monologisiert orientierungslos

ohne Boot vor kolossalem Ozean

tobt bodenlose Wellenwoge

wo Albatrosse unverfroren flogen

Entflohen vor Sonnenstichkoma

von wolkenlosem Könighimmelblau

folgen Kosmonauten, Hottentotten, Matadore

tosenden Kommandos vor Honolulu

stoppen ohne Seenot atemlos vor Loreley

prosten sonderbaren Wodkatrunk

Wo Poeten methodisch Vokale stornieren

dort holen Sportler hochspielend Pokale

wo mobile Bustouristen on-off-hoppen

offenbaren Omas Locken vor Frisörsalon

wo hüllenlose Badekörper voller Wonne tollen

toppt Sonnenbrandtattoo große Mode

Wetterorakel prophezeit Hoch von Morgen

so wollen Sonnenfetischisten hoffen

Windstoß vor Orkan überrollt

moderne Großstadtschluchten

doch Donnertrommeln locken

Mondenschein und Sternentrost

Wenn ihr Lust habt, könnt ihr gerne im Kommentar eigene o-vokale Verse hinzufügen – gerne auch aus dem obigen Wörterfundus. Die “contrainte” (selbstbestimmte Sprachregel) lautet: In jedem Wort muss mindestens ein “o” vorkommen. Freue mich auf noch mehr Sooooooooommerlyrik.

Meine Weggefährtin Momo führt mich vor die Kamera der “Kulturzeit”

Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mal die Protagonistin eines Beitrags in meiner Lieblingssendung “Kulturzeit” auf 3sat werden würde, hätte ich das für reine Fantasie gehalten. Aber vor ein paar Tagen ist dieser unwirkliche Fall wirklich eingetreten.

Ende März 2019 sehe ich auf facebook einen Aufruf der “Kulturzeit“, dass die Moderatorin Vivian Perkovic für die Serie “Was liest du?” demnächst nach Berlin kommen wird. Wenn man ihr erzählen möchte, welches Buch einen so richtig begeistert, dann soll man sich bewerben. Ich schreibe sofort eine E-Mail an die Redaktion und stelle mein langjähriges Lieblingsbuch “Momo” von Michael Ende vor.

Einen Monat später bekomme ich eine E-Mail von der Regisseurin Viola Löffler, in der sie sich für mein Interesse an der Mitwirkung bedankt und um Rückruf bittet, damit wir die Details besprechen könnten. Ich denke, es geht schon um die Details der Dreharbeiten, aber das Telefonat verwandelt sich unversehens in ein Interview zu den Inhalten von Momo – ich soll spontan erzählen, was mich an Momo so begeistert. Da sprudele ich nur so los. An den Fragen merke ich, dass es in dem Beitrag nicht um eine Literaturanalyse gehen soll, sondern meine persönliche Beziehung zu dem Buch herausgestellt werden soll und wie die Inhalte in meinem Leben wirken. Die Regisseurin kommt zu dem Ergebnis, dass ich wirklich ein Super-Fan des Buches bin. In der Redaktionssitzung des Teams Anfang Mai wird sie meine Momo-Beziehung vorstellen, dann werden sie sich für 3 Bücher und Protagonisten für Berlin entscheiden.

Als dann am 14. Mai der Anruf kommt, dass ich für “Was liest du?” ausgewählt bin, mache ich Freudensprünge. Das ist endlich mal ein Erfolgserlebnis im Gegensatz zu den vielen Absagen, die ich für die Einsendungen meiner Texte zu Wettbewerben und an Literaturzeitschriften wegstecken muss. Wie schön, dass meine Literaturbegeisterung hier auf Interesse stößt, auch wenn ich nur Rezipientin und nicht Schreiberin bin.

Die Regisseurin schlägt als Drehort ein Yogastudio vor (passend zum Thema der inneren Ruhe), ich nenne ihr den Namen des Studios bei mir in der Nachbarschaft, wo ich einige Schnupperkurse besucht habe (sie will dort anfragen). Sie sendet mir Links zu den Beiträge aus Leipzig und Bielefeld, die ich mir sofort in der Mediathek der Kulturzeit anschaue (sehr sehenswert!). Ein Beitrag dauert 6 Minuten, für jede Person stehen 2 Minuten zur Verfügung. Ich werde also einige Zeilen aus Momo vorlesen müssen (ich denke sofort an die weisen Sätze von Beppo Straßenkehrer) und dann folgt das Interview der Moderatorin (die übrigens meine Favoritin unter den 4 Kulturzeit-Moderator*innen ist – freue mich sehr darauf, sie kennenzulernen).

Dann markierte ich mir Mittwoch, den 29. und Donnerstag, 30. Mai im Kalender und freue mich auf eine ganz neue Erfahrung.

Am Montag der Drehwoche telefoniere ich nochmal mit Viola und wir verabreden die Zeiten für den Dreh. Mit dem Yogastudio Bamboo hat es geklappt.

Mittwoch, 1. Drehtag:

Am Abend zuvor hat mich mein Momo-Hörbuch eingestimmt (das ich seit ca. 6 Jahren regelmäßig mit großer Aufmerksamkeit höre und fast schon mitsprechen könnte – aber die Geschichte, Figuren und Sprache sind so wunderbar facettenreich, dass ich mich nicht daran überhöre).

Gut ausgeschlafen mache ich mich zu Fuß auf den Weg ins “Bamboo” einige Straßen entfernt von mir. Meine Nervosität hält sich einigermaßen in Grenzen. Ich habe die letzten Tage im Kopf durchgespielt, was ich alles über Momo erzählen könnte. Für den guten optischen Auftritt habe ich auch gesorgt: War vor ein paar Tagen beim Frisör und habe eine neue Bluse an. Make-up habe ich keines aufgelegt (mache ich sonst auch nie), nur etwas Lippenstift. Ich gehe davon aus, dass ich vor Ort von einer Maskenbildnerin geschminkt werde. Das kenne ich von einem Fotoshooting, das ich mal beruflich vor vielen Jahren hatte, außerdem sind die Leute im Fernsehen doch immer ganz dick geschminkt. Eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellen wird.

