Heute ist Schreib-Stillstand. Das Finale meines Romans (“Klangfarben”) schwingt auf der anderen Seite der Kluft und hält mir seinen roten Faden hin, aber ich sitze hier mit beiden Händen voller Handlungsstränge, die noch nicht fertig gestrickt sind für die Übergabe.
Bis zum Jahresende will ich fertig sein! Trommelwirbel: 31.12.2017, 23:59 Uhr. Feste Ziele haben mir jedenfalls im November im #NaNoWriMo2017 gut geholfen. Die Szenen meines bildrauschenden Finales stehen mir klar vor Augen – aber um das zu Papier zu bringen, brauche ich mindestens drei Tage – als müsste ich morgen endlich in den Zielstrang einfädeln. Ich bin ja gnädig und gestatte mir für den Epilog noch den 1.1.2018 (ein Tag ist kein Tag).
Im Dezember sind meine Figuren wie ein Hefeteig in die Höhe und die Breite aufgegangen. Jede Szene, deren Plot ich in wenigen Sätzen skizziert hatte, ist beim Schreiben aufgeblüht und hat neue Samen versprüht. Ich finde es erstaunlich, wie der Schreibprozess neue Ideen und Details zutage fördert, die mich selbst überraschen und sich wie Puzzleteile ins große Ganze einfügen.
Der Nachteil ist, dass mein Roman nun wirklich epische Ausmaße annimmt (statistisches Detail: bis dato habe ich 85.571 Wörter geschrieben). Ich habe mich schon entschieden, die Berufswelt wegzulassen und Elise und den Jungen mit der Gitarre nach der Kindheit (habe ich im November geschrieben) durch ihre Teenagerzeit zu führen und das Finale auf das Jahr 1997 zu legen (ursprünglich sollte die Geschichte im Jahr 2017 enden), wenn beide Hauptfiguren auf der Schwelle zum Erwachsensein stehen.
Am fernen Horizont sehe ich eine Fortsetzung flimmern. Genügend Anknüpfungspunkte habe ich jedenfalls dafür (Figuren-Fülle und 20 Jahre Erlebnis-Stoff, die meiner Schere zum Opfer gefallen sind).
Manche Figuren aus der Kinderwelt sind auf der Strecke geblieben (z.B. Ingo, Andreas, Rita), dafür sind neue hinzu gekommen – kürzlich ein schwarzgelockter Tangotänzer namens Fabio, der Elise umwirbt – ein Rivale für den Jüngling mit der Gitarre.
In den letzten 4 Schreib-Tagen bin ich immerhin schon ins Jahr 1995 vorgedrungen – und habe wunderbar an eigene Jugenderinnungen angeknüpft – z.B. Tanzschule und Abschlussball. Für Elise gab es romantische Verwicklungen und für Philipp einen roten Porsche ohne Führerschein.
Hier eine tintenfrische Leseprobe von gestern:
Warnung: Philipp (16 Jahre alt) drückt sich gerne sehr direkt, man könnte sagen “derb”, aus.
Kapitel 42: Wiederholungen
Philipp schob das nasse Herbstlaub mit dem Besen auf einen Haufen und richtete sich auf. Scheiße, was für eine Arbeit! Seine Fingerspitzen in den Arbeitshandschuhen mit dicken Innennähten waren ganz taub vor Kälte. An diesem Donnerstagmorgen verirrte sich kein vernünftiger Mensch auf den Friedhof. Im Nebel leuchteten die roten Kerzen von Allerheiligen wie Teufelsaugen und machten sich über Philipp lustig. In diesem Teil vom Friedhof waren die neuen Gräber mit angeberischen Marmorsteinen, Engeln und Marienfiguren. Eigentlich fegte er lieber im alten Teil, wo die grauen Grabsteine schief standen und zerfielen, wie die Leichen, die unter ihnen lagen.
Der Jugendrichter hatte ihm 90 Sozialstunden aufgebrummt. Aber besser hier, als im Altenheim den Opas den Sabber vom Kinn zu wischen. Tot waren die Leute besser zu ertragen, als lebendig.
