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Beitrag zur Blogparade “Lernwelten 2030”
Essay von Tim Scherer (Technische Universität Kaiserslautern)
Digital ist die Welt, leer sind die Köpfe
Wie sieht die Zukunft der Bildung an Hochschulen im digitalen Zeitalter aus?
Das Hochschulforum Digitalisierung schreibt auf seiner Website: „Wir betrachten sie [die Digitalisierung] nicht als unaufhaltsame Naturgewalt, sondern als einen Transformationsprozess, den es gemeinsam zu gestalten gilt.“
Gestalten, kontrollieren, implementieren, davon wird gesprochen, wenn von Digitalisierung an Hochschulen die Rede ist. Kaum einer kommt jedoch auf den Gedanken, dass es in bestimmten Situationen auch sinnvoll sein kann, Prozessen zu bremsen, zu verzögern oder sogar ganz auszusetzen. Wer so argumentiert, wird schnell als erzkonservativer Technikverweigerer oder Maschinenstürmer verlacht.
„Aber die Digitalisierung ist doch da!“, „Was ist mit unserer Wettbewerbsfähigkeit?“, „Wenn wir es nicht tun, dann machen es andere!“, um nur mal ein paar klassische Totschlagargumente zu nennen, die an dieser Stelle einen offenen und emanzipierten Dialog bereits im Keim ersticken.
Und doch bin ich der festen Überzeugung, dass genau diese Schritte der Entschleunigung, Reflexion und Reduktion auf das Wesentliche notwendig sind, wenn wir über die Zukunft der Hochschulen im digitalen Zeitalter sprechen. Ein solcher Dialog ist angesichts der enormen gesellschaftlichen Relevanz der Hochschulen unumgänglich. Ja, wir müssen nach meiner Einschätzung verzögern, genauer filtern und selbstbewusst entscheiden, ob und wenn ja, wie viel Digitalisierung wir in unseren universitären Bildungseinrichtungen zulassen wollen oder eben nicht.
In diesem Essay werde ich anhand einiger Aspekte erläutern, wieso ich bezüglich dieses Themas denke, dass „weniger“ Digital(kultur)technik in der Bildung ganz klar „mehr“ wäre.
Das eingangs zitierte Hochschulforum Digitalisierung präsentiert weiterhin „20 Thesen zur Digitalisierung der Hochschulbildung“. Die zweite These lautet wie folgt: „Der intensivere Wettbewerb im globalen Hochschulmarkt fordert von den Hochschulen eine ganzheitliche Kommunikations- und Marketingstrategie.“ In den weiteren Abschnitten wird genauer erklärt, um was es geht: neue Konzepte zur Vermarktung der eigenen Bildungsangebote, eine Dynamisierung des Wettbewerbs, etc. Es geht um Gewinn, Effizienz, Wetteifern.
Genau darin spiegelt sich nach meinem Dafürhalten der erste Strukturbruch zwischen Bildung und Digitalisierung wider. Der ökonomische Charakter des Digitalen, aber auch der bereits herrschende Wettbewerb zwischen den Universitäten besitzen ganz andere Ziele als „Bildung“ im – aus meiner Sicht wünschenswerten – humanistischen Sinne.
Auf der einen Seite haben wir Begriffe wie „Markt, Effizienz, schneller, besser, geiler“. Auf der anderen Seite haben wir den Kern von Bildung. Diese ist persönlich, zeitintensiv, im Idealfall Zweck an sich und immer auf den einzelnen Menschen ausgerichtet.
Wer Bildung vermehrt zu einem Wettkampf mit Prestigegedanken macht, versündigt sich an eben dieser Bildung. So sehen es auch verschiedene Intellektuelle, wie beispielsweise der Philosoph und Professor für Medientheorie Byung-Chul Han. Dieser konstatiert:
„Die Information liegt einfach vor. Das Wissen im emphatischen Sinne ist dagegen ein langsamer, langer Prozess. Es weist eine ganz andere Zeitlichkeit auf. Es reift.“ (Han, 2016, S. 10)
Man kann nicht einerseits frei denkende, sich aus eigenem Antrieb bildenden Studierende wollen, ihnen dann aber ein Instrumentarium an vermeintlichen Lernbeschaffungswerkzeugen liefern, die im Kern überhaupt keine nachhaltige Bildung zum Ziel haben. Digitalisierung fungiert an den Hochschulen, wie auch in anderen Bereichen der Gesellschaft, vielmehr als Triebfeder eines globalen Marktes.
Die erstrebenswerte Form von Bildung, wie ich sie im bisherigen Verlauf des Textes beschrieben habe, bleibt auf Strecke, wenn einzig und allein die Befürworter einer undifferenzierten Technik-Euphorie zu Rate gezogen werden. Bezogen auf ein Ideal humanistisch geprägter Bildung wäre der überbordende Einsatz solcher Medien sogar als bildungsfeindlich einzuschätzen.
Des Weiteren weisen Soziologen wie Harald Welzer auf ein ähnliches Problem hin: „Das alles ist unterlegt mit einem Solutionismus, der die Welt nur insoweit zur Kenntnis nimmt, als sie in „lösbare“ Probleme filetierbar ist.“ (Welzer, 2019)
Soll heißen: Digitale Medien machen Bildung komfortabler und leichter. Wie bereits argumentiert, ist Bildung jedoch etwas Diskursives mit einer längeren Reifezeit. Eine bloße Beschleunigung macht sie dadurch nicht automatisch besser.
Oder vereinfacht ausgedrückt: Bildung wie ich sie verstehe, geht in die inhaltliche Tiefe und differenziert sich aus. Technisierung alleine verbleibt hingegen im oberflächlichen „Problemlösungsschema“. Daran anknüpfend lässt sich behaupten, dass die immer mehr werdenden Mengen an neuem Wissen, an neuen Informationen und Daten nicht mit „mehr“ Bildung einhergehen, da die Grenze immer in den kognitiven Möglichkeiten des Menschen zu verorten ist. Da hilft auch kein Mehr an digitalisierter Informationsverarbeitung und -optimierung. Das Ziel des Studiums sollte meines Erachtens nicht darin liegen, die persönlichen Eigenarten und Fähigkeiten der Lernenden zu erfassen, in numerische Raster zu pressen, Fehlerhaftes auszusortieren bzw. zu korrigieren, Prozesse noch effizienter zu machen, um dann diesen „Rohstoff der Absolventen“ für den gesellschaftlichen (kommerziellen) Fortschrift „verwertbar“ zu machen.
Stattdessen wäre ratsam: persönliche Stärken und Schwächen der Lernenden feststellen und wahrnehmen. Allein das erfordert ein größeres Maß an Selbstreflexion und Autodidaktik, als das Bedienen von Technik. Die Bildung soll sich somit am Menschen orientieren und nicht an der Technik. Anzuraten sind (einfach) Maßnahmen wie zeitliche Entzerrung von Studiengängen, Schulungen in wissenschaftlichem Arbeiten und Förderung von Lernkompetenzen bevor die intensivierte Nutzung der Technik kommt. Fehler akzeptieren, ja willkommen heißen, und als Leitplanken des persönlichen Lernprozesses sehen – das sind wichtige Bausteine für eine gleichermaßen umfassende wie individualisierte Bildung, die auch eine Persönlichkeitsentwicklung miteinschließt.
Wenn Schnelligkeit in einigen Bereichen nicht vermeidbar ist, so muss der zeitliche Rahmen für Lehrziele und Abschlüsse ausgedehnt oder zeitlich neu gelagert werden. So können Freiräume entstehen, die ein verbundenes, organischeres und menschliches Lernen möglich machen. Gute Bildung entsteht nur bei „ehrlicher Resonanz“ und einem Diskurs auf Augenhöhe, was nur aus guten zwischenmenschlichen Beziehungen erwachsen kann.
Mir ist durchaus bewusst, dass ich die „binäre Codierung“ (Welzer, 2019), die ich der Digitalisierung hier vorwerfe, durchaus selbst in diesem Essay zur Zuspitzung benutzt habe. Die Digitalisierung als solche ist nicht partout „gut“ oder „böse“, es bedarf vielmehr einer differenzierten Betrachtungsweise. Die Antwort auf die Frage nach einem bildungsfördernden Gebrauch der digitalen Technik und Kulturpraktiken liegt irgendwo zwischen den Polen von (unreflektiertem) Einsatzwillen (teils mit kommerziellen Bestrebungen) auf der einen und Skepsis auf der anderen Seite. Nach meiner Betrachtung liegt die Antwort deutlicher näher an einem „Weniger“ als an einem „Mehr“. Hochschulen sollten nicht auf Digitalisierung verzichten, sondern diese stärker filtern. Gerade im analogen „Lernraum Campus“ sollten (studentische) Arbeitsplätze, Bibliotheken, aber auch Seminar- und Vorlesungsräume, sollten Orte der Begegnung, Kommunikation und Entschleunigung sein. Es braucht einen Gegenentwurf zur digitalen Avantgarde in Gestalt von Pionieren des emanzipatorischen Denkens. Wer, wenn nicht unsere Hochschulen sollen Vorreiter in der Frage sein, wie und in welchem Maß man digitale Medien richtig anwendet? Diese sollten weiterhin eingesetzt werden, im Kern aber Mittel zum Zweck sein und nicht mehr. Die Hochschule der Zukunft setzt dem überall um sich greifenden, als Fortschritt getarnten Atavismus selbstreferenzieller Digitalisierung einen Raum der menschlichen Bildung entgegen. Diese Vorbildrolle resultiert nicht nur aus dem Streben nach besserer Bildung, sondern auch aus gesellschaftlicher Verantwortung in einer Zeit ständiger Überforderung.
Wie man es dreht und wendet: „Digital“ ist ein Teil der Zukunft, aber es ist nicht die Zukunft, die für Hochschulen zentral sein wird. Lernen und Bildung brauchen immer noch Menschen, die willens sind, eigenständig und kritisch zu denken, und die ihre Leistung als das Ergebnis ihrer individuellen Anstrengungen sehen – und nicht als etwas, das ein herzloser Apparat nach „Wischbewegungen“ auf einem digitalen Endgerät ausspuckt.
Über den Autor
Tim Scherer studiert Integrative Sozialwissenschaften (Schwerpunkt Politikwissenschaft) an der Technischen Universität Kaiserslautern. Er beschäftigt sich mit den Themen: Folgen der Digitalisierung, Politische Theorie und Philosophie.
Literatur
Han, B.-C. (2016). Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute. Frankfurt a.M.: Fischer.
Hochschulforum Digitalisierung. 20 Thesen zur Digitalisierung der Hochschulbildung. Abgerufen von: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/thesen-digitalisierung-hochschulbildung
Welzer, H. (15. August 2019). Fröhliche Unbedarftheit in Sachen Wirklichkeit. DIE ZEIT, 34. Abgerufen von: https://www.zeit.de/2019/34/digitalisierung-kuenstliche-intelligenz-algorithmendenken-dummheit
Bildnachweis:
Bild 1 (Student an Tafel) frei nutzbar nach Pixaby Lizenz (Collage mit Bildern von Gerd Altmann und Geralt); Bild 2 (Tastatur under construction) von Fernando Arcos, frei nutzbar nach pexels Lizenz; Bild 3 (Portrait des Autors) von Sabine Blatt