Pünktlich um 12:30 Uhr steige ich die schmale Holztreppe der ehemaligen Molkerei in einem Hinterhof hoch ins Yogastudio. Die Inhaberin Birge begrüßt mich freundlich (ich kenne sie vom Hatha-Yoga-Soft-Kurs), das Fernsehteam ist noch nicht da, sie rufen an und sagen, dass sie ein bisschen später kommen. Birge öffnet an diesem Nachmittag extra für die Dreharbeiten die Türen und stellt ihre Räume kostenlos zur Verfügung. Ihrem Wunsch, den Namen des Yogastudios zu nennen, kann nicht entsprochen werden, da 3sat als öffentlich-rechtlicher Sender keine Werbung machen darf. Sie nutzt die Zeit zum Putzen und Aufräumen und plaudert ein wenig mit mir. Sie erzählt, dass sie auch als Schauspielerin arbeitet, sie spielt im Schlosstheater Steglitz in Boulevardstücken. Daher kommt vielleicht ihre Aufgeschlossenheit und Großzügigkeit gegenüber den Kulturschaffenden vom Fernsehen.

Um Viertel vor Eins trifft das Drehteam ein: Die Regisseurin Viola begrüßt mich gutgelaunt (wir verständigen uns bald auf’s “Du”, sind ungefähr im gleichen Alter), der Kameramann Andy und Tontechniker Ben geben mir höflich die Hand, während sie taschenweise Ausrüstung hoch schleppen.

Dann steht mir die Moderatorin Vivian gegenüber, sie kommt mir aus den Kulturzeit-Sendungen vertraut vor, ist aber viel zierlicher, als ich vermutet hätte. Auch sie begrüßt mich freundlich und hat eine sympathisch-natürliche Art. Sie erzählt, dass sie gerade vom Treptower Park kommen. Dort waren sie im Tretboot auf dem Wasser (im vorgestellten Roman geht es ums Wasser) und sind alle ein bisschen durchgefröstelt.

Tontechniker Ben und Regisseurin Viola

Ich sitze auf dem großen Sofa im Foyer, wo auch die Yoga-Schauspielerin am Tresen steht und Tee für uns kocht. Das Produktionsteam erkundet die Räumlichkeiten. Im großen Yoga-Saal breitet Viola bunte Matten am Boden aus und macht mit Vivian Sitzprobe im Lotussitz und in Strümpfen – ach ja, wir sollten alle unsere Schuhe unten an der Treppe ausziehen – ich werfe einen skeptischen Blick auf meine weißen Sportsöckchen unter dunkelblauer Jeans (hoffentlich kommen die nicht ins Bild). Der Kammermann baut sein Stativ und eine Beleuchtungsanlage vor ihnen auf, sie sind aber mit den Lichtverhältnissen und dem eintönigen Hintergrund nicht zufrieden. Zwischenzeitlich verkabelt mich Ben (hinten im Hosenbund ein Sender, vorne am Kragen wird ein kleines Mikro angeklebt). Ich warte – und warte noch ein bisschen mehr. Birge zitiert den Schauspieler Anthony Hopkins, der sagte, dass er seine Gage fürs Warten bekomme.

Plötzlich soll es losgehen. Vivian zieht ihren Lippenstift nach (sie trägt Make-up im Gesicht, aber dezent, ihre Frisur mit Zopf und Ponyfransen ist alltagstauglich, auch die Kleidung eher leger mit Bluse und roter Hose). Ich zücke mein Handspiegelchen und prüfe nach, ob mir nicht die Haare zu Berge stehen (auf maskenbildnerische Gestaltung muss ich wohl verzichten, aber Kameramann Andy sagt etwas von Weichzeichner, so dass ich auf digitale Verschönerung hoffen darf) und dann soll ich in den Umkleideraum kommen – dort haben sie (ohne, dass ich es mitbekommen habe) im kleinen Vorflur zwei Sessel neben ein Tischchen mit hölzerner Buddhafigur gerückt. Ich soll mit meiner gelben Bluse auf den dunkelbraunen Sessel für guten Farbkontrast. Vivian nimmt neben mir Platz (im westlichen Sitzmodus ziehen wir auch unsere Schuhe wieder an, auch wenn man es wohl nicht sieht). Wir ruckeln unsere Stühle dichter zusammen. Zwei Meter entfernt steht die Kamera auf einem Stativ, das armlange Raum-Mikro (das zusätzlich zu den beiden Personen-Mikros zum Einsatz kommt) wird von Ben mit einer Stange über uns gehalten. Soll jetzt eine Probe stattfinden?

Vivian verwickelt mich in ein Gespräch (fragt nach meinem Beruf und wo ich herkomme). Ich werde ein bisschen lockerer (halte mich aber mit beiden Händen am Momo-Buch auf meinem Schoß fest, dabei soll ich im Interview gar nicht daraus vorlesen). Die Regisseurin sitzt vor uns auf dem Boden und gibt das Startsignal.

Vivian sagt die erste Klappe an und schon sind wir mitten im Interview. Ich konzentriere mich ganz auf meine Gesprächspartnerin und bekomme von Kamera und Mikro kaum etwas mit.

Vivian stellt mir einige Fragen (die sie auf ihrem Smartphone vorbereitet hat), aber sie nimmt sehr spontan auf, was ich ihr gerade erst gesagt habe (dass ich früher als Juristin gearbeitet habe – “Sie selbst haben mal im grauen Anzug gesteckt” – wie die Grauen Herren in Momo von der Zeit getrieben) – man merkt, dass sie Erfahrung in live-Interviews hat.

Ich werde von ihren Fragen überrascht (z.B. zur Kapitalismuskritik von Michael Ende), finde aber spontan Antworten darauf (nur auf die Frage, wem ich “Momo” denn schon geschenkt habe, druckse ich herum, weil ich das Buch noch nie verschenkt habe). Es entwickelt sich ein lebendiges Gespräch (ich spreche von Beppo und seiner Philosophie des Straßenkehrens: ein Atemzug, ein Besenstrich – wende ich auf mein Leben an bei Leistungsdruck und Gefühl der Überforderung; mit Gigi dem Geschichtenerzähler habe ich zu meiner verschütteten Kreativität und der Lust zum Schreiben zurück gefunden).

Nach ca. 10 Minuten haben wir einen runden Gesprächsbogen geschlagen. Ich finde ganz salbungsvolle Abschlussworte, was ich aus Momo gelernt habe (achtsam und in Verbindung mit sich selbst sein, dann ist es auch möglich, sich anderen Menschen aufmerksam zuzuwenden und ihnen gut zuzuhören).

Regisseurin Viola ist sehr zufrieden. Allerdings hat sie sich notiert, dass bei einer bestimmten Frage draußen eine S-Bahn vorbei gefahren ist (was der Tontechniker bestätigt, bildtechnisch hat uns einmal eine Fliege gestört). Das müssen wir wiederholen.