Drüben bei den Urnengräbern kratze sich der Pockennarbige am Arsch und steckte sich die siebte Fluppe an. Sein Laubhaufen war jämmerlich klein. Faulenzer! Immerhin trainierte Philipp hier seinen Oberkörper. Wenn er den nassen Dreckshaufen Schippe für Schippe in die Schubkarre hob, kamen ziemlich viele Kilos zusammen und Stunden auch. Mehr, als in der Muckibude. Das war ein Trost. Als er nach dem Unfall sechs Wochen sein Bein im Gips hatte, war sein Oberschenkel danach total schlapp gewesen. Das viele Rumliegen hatte ihn total angekotzt. Die Zwei-Kilo-Hanteln waren seine besten Kumpels geworden. Als der Gips abkam, hatte er Oberarme wie Popeye der Seemann nach einer Überdosis Spinat.
Johnny hatte ihn kein einziges Mal im Krankenhaus besucht. Malte drei Mal und Torsten jeden zweiten Tag. Silva war jeden Tag da gewesen. Mit geschmuggelten Süßigkeiten und seinen Schulaufgaben. Alles für die Tonne! Mit seiner Versetzung in die 10. Klasse hatte es nicht geklappt. Wie er die Schule hasste! Noch mehr hasste er Wiederholungen. Sinnlose Wiederholungen. Wieder dieselben Seiten der Schulbücher durchackern. Er kam einfach nicht von der Stelle im Leben. Vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück.
Jetzt grinste der Pockennarbige zu ihm rüber und machte irgendwelche Zeichen. Er wollte ihm bestimmt wieder was zum Kiffen verkaufen. Der Minigangster war mit dem Jugendrichter bestens bekannt. Er war 19 Jahre alt, aber so verblödet, dass er immer noch als „Heranwachsender“ galt. Er dealte und klaute alten Omas ihre Geldbörsen.
„Du musst dem Richter immer sagen, dass es dir schrecklich leid tut. Dann hab ich noch ein Foto von der Frühgeburt von meiner Freundin gezeigt, da hat der Richter feuchte Augen gekriegt. Der Staatsanwalt war echt pissig, dass ich nicht in den Knast musste.“
Philipp hatte keinen Bock auf die Nachhilfe vom Minigangster. Der Kiesweg in seinem Gang war jetzt blätterfrei. Den dicken Haufen würde er später mit der Schubkarre abholen. Philipp klemmte sich den Besen unter den Arm und ging in den Grufti-Teil vom Friedhof. Hier standen ganz dicke, alte Bäume. Also auch viele Blätter am Boden. Aber hier hatte er wenigstens seine Ruhe. Keine roten Kerzen. Um die Skelette trauerte keiner mehr.
„Bin ich froh, dass du nicht gestorben bist“, hatte Silva ihm schniefend gesagt, als sie ihn am ersten Morgen im Krankenhaus besucht hatte.
„Das hast du ja toll hingekriegt“, bekam er von seiner Mutter zu hören.
„Jetzt haben wir für die nächsten zehn Jahre Schulden am Hals. Die Haftpflicht zahlt nicht bei einer Straftat. Der Porsche, den du verschrottet hast, kostet fast 30.000 Mark! Ich werde deinen Vater verklagen, dann muss er die Hälfte bezahlen. Das arbeitest du alles wieder ab, damit das gleich klar ist.“
Führerschein und Motorrad konnte er vergessen. Stattdessen kehr und schipp, schipp und kehr, kehr und schipp.
„Es wird Zeit, dass du realistische Berufspläne fasst“, hatte sein Vater am Telefon gesagt. Wenn er die Mittler Reife nicht schaffte, blieben aber nur Scheißjobs übrig. Er wollte nicht Müllmann werden. Tonne voll und Tonne leer. Tonne voll und Tonne leer. Tonne voll und Tonne leer.
Da hing er lieber noch ein Jahr in der Schule herum. Wieder eine neue Klasse. Er war zwei Jahre älter, als die meisten. Die gingen ihm alle am Arsch vorbei. Er brauchte keine neuen Freunde. Er würde Bobybuilder und Fitnesstrainer werