Essay “Always on” (Linda Budde)

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Beitrag zur Blogparade “Lernwelten 2030”

Essay von Linda Budde (Leibniz Universität Hannover)

Always on: ein Studierendenleben der Zukunft

„Für die Bearbeitung der Klausur haben Sie 90 Minuten.  Haben Sie nichts auf dem Tisch, außer Ihrer Klausur, ein paar Stifte und einen nicht grafikfähigen Taschenrechner. Drehen Sie Ihre Klausurbögen erst um, wenn alle eine Ausgabe erhalten haben.“ Es liegt eine konzentrierte Anspannung im Klassenraum. Maleika lächelt mir ermutigend zu. In 90 Minuten werden wir unsere letzte Abiprüfung geschafft haben und frei sein. Der Uhrzeiger klickt lautstark auf die 12. „Umdrehen bitte! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!“

10 – 9 – 8 – . Das Herunterzählen eines Countdowns lässt mich aus meinen nostalgischen Gedanken an meine Schulzeit aufschrecken. Oh Mist, gleich geht’s los. Klausur in Statistik und Datenanalyse. Ich richte mich an meinem Schreibtischstuhl noch einmal auf, lasse den Blick noch ein letztes Mal durch mein Zimmer schweifen und versuche, mich auf die gelernten Inhalte zu konzentrieren. 7 – 6 –5. Mein Puls steigt. Ich fühle mich wie im Startblock. Als müsste ich beim Ablauf des Countdowns lossprinten. Habe ich genug gelernt? 4 – 3 – 2. Mit einem lauten Piepen erscheint eine große, rote Null auf dem Bildschirm: Es geht los! Blitzartig verschwindet die Countdownanzeige auf meinem Laptop und die Klausur erscheint. Hektisch überfliege ich die Seiten und werde panisch. Meine Augen bleiben an Sätzen hängen wie „Berechnen Sie Chi-Quadrat und leiten Sie, je nach Tabellenformat, Phi oder Cramers V ab.“ Phi? Phi? Was war noch mal Phi? Unwillkürlich schiele ich zum anderen Ende meines Zimmers; direkt vibriert die Eyetrackingbrille auf meiner Nase als Warnung, den Blick auf den Bildschirm zu belassen. Mein rotgepunkteter Rucksack mit meinen Aufzeichnungen lehnt dort im Türrahmen. Die Lösung ist so nah und doch so fern. Unvorstellbar, dort nachzusehen. Die Augen müssen auf den Desktop gerichtet sein, denn ein mehr als 5-sekündiges Wegschauen wird als Täuschungsversuch gewertet.

Die Timeranzeige am rechten unteren Rand meines Desktops zählt unbarmherzig die Minuten runter. Beinahe sehne ich das Ablaufen der Uhr und damit Ende dieses Desasters herbei, obwohl das bedeutet, den Kurs im nächsten Semester noch einmal wiederholen zu müssen. Naja, dann ist es halt so, denke ich mir und muss beinahe lächeln bei dem Gedanken, welchen Luxus ich mir gönnen kann. Durch die Dezentralisierung des Unibetriebs sind die Unigebühren so lachhaft günstig geworden, dass es auf ein Semester mehr oder weniger auch nicht mehr ankommt.

Die bekannte, elektronische Stimme aus meinem Laptop verkündet das Ende der Klausur. Mit nur wenigen Sekunden Verzögerung erhalte ich bereits die Bewertung: „Erreichte Punktzahl: 23 von 100; Note 5,3; Ihre Note liegt unter dem Durchschnitt von 3,5; Ihr Ergebnis gilt als nicht bestanden. Bei Anfechtung des Ergebnisses rufen Sie bitte das ServiceCenter an unter…“. Ich klappe meinen Laptop zu, was die Stimme abrupt verstummen lässt.

Foto von  Andrea Piacquadio, frei nutzbar nach Pexels Lizenz

Puh! Erschöpft lasse ich mich im Stuhl nach hinten sinken, nehme die Eyetrackingbrille ab und atme tief durch. Ich spüre, wie mein Nasenbein pulsiert, da, wo die wuchtige Brille saß.

„Leila, mach mir einen Latte Macchiato!“ rufe ich meiner sprachgesteuerten Kaffeemaschine Leila zu, was sie mit baldigem Knacken und Zischen quittiert. Kaum ein Gadget in meiner Studibude ist nicht mit dem Smarthome-System verbunden – oder ist namenlos. Es kommt mir manchmal so vor, als würde ich mehr mit Maschinen als mit Menschen sprechen.

Wie als Dementi meines Gedankens fängt mein Handgelenk an zu sprechen – oder besser gesagt die schicke schwarze Smartwatch, die sich daran befindet: „Eingehender Anruf von Maleika. Anruf annehmen oder ablehnen?“ Ich blicke auf den Screen der Uhr und sehe, wie mich Maleika auf dem Kontaktbild anstrahlt. Ich schmunzle bei dem Gedanken, wie das Bild entstanden ist. Zur Feier des letzten Schultages sind wir zu Luigi, der besten Eisdiele, die es überhaupt gibt, gegangen. Wir beide haben uns wie Schneeköniginnen gefreut, den alten Bunker, der sich Schule nennt, endlich den Rücken zuzukehren. Die Stimmung, die Sonne auf der Haut: Die Erinnerung wirkt so plastisch, dass ich beinahe den Eindruck habe, den Geschmack von Joghurt-Maracujaeis auf der Zunge zu schmecken. Ich nehme den Anruf an.