Vivian fragt mich nochmal: “Momo führt eine Revolution an. Auch Sie haben in Ihrem Leben eine regelrechte Revolution erlebt” – und ich erzähle von meiner beruflichen Umorientierung und Neustart in Berlin) – allerdings komme ich bei der Wiederholung total ins Stocken, suche nach den Wörtern von vorhin, die mir nicht mehr einfallen.

“Das habe ich vorhin irgendwie besser gesagt”, murmele ich.

“Nicht so schlimm. Wir machen das nochmal. Unterhalte dich einfach mit mir.”

Also stellt mir Vivian die Frage ein drittes Mal und ich versuche eine frische Antwort mit neuen Worten.

Nach insgesamt ca. 15 Minuten ist alles im Kasten. Die Regisseurin sagt, dass sie total gefesselt zugehört hat und am liebsten eine längere Version des Interviews für eine Online-Version machen würde (dazu kommt es vermutlich nicht, weil zu aufwendig). Ich freue mich sehr über das enthusiastische Feedback. Bin echt gespannt, wie sie das Interview letztendlich schneiden wird (bei 1 Minute Redezeit muss leider vieles wegfallen).

Jetzt soll ich noch einige Yoga-Übungen auf den Matten machen. Im großen Saal vollführe ich mein Mini-Repertoire an Übungen (aus dem Sonnengruß – keine Ahnung, wie die Figuren alle heißen), der Kameramann macht Großaufnahmen und Slow-Motions von meinen Bewegungen (oh Schreck, als Yoga-Vorturnerin mache ich überhaupt keine gute Figur, das darf gerne der Schere zum Opfer fallen). Vivian bereitet sich schon mit Smartphone auf Schiller vor, gleich treffen sie am Gendarmenmarkt im Theater einen alten Schauspieler – ihre dritte und letzte Station heute (ganz schön intensiver Tag für das Team).

Draußen drehen sie noch einige Bilder, wie die Moderatorin ins Haus geht, ihre Schuhe auszieht und die Treppe hoch geht.

Gegen 15:30 Uhr verabschieden wir uns. Ich mache mit Vivian noch ein Erinnerungsfoto (bei den morgigen Dreharbeiten wird sie nicht mehr dabei sein).

Donnerstag, 2. Drehtag:

Heute wollen wir uns schon um 12 Uhr treffen. Diesmal bereite ich mich auf die Großaufnahme mit ein wenig Concealer unter den Augen, Wimperntusche und Lidstrich vor. Für die optische Kontinuität ziehe ich dieselbe Bluse und Hose von gestern an.

Gerade gehe ich im Sonnenschein über die Ampel, als es hinter mir hupt und jemand meinen Namen ruft. Ich springe ins weiße Auto aus Mainz und fahre die letzten 500 Meter mit meinem TV-Team zum Yogastudio. Heute morgen haben sie schon am Müggelsee gedreht (im Kamerastativ knirscht der Sand). Die Regisseurin hat den Schlüssel für die Räume bekommen und wir haben den Drehort für uns.

Heute bin ich entspannter und bekomme auch mehr von Andy und Ben und ihrer engagierten Arbeit mit. Auf meinen Wunsch drehen wir zuerst mein Vorlesen. Die Textstelle, die ich mir ausgesucht habe, muss ich auf wenige Sätze kürzen (auf max. 15 Sekunden).

Kameramann Andy (Anfang 30, lange schwarze Haare im Zopf) ist sehr wählerisch, was den Bildhintergrund angeht, er achtet auf Farben, Strukturen und das Licht. Er sucht das grüne Holztor auf roter Backsteinwand draußen im Innenhof aus. Einige Vögel singen und die S-Bahn rauscht regelmäßig vorbei, aber für den Ton finden wir einige Moment der Stille. Ben verkabelt mich wieder. Er ist ein stiller Typ mit Mütze, trägt gerne Grün – und kennt sich auch mit Momo und Michael Ende aus.

Ich stehe mit dem Buch in der Hand vor dem Tor, die Kamera ist auf mich gerichtet, Andy und Viola probieren den Faltreflektor (Alu auf der einen Seite, weißer Stoff auf der anderen) in unterschiedlichen Distanzen aus – das Sonnenlicht wird intensiv auf mein Gesicht geworfen, je nach Lichtstärke muss auch der Filter der Linse verändert werden – das Ganze dauert ein bisschen, bis Andy zufrieden ist.

Dann soll ich 10 Sekunden direkt in die Kamera blicken, meine Sätze vorlesen, dabei immer wieder aufschauen (es dem Zuschauer erzählen), danach wieder 10 Sekunden den Blick in die Kamera halten.

Ich starre ins Objektiv, bekomme Blinzelreflex, dann lese ich los:

“Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten. Dann macht es Freude; das ist wichtig.”

Kameramann Andy hält in 15 Meter Entfernung den Lichtreflektor in die Höhe, der vom milden Wind wie ein Segel erfasst wird und gar nicht so leicht still zu halten ist. Ben hält das riesige Mikro mit dem grauen Fell über mich. Ohne es zu merken, habe ich beim Lesen instinktiv zur Regisseurin geschaut, die neben der Kamera steht. Ich soll nur in die Kamera blicken. Ich wiederhole das Vorlesen noch 2 Mal, dann sind alle zufrieden.

Als nächstes filmen wir die Spiegel-Sequenz, die meine Idee war. Wie in der Szene vom Frisör Fusi, der von einem Grauen Herrn besucht wird, schreibe ich einen Tagesablauf in Sekunden auf einen Spiegel.

Praktischerweise hängt im Umkleideraum ein langer Spiegel im Goldrahmen, Viola hat Kreidestifte mitgebracht. Auch hier erfordert das Einrichten der Kamera (Winkel) und des Lichts (diesmal Matte mit Glühbirnchen an einem Ständer) einiges an Präzision. Andy erzählt mir von den verschiedenen Filtern. Er lässt die Menschen vor seiner Linse immer gut aussehen. Besonders schmeichelhaft sind blaue Glitzersterne. Andy arrangiert Licht und Filter so, dass meine Augen schön leuchten.

Für diese Aufnahme brauchen wir keinen Ton. Aber Tonmann Ben übernimmt die Aufgabe des Souffleurs und liest mir die langen Zahlenreihen aus meinem Buch vor. Ich schreibe in Türkis auf den Spiegel:

Schlaf 441 504 000 Sek.

Arbeit 441 504 000 “

Nahrung 110 376 000 “

Mutter 55 188 000 “

Einkauf usw. 55 188 000 “

Freunde, Singen usw. 165 564 000 “

——————————————————

Zusammen: 1.103 760 000 Sekunden

Wir kürzen die Original-Liste aus dem Buch um einige Positionen (Wellensittich, Fenster, Geheimnis) und Ben ermittelt die neue Summe auf seinem Handy (falls ein Zuschauer auf “Pause” drückt und nachrechnet).

Dabei zoomt der Kameramann mal auf die Schrift, mal auf mein Gesicht – ich weiß nicht so genau, was die Kamera gerade im Bild hat, aber ich führe die Bewegungen aus und konzentriere mich darauf, mich nicht zu verschreiben. Andy ist ganz begeistert von der Optik – der Spiegel erzeuge eine tolle Wirkung.

Zum Abschluss setzen wir Violas Idee um: Ich soll aus einer Buchseite eine Lotusblüte falten. Dazu schneidet sie einige Seiten quadratisch zu und ich studiere die Faltanleitung auf ihrem Handy. Leider bin ich im Origami-Basteln total unerfahren und kapiere nicht sofort, wie das gehen soll. In der Zwischenzeit bauen Andy und Ben ein neues Set im großen Yoga-Saal auf: Neben einem weißen Buddha und einer Paillettenstehlampe in der Ecke. Die Kamera guckt diesmal von oben auf mich herab.

Es geht los und meine Finger fühlen sich dick und ungeschickt beim Falten an. Bei den letzten Knickschritten hilft mir Viola, dann kommt tatsächlich eine erstaunliche Blüte zum Vorschein, die ich dann dem Buddha in den Schoß lege.

Um 14 Uhr sind alle Bilder im Kasten. Die vielen Utensilien werden wieder ordentlich verstaut und in den Kofferraum geschleppt, gleich werden sie alles im Theater wieder auspacken.

Viola, Andy und Ben verabschieden sich herzlich von mir. Wirklich ein tolles Team (auch mit Moderatorin Vivian), bei dem jede und jeder seine Leidenschaft und Perfektion einbringt für das bestmögliche Ergebnis. Es war eine schöne und einmalige Erfahrung für mich, für 2 Tage in dieses Kreativteam mit aufgenommen zu werden.

Bin natürlich sehr gespannt auf den Berliner “Was liest du?”-Beitrag. Es ist schon erstaunlich, wie viel Aufwand in einen 6-minütigen Film gesteckt wird – aber das ist halt Qualitätsfernsehen. Der Beitrag soll noch vor der Sommerpause gesendet werden und wird danach auch in der Kulturzeit-Mediathek zu sehen sein. Ich füge den Link hier ein, wenn es soweit ist.

Ich hoffe, ich konnte euch mit meinen Eindrücken vom Dreh gut unterhalten.

Meine Origami-Lotusblüte

Update 25. Juni 2019: Der Beitrag ist heute Abend gesendet worden. Hier könnt ihr ihn euch anschauen: Was liest du, Berlin?

Respect – Aus dem Leben eines Sprayers

Ich lerne London aus einem neuen Blickwinkel kennen – nämlich aus den Augen eines echten Graffiti-Sprayers – er selbst versteht sich als Street Artist. Ich habe mich im Internet für eine Walking Tour angemeldet. Am Freitag um 11 Uhr erwartet Gregory Simpson mich und 30 andere Interessierte vor einem Coffeeshop im Londoner Viertel Shoreditch (East End). Gregory trägt auch bei bedecktem Wetter eine Sonnenbrille, denn seine Straßenidentität als Sprayer will er geheim halten. Ja, wir werden auch seine Werke auf der Tour sehen, aber er verrät uns nicht, welche es sind und seinen Straßennamen verrät er uns natürlich auch nicht. Stolz erzählt er, wie hoch die Strafen in Großbritannien für Sprayer sind. Ja, einige seiner Kollegen sind schon im Gefängnis gelandet.

Gregory ist Mitte 30, trägt Jogginghose und Sneakers und natürlich seine Sonnenbrille. Er ist ein Lebenskünstler, nachts sprüht er seine Kunst an die Wände der Stadt, tagsüber führt er die Touristen an die Orte seines Schaffens – von den Spenden lebt er (am Ende der Tour sollen wir ihm geben, was seine Führung uns wert war). Mit langen Schritten eilt er uns voraus und führt uns kreuz und quer durch die Gassen des Arbeiterviertels Shoreditch, wo kleine Backsteinhäuser dicht nebeneinander gedrängt stehen, es gibt unvermutete Innenhöfe, dann wieder halb verlassene Fabrikbauten – alle diese Steinwände sind die Leinwand für die Straßenkünstler mit ihren Spraydosen.

Respekt und Verachtung sind die Koordinaten, zwischen denen sich jeder Sprayer der Szene hier bewegt. Gregorys Verachtung trifft auch eine konkurrierende Walking Tour mit französischen Schülern, die nicht von einem Sprayer aus dem Viertel geführt wird. Das wird nicht gerne gesehen. Das Geld der Touristen soll zurück in die Szene fließen.

Gregory spricht in der “wir”-Form, er ist Teil der Szene, hat sich den Respekt der Gemeinschaft erworben. Wenn man am Anfang seiner Sprayer-Karriere steht, muss man seine “dedication” beweisen, indem man seinen “tag” (Signatur/Logo) so oft es geht in der ganzen Stadt auf die Mauern schreibt (“go all city”). Man muss viel Zeit und Energie einsetzen, sich Wind und Wetter aussetzen, den Gefahren und der (Straf-) Verfolgung trotzen. Dabei gilt es, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Übrigens gibt es nur wenige Frauen in der Sprayer-Szene – die nächtlichen Streifzüge und das Risiko ziehe einfach überwiegend Männer in ihren Bann, meint Gregory.

Eines der wenigen Werke einer Frau. Davor steht meine Schwester Dorit, der ich die Fotos zu verdanken haben (bis auf dieses, da war ich selbst am Drücker).

Gregory führt uns zu wandfüllenden Werken (“Mural”) – er weiß, wie lange der Künstler gebraucht hat, um sein Bild an die Wand zu bringen (je schneller, umso beeindruckender). Wer zu Hause alles vorbereitet und draußen nur noch anklebt, verdient weniger Respekt, als der, der vor Ort sein Werk kreiert und seine Technik beim Aufbringen der Farbe bei Wind und auf Leitern hangelnd beherrscht. Gregory weist uns auf einige hässliche und technisch einfache Bemalungen hin, die nur aufgrund ihrer Lage (“heavens spot”) hoch oben an Gebäuden dem Sprayer Respekt einbringen (weil risikoreich).

“MSK”-tag unter dem Geländer bringt Respekt ein. Die pinke Schrottkarre unter Plastikverschlag stammt von Banksy.

Manche der Street Artists sind so berühmt, dass sie ganz konventionell zu Ausstellungen in Galerien eingeladen (und bezahlt) werden. Er zeigt uns zwei Wände mit (frischen) Bemalungen von etablierten Straßenkünstlern, die hiermit ihre aktuellen Ausstellungen bewerben. Gregory hat Hochachtung vor diesem “Helium”-Künstler, der sein Werk unter Zeitdruck in nur zwei Tagen auf die Wand gebracht hat.

Mit den Helium-Buchstaben hat der Künstler FANACAPAN seinen eigenen Stil entwickelt.

Mancher Sprayer holt sich die Erlaubnis der Hausbesitzer ein, die meisten sprühen jedoch illegal.

Ein beeindruckendes Werk (mit Genehmigung). Hier hat der Künstler die Struktur der Fassade (Schornsteine) für einen 3D-Effekt seines Bildes benutzt.

Begehrt und doch verachtet sind die Auftragsarbeiten. Gerade gestern fertig gestellt ist eine Werbung für die Netflix-Dokumentation “Our Planet”. Hier haben drei Street Artists zusammen gewirkt und ihr Werk signiert. Einer der Künstler steht in der Tür vom Pub gegenüber und Gregory begrüßt ihn mit Handschlag.

Später sehen wir eine weitere Auftragsarbeit (für Gucci mit Andy-Warhol-Motiv), die Künstler stehen gerade auf dem Gerüst und legen letzte Hand an – ob sie ihre Wandbemalung signieren werden? Wer sich vom Kommerz einfangen lässt, ist ein “sellout”, er erntet Spott und Verachtung in der Community. Deshalb erledigten einige der Sprayer ihre Auftragsarbeiten maskiert und ohne Signatur, um sich die Schande zu ersparen.

Auftragsarbeit von Gucci: 3-facher Andy Warhol entsteht gerade im Hintergrund

Die Community hat das Territorium fest im Griff. Hinterlassen Sprayer von außerhalb ihre “tags” oder Bilder an den Wänden, werden sie in der nächsten Nacht sofort wieder übersprüht. Nur, wer sich hier den Respekt durch seine unermüdliche Arbeit erworben hat, wird geduldet. Wenn man über das Bild eines andere drüber sprayen will (“crossen”), gehört es zum guten Stil, das Bild des anderen komplett auszulöschen (mit Grundierung übermalen, bevor man selbst etwas Neues anbringt). Wenn einer den anderen übermalt, muss das neue Werk besser sein, als das Übermalte. Sonst übersteht es nicht die nächste Nacht.

Wer entscheidet über die Qualität? Anders, als in der konventionellen Kunstwelt, entscheiden hier nicht Galeristen, Kritiker und Käufer über den (künstlerischen und materiellen) Wert eines Werks. Es ist alleine die Eigendynamik der Sprayer-Gemeinschaft, die ihren ungeschriebenen Gesetzen folgt. Es gibt Hierarchien und Meinungseminenzen. Freiheit ist eine Illusion. Der Sprayer lehnt sich gegen das Establishment auf, muss sich aber gleichzeitig den Regeln der Szene unterwerfen. Sie bilden eine sehr ausgereifte Subkultur, die sich am Puls der Zeit bewegt und in der ihre Mitglieder sich ständig im Kampf (“battle”) miteinander befinden. Sie kommen mir wie Street Gangs vor, die ihre Revierkämpfe mit Spraydosen anstelle von Messern austragen.

Natürlich kommt Gregory auch auf Banksy zu sprechen – der wohl bekannteste aller Street Artists. Auf unserer Tour sehen wir eine pink bemalte Schrottkarre auf einem Dach und eine wiederhergestellte Wandbemalung hinter Glas (wie im Museum) an der Fassade eines Cafés. Banksy sei nur ein mittelmäßiger Künstler (so die Bewertung von Gregory), seine Popularität begründe sich aus seiner guten Auswahl der Orte für seine Werke und einer cleveren Selbstvermarktung (wie jüngst der medienwirksame Publicity-Stunt des geschredderten “girl with balloon” während der Versteigerung bei Sotherbys).

Nach zwei Stunden Rundgang verabschiedet sich unser Guide (vorher füllt sich seine Hand noch mit 10-Pfund-Noten). Wieder zuhause bekomme ich eine E-Mail von Gregory, wo er (ganz geschäftstüchtig) um eine gute Online-Bewertung seiner Tour bittet, seine facebook und instagram (@Aciz82)-Seiten nennt und sogar vier Fotos seiner Streetart beifügt – ganz so anonym möchte er wohl doch nicht bleiben. Ein Künstler braucht sein Publikum, um Anerkennung zu erfahren.

Meine Eindrücke aus der Sprayer-Szene habe ich in dieses Gedicht gesprüht:

street respect

meine sneakers auf dem asphalt

lautlos

zwischen den leuchtkegeln der laternen

verborgen

unter meiner kapuze

helle nase, dunkle augen

im rucksack klappern meine cans

molotow, kobra und montana

mein finger am sprühknopf

skinny, medium und fat

ich beherrsche jede technik

aus dem handgelenk gegen den wind

klopf klopf am nachmittag an einer haustür

“darf ich auf ihre hauswand sprayen?”