„Hey Nora! Mensch, was war das denn gerade?!“ begrüßt mich Maleika mit ihrer typischen, direkten Art. Klar, hat sie mein Klausurergebnis schon im Intranet der Uni gesehen. Das hätte ich mir denken können. Seit dem Zusammenschluss aller deutschen Unis zu einer virtuellen Deutschlanduniversität vor zwei Jahren, sind alle Studierenden an der gleichen, da einzigen, Uni eingeschrieben. Die Universitätsleitung hat kürzlich beschlossen, die Klausurergebnisse für alle transparent ins Intranet zu stellen, um den sozialen Druck unter Kommilitonen zu erhöhen, um sie zu besseren Leistungen anzuspornen. Damit folgen sie dem erfolgsträchtigen amerikanischen Vorbild, haben sie in ihrer Ankündigung dessen stolz verkündet.  Sieht man ja, wie angespornt ich davon werde. Und noch schlimmer: Seit dem geht das mit Maleika immer so.

„Totales Blackout“ antworte ich genervt. Dass sie den Finger aber auch immer in die Wunde legen muss. Das war schon in der Schule so. Ich ärgere mich nicht mal über meine Leistung. Ich ärgere mich darüber, dass alle meine Leistung kennen und mich deshalb zur Rechenschaft ziehen. Auch wenn ich weiß, dass Maleika mich nur foppen will, brodele ich innerlich.

„Och Mensch, wie kacke!“ sagt sie jetzt doch versöhnlicher, als sie meine Laune bemerkt. „Lass uns doch das nächste Mal einfach zusammen lernen. So wie früher!“

„Ja, früher konnten wir uns aber auch persönlich treffen. Seit du nach der Schule von Lüneburg nach Konstanz gezogen bist, sehen wir uns kaum noch! In real life, mein ich.“

„Die lange Fahrt macht man halt nicht mal spontan für einen Nachmittag. Aber lass uns doch noch mal ein Mädelswochenende zusammen planen. Was hältst du davon?“

„Okay, aber nur, wenn wir da sicher nicht lernen!“ antworte ich ihr lachend. Wir quatschen noch eine Weile über dies und das, während ich meinen Latte Macchiato schlürfe. Als wir auflegen fällt mein Blick auf die Uhrzeit. Mist, schon viertel nach vier! Um 17 Uhr treffe ich mich mit meiner Arbeitsgruppe und vorher muss ich noch alles Mögliche recherchieren! Auch wieder so ein genialer Einfall der Uni: Damit unsere Sozialkompetenz in Zeiten des virtuellen Lernens nicht zu kurz kommt, sind zwei Gruppenarbeiten pro Semester verpflichtend. Augenrollend frage ich mich, wie es das Schicksal nur so böse mit mir meinen konnte, dass ich ausgerechnet in der Arbeitsgruppe „Vom Kern zu Kruste – Der Aufbau unserer Erde“ gelandet bin.

Seufzend klappe ich meinen Laptop auf. Nach ein paar Klicks strahlt mich das moderne Design der virtuellen Bibliothek an. Der Cursor blinkt bereits in der Suchleiste. Ich aktiviere meinen VPN, gebe den Buchtitel in die Leiste ein und lade mir in Sekundenschnelle die Literatur runter. Wahnsinn! Ich bin immer wieder beeindruckt, von der Schnelligkeit des Datentransfers! Und die Auswahl an Büchern erst, die sich sogar mit einem Klick in jede beliebige Sprache übersetzen lassen!

Als ob mein Geist sich gegen die Vorteile der technisierten Welt sträubt, lässt er mich sehnsüchtig an den erdigen, irgendwie beruhigenden Geruch von Büchern aus Papier denken. Ich atme tief ein, doch alles, was meine Sinne wahrnehmen, ist das leise, gleichmäßige Brummen meines Laptops. Kurz bevor sich mein Unterbewusstsein dazu entscheidet, den Verlust von Papierbüchern traurig zu finden und diese Information an meine Emotionen zu leiten, fällt mir zum Glück ein, was meine Mutter mir aus ihrer Studienzeit berichtet hat: Ihre Ausführungen handelten von vergriffenen Bücher, ausgerissenen Seiten und Mahngebühren bei verstrichenen Leihfristen. Als sie mir letztens am Telefon davon erzählt hat, kam es mir fasst vor, als würden wir in verschiedenen Welten leben. Unwillkürlich sehe ich sie vor meinem inneren Auge im Lesesaal einer Bibliothek sitzen, den Blick konzentriert auf die Buchseiten gerichtet. Manchmal lässt sie ihren Blick durch die Fenster in den Park schweifen, wo sie sich nach dem Lernen mit ihren Freunden trifft.  Auf einmal nervt mich das Brummen meines Computers.

 

Information zur Autorin

Linda Budde ist seit April 2019 Mitglied des MELT-Teams, hat einen Bachelorabschluss in Medienmanagement und studiert im 2. Semester Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover. Webseite MELT: https://www.zqs.uni-hannover.de/de/elsa/studium-digital/melt/

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