“nein”

“kein problem”

ich komme wieder in der nacht

auf sneakers unter meiner kapuze

die wand ist meine neue welt

ich bin ihr kapuzen-kolumbus

mein “tag” ist meine fahne

ich schreibe meine markierung

an die mauern meines viertels

an die mauern deines viertels

an die mauern aller viertel dieser stadt

ich gehe “all city”

tag tag – all night – all city

schreibe mich ein in den kreis der brüder

dreißig tags in einer nacht

seht meinen einsatz, seht meine hingabe

mein tag ist meine währung

bezahle meinen eintritt

in den außenring der ringe

ich bombe die fassaden

werde gebustet von den bullen

bald kennen meine brüder meinen tag

sie kennen meine schrift, sogar mein gesicht

graffiti war gestern, streetart ist heute

ich finde meinen style

der fuchs ist mein character

drei nächte für mein erstes mural

ein echter burner, finden meine brüder

hänge kopfüber vom hausdach

mein leben in der hand eines freundes

sprühe mich in den heavens spot

seht meinen mut, gebt mir euren respekt

shoreditch hat mich aufgenommen

freestyle bringt mir fame

heute crosse ich über ein mural von tizer

tizer überspüht morgen mein werk

der battle ums territorium ist on

mutiny sprayed für netflix

er ist ein sellout – shame on you!

ich spraye ohne bezahlung

respekt ist meine belohnung

tag tag – all night – all city

Die Welt auf einer Seite

Ich habe genau eine Seite, um die Autorin Katja Lange-Müller davon zu überzeugen, mich in ihre Prosa-Meisterklasse aufzunehmen. Auch dieses Jahr möchte ich wieder beim Schwäbischen Kunstsommer mit dabei sein – diesmal aber nicht mit Lyrik.

Das kann doch nicht so schwer sein, eine Seite bekomme ich locker hin – denke ich optimistisch. Ich schaue mir die Vorgaben in der Ausschreibung genauer an. Die Meisterin verlangt “eine Figuren- oder Tierbeschreibung oder Beschreibung einer Szene, die sich zwischen zwei, drei Menschen oder zwischen Mensch und Tier abspielt”. Es gehe ihr um eine literarische Skizze “nach der Natur”, es soll etwas “Lebendes” abgebildet werden.

Als Musterbeispiel nennt sieDas Fliegenpapier” von Robert Musil. Hier beschreibt er parabelhaft den Todeskampf von Fliegen auf dem klebrigen Papier und spannt dabei den Bogen um die gesamte menschliche und gesellschaftliche Existenz.

Nachdem ich Musils Text gelesen habe, erscheint mir die vor mir liegende Aufgabe doch um einiges schwieriger. In wenigen Worten gilt es, eine tiefgründig Botschaft zu vermitteln, symbolhaft und verschlüsselt. Auf der Inhaltsebenen muss ich Interesse für die Figuren wecken, Spannung erzeugen, vielleicht sogar mit Humor garnieren?

Im Kopf krame ich tagelang nach Gegenständen, die eine Geschichte erzählen. Brautschuhe vielleicht? Schachfiguren (die schwarze Dame alleine auf dem Spielfeld mit einem weißen Springer)? Dann denke ich an Fundgegenstände bei der Versteigerung der DB. Ein kaputter Regenschirm wünscht sich einen neuen Besitzer…

Dann schweifen meine Gedanken zu fantastischen Tieren (bitte kein drolliger Mops oder verspielte Miezekatze, ermahnt Frau Lange-Müller in der Ausschreibung). Mir kommt die Idee zu einem Vogel mit Flugangst oder Singvogel mit Lampenfieber, einem Igel, der sich anstelle seiner Stacheln eine weiche Haut wünscht, ein vergessliches Eichhörnchen. Wie wäre es mit einem Bücherwurm, der keine Buchstaben mag?

Am Samstag schreibe ich meine Geschichte über den Regenschirm – die sich beim Schreiben doch ganz anders entwickelt. Am Sonntag wende ich mich den Bücherwürmern in der Bibliothek von Sir Henry zu. Da meine Abreise am heutigen Montag nach London bevorsteht, zieht sich das britische Flair ein wenig durch meine Geschichten. Auch thematisch gibt es eine gewisse Verwandtschaft unter den Geschichten.

Hier also meine zwei Texte. Was haltet ihr davon? Welchen soll ich einsenden (ich muss mich für einen entscheiden)?

Text 1:

Aufgespannt

Bis zu jenem Tag im April war Mr. Chapmann niemals ohne seinen Regenschirm aus dem Haus gegangen. Seinen Weggefährten aus Kirschholz und rotem Nylon trug er stets ohne Rücksicht auf das Wetter mit sich. Vor dem Öffnen der Haustür richtete er seine blauen Augen unter buschig weißen Brauen im stummen Gruß auf den schlanken Eintänzer im Schirmständer. Dort stand der Schirm bereit, mit stolz hochgerecktem Hals, auf dessen Ende ein Löwenkopf aus Elfenbein thronte. Mr. Chapmans linke Hand fand den Knauf mit der Sicherheit eines Tänzers in einer gut geprobten Choreografie. Die Wellen der Löwenmähne schmiegten sich in die weichen Falten seiner linken Handinnenfläche. Seine runden Finger umschlossen den Kopf des Löwen, die Kuppe des Mittelfingers legte sich zwischen die Wölbungen von Nase und Stirn des Wüstenkönigs. So gerüstet ging Mr. Chapman auf die Straße, immer mit dem Hut auf dem Kopf, den Mantel zugeknöpft. Der Regenschirm schwang im Takt seiner Schritte, die Spitze setzte gleichzeitig mit dem linken Fuß auf. Der Klang, mit dem die messingumhüllte Schirmspitze auf den Boden stieß, offenbarte klopfend oder knirschend die Beschaffenheit des Untergrunds. Ob Asphalt, Steinplatte oder Sandweg – die Schirmspitze war seine Kompassnadel. Der Schirm ließ ihn aufrecht voran schreiten, mit dem Gang eines Mannes mit Ziel und Bestimmung. Es gab keine Ablenkungen für ihn am Wegesrand, keine Verwicklungen oder Verwirrungen. Diesen Zweck erfüllte der Schirm jedoch am besten, wenn er geschlossen blieb. Aufgespannt würde er der Willkür des Windes ausgesetzt sein. Nein, der Schirm blieb zu. Kein Wind würde jemals an den zarten Metallspeichen rütteln und ihre Gelenke brechen. Weder Wasser, noch Sonne würden an der saftigen Röte des Stoffes lecken. Nur in seiner Geschlossenheit konnte der Schirm seine Vollendung erreichen und seinen Träger sicher tragen.

An jenem Morgen im April jedoch, als Mr. Chapman erstmalig ohne Schirm aus dem Haus lief, flogen seine Haare hutlos im Wind, seine Mantelschöße flatterten. Seine langen Schritte trugen ihn unsicher zum Bahnhof – dem Sohn entgegen, den er seit 30 Jahren nicht gesehen hatte – ohne Schirm und mit geöffneten Armen.

Text 2:

Zwischen den Zeilen

“Zutritt privat” steht auf dem Messingschild der hölzernen Flügeltür zur “Jedermann-Bibliothek” von Sir Henry. Hier gibt es Bücher für jeden Geschmack. Im Kabinett reichen die Regale bis zur Decke. Die Luft steht still und schwer im Dämmerlicht. Die ledrigen Buchrücken sind von jahrelangem Stillstehen gebeugt und rissig. Würde endlich ein lesehungriger Besucher eintreten und eines der Bücher hervor ziehen, würde er große Augen machen: Auf fast allen Seiten der Bücher fehlen Buchstaben. Denn seit einiger Zeit lebt hier eine Familie von Bücherwürmern. Wotan und Wilma Wurm emigrierten in die Bibliothek mit der Encyclopaedia Britannica aus dem Jahr 1887. Sir Henry stellte seine Neuerwerbung neben die Brockhaus-Reihe, schnalzte zufrieden mit der Zunge und überließ die Bücherkammer wieder ihrem Eigenleben. Wilma und Wotan wurmten sich zuerst quer durch die britische Kunst und Wissenschaft und futterten sich alsbald durch exotischere Werke. Während Wilma eine Vorliebe für die geschmackvoll ausgereiften Sätze von Dostojewski entwickelte, fand Wotan seine Lieblingsbuchstaben in den französischen Klassikern. Besonders das blumige Aroma der Akzente über den Buchstaben waren ihm ein Genuss. Es dauerte nicht lange und sie bekamen eine Schar bücherbegieriger Kinder. Die Jüngste jedoch machte ihren Eltern Sorge: Lola kroch mit ihrem hellen schlanken Leib durch die gesammelten Werke von Thomas Mann und hatte dabei keinen einzigen Buchstaben verzehrt. Sie knabberte nur am unbedruckten Papier zwischen den Zeilen.

“Ich mag keine Wörter, sie schmecken so eindeutig”, jammerte Lola.

“Die Wörter sind die Essenz des Buches”, rief Mutter Wilma und rollte sich auf.

“Wörter weisen dir den Weg”, sagte Léa, eine ältere Schwester, die sich seit Monaten durch Musils “Der Mann ohne Eigenschaften” biss.

“In den Wörtern liegt die Wahrheit”, murmelte Bruder Ben.

“Wie kannst du den Sinn der Sprache auskosten, wenn du ihre Wörter nicht in dich aufnimmst?”, fragte der Vater.

“Der Geschmack ergibt sich aus den fehlenden Wörtern”, beharrte Lola und nahm einen weiteren Happen von zwischen den Zeilen.

Bin gespannt auf euer Feedback. Bis zum 19. April habe ich noch Zeit für die Auswahl des Texts und ggf. Feinschliff. Vielleicht möchte sich jemand von euch auch beim Schwäbischen Kunstsommer bewerben… Würde mich total freuen, liebe kreative Gefährt*innen dabei zu haben.

Update 29. Mai 2019:

Heute habe ich Post bekommen: Ich bin in die Prosa-Meisterklasse aufgenommen worden. Freue mich riesig! Wer möchte, kann den finalen Text meiner Bewerbung nachlesen – einfach den folgenden Link aktivieren: Bewerbung Kunstsommer_Prosa_final

Madame Viola und die vergessene Stunde

Wer kennt sie nicht, die blaue Stunde zwischen 2 und 3 Uhr nachts, wenn die Welt sich ein wenig langsamer zu drehen scheint, es stiller wird und der Mond seine silbernen Fäden durch die Nacht spinnt.

Aber kennst du auch die lila Stunde? Sie gibt es nur 1 Mal im Jahr – wenn die Menschen die Zeiger der Uhr mit der Macht der Willkür um eine Stunde vorstellen und damit den Sommermodus einschalten, auch wenn die Natur noch lange nicht so weit ist. Falls du denkst, diese übersprungene Stunde gäbe es nicht, dann hast du dich getäuscht. Es ist die Stunde von Madame Viola.

Madame Viola ist hellwach in dieser lila Stunde, einer Stunde die außerhalb der Zeit liegt. Einer Stunde, die sich ewig dehnt, um dann in einem Moment zusammen geschoben zu werden wie eine Ziehharmonika zu einer Millisekunde. Wenn du genau hinhörst, kannst du diesen Ton und den Luftzug spüren, der beim Zusammenschieben der lila Stunde entsteht. Das Seufzen von Madame Viola duftet nach Lavendel. Das Besondere an der lila Stunde ist, dass in ihr alles passieren kann. In der lila Stunde sind alle Handlungen bedingungslos, bedenkenlos, sorgenlos – aber nicht bedeutungslos.

In dieser li-la-lo’sen Stunde treibt Madame Viola mit Vorliebe ihre Spiele im Gegenstrom der Zeit. Sie lässt die Regentropfen aufwärts fallen und dreht alle N E B A T S H C U B auf Links. Wenn Madame Viola übermütig wird, holt sie die Sonne hinter dem Horizont hervor und weckt die Vögel für ein Morgenständchen auf. Sie lässt die Katze bellen und den Hund miauen. Der Maulwurf wird zum Hellseher und der Wolf zum Veganer.

Sie kommt in dein Schlafzimmer, sammelt deine vergessenen Träume ein und hängt sie zum Trocknen auf die Leine. Sie hat eine bunte Sammlung dieser Traumfetzen, die sie kichernd in neuen Kombinationen zusammen näht und den arglosen Schläfern in der lila Stunde überzieht. Wenn du also einen Traum aus Kettenhemd, Schafspelz, Filzflicken und Silberfäden träumst, dann weißt du, wer dich darin eingehüllt hat.

Dann kommt der unausweichliche Moment, in dem der kurze Zeiger der Uhr den Stundensprung macht und die lila Stunde zusammendrückt auf dem schwarzen Balken der Vergessenheit. Aber glaube mir, es hat diese Stunde gegeben! Vielleicht kannst du noch den Duft von Lavendel riechen. Vielleicht entdeckst du eine sonnengoldene Strähne in deinem Haar. Vielleicht findest du Moos zwischen deinen Zehen vom Tanz auf der Waldlichtung. Madame Viola bewahrt alles auf, was in der lila Stunde geschehen ist.

Creative Commons. René Magritte: “L’empire des lumières”

“Geschafft” – Blogparade BKS 13

Anna, eine Mitstudierende aus meinem Studiengang “Biografisches und Kreatives Schreiben” (BKS) an der ASH Berlin, hat zu einer Blogparade eingeladen. Das Thema lautet: “GESCHAFFT”. Gerne reihe ich mich mit diesem Beitrag in die Parade ein.

Was habe ich in letzter Zeit geschafft? Da fällt mir sofort mein Roman “Bei Stromausfall Liebe” (früherer Arbeitstitel: Blackout) ein. Seine Ursprünge hat die Geschichte in der Romanwerkstatt meines Studiums im Sommer 2018 – dort habe ich das Setting des Stromausfalls in Frankfurt am Main und die Figuren entwickelt und die ersten 15 Seiten geschrieben. Im November unter dem Ansporn des NaNoWriMo ist meine Geschichte an 30 sehr intensiven Schreibtagen zu einem vollständigen Roman gewachsen. Ein paar letzte Szenen Anfang Dezember und fertig war die erste Fassung.

Im Januar habe ich das Manuskript an Testleserinnen und -leser gegeben und von dreien ein sehr detailliertes und hilfreiches Feedback bekommen. In den letzten zwei Wochen habe ich mich dann in die Überarbeitung gestürzt. Hier habe ich den barocken Überschwang an Bildern und Metaphern heraus gestrichen und auch sonst versucht, Dialoge zu straffen und Füllwörter und inhaltliche Wiederholungen zu eliminieren.

Das war eine ganz schön intensive Arbeit am Text, nicht ohne Schmerzen. Die Devise von Steven King: “Kill your darlings” ging mir ständig durch den Kopf – ja, manchmal sind es gerade meine Lieblingsformulierungen, die der Schere zum Opfer fallen müssen. Dann habe ich noch ein bisschen am dramatischen Aufbau gerückt (einige Szenen zu Beginn in der Reihenfolge vertauscht, so dass die Hauptfigur Natasha im Einstieg präsenter ist). Und zu guter Letzt habe ich noch eine kleine Szene hinzu geschrieben, in der der Wiener Witwer (den man sonst nur durch seine Briefe kennenlernt und in einer Begegnung in einem Lebkuchenladen mit Banker Robert) in der Neuen Altstadt mit Yul, dem jungen Fahrradkurier, zusammen trifft – diese Verflechtung der Figuren hat meinen Testleser*innen gefallen und deshalb habe ich einen Nachschlag davon spendiert.

Dann war mein Manuskript bereit für den nächsten großen Schritt: Vor ein paar Tagen habe ich mein Werk (nebst Exposé, an dem ich auch ganz schön getüftelt habe) an einen etablierten Berliner Literaturagenten und an eine Agentin bei mir aus der Nachbarschaft gesendet. Jetzt heißt es abwarten und hoffen. Wird mein großer Traum von einer Veröffentlichung in einem Publikumsverlag irgendwann wahr werden? In einigen Wochen werde ich professionelle Einschätzungen zur Qualität und Vermarktbarkeit meines Manuskripts bekommen. Bin sehr gespannt! Immerhin habe ich es bis hierhin GESCHAFFT.

Meinen Schaffensprozess habe ich in einem Gedicht ausgedrückt, das ich der sprachlichen Einschränkung (“contrainte”) unterworfen habe, dass in jeder Zeile mindestens ein Wortelement aus GE-SCH-AFFT vorkommen muss – mit kleiner orthographischer Freiheit. Viel Vergnügen:

Ge-sch-afft

Ich habe geträumt von einer Geschichte

gespickt mit heldenhafften Figuren

gewürzt mit schurkenhafften Spielern

habe meine Ideen gewogen und verschoben

habe geschrieben und geschrieben

habe mich zu zuweilen gewunden und geschunden

aus meiner Schreibtischhafft sind

Buchstaben geflohen auf gebleichtes Papier

mal geisterhafft mal meisterhafft

haben sich beispielhafft verbunden

zu gesunden runden Gestalten

gestrickt von Masche zu Masche

zu einer romanhafften Handlung

bis zum gebührend glaubhafften Finale

Geschafft?

Nein, noch war nicht alles gelungen

habe alle Wörter gewendet und geräumt

gestrichen und gebrannt bis zur Asche

was zu bildhafft und zu geladen

klischeehafft und gebläht

Nun liegt das Werk seitenhafft vor mir

Eine Frage bleibt geflüstert und gerufen:

Gefällt es meiner Leserschafft?

Fühlt sich so der Jubel “geschafft” an?

Doch eher so! Geschafft – Romangipfel erklommen!

STILLvester

“Silvester – niemand will mich haben,”

flüstert die Stille mit gesenktem Kopf,

“verschmäht werden meine Gaben,

überflüssig bin ich wie ein Kropf.”

 

“Heute lassen wir es krachen,”

ruft ein Mensch mit schweren Tüten

“Feiern, saufen, grölen, lachen,

vor der Stille muss man sich hüten.”

 

Im Supermarkt greifen gierige Hände

nach Chinaböllern und Raketen,

zittern sollen Ohren und Wände,

wir verballern maßlos lose Moneten.

 

Vorsätze fassen und zum Lidl hasten,

fehlt noch der Käse zum Fondue.

Nen Kasten Bier ist nix zum Fasten.

Gute Stimmung gegen böse Geister hollerhü.

 

“Hört mich denn keiner, wenigstens einer?”,

säuselt die Stille und hebt ihren Blick.

Knall – ha ha – da jault ein Vierbeiner.

“Rutschen wir rein mit Wumm im Genick!”

 

Glanz und Getöse erhellen das Firmament

zwischen blassen Sternen und Mond im Wolkenkleid.

“Verschwinden will ich bis mich einer erkennt,”

sagt die Stille und niemand hört ihr Leid.

 

Grauer Kater schleicht im Morgendunst.

Blei im Kopf und in den Gliedern.

Im neuen Jahr wird alles Kunst.

Singen neue Texte zu alten Liedern.

 

Vögel schweigen – haben Tinnitus,

Hunde kläffen, Herrchen schnarcht,

Tellerstapel in der Spüle, Tiefstand im Spiritus,

Straßen tragen Schlachtfeldtracht.

 

Gähnen, recken, strecken Finger nach den Tasten:

TV, Radio und Phone – PLAY ON – PLAY ON.

“Pfeifen wir auf Ohrensausen, wozu rasten?”,

ruft ein Mensch, gegen Zweifel hilft der Ton.

 

“Frohes Neues”, hallt es aus vielen Mündern.

Was heißt das? Schon verklungen und vergessen.

Im Schall müssen sie keine Gedanken plündern.

Abseits wandert die Stille ohne Rückkehradressen.

 

“Ach, wäre doch nur einmal STILLvester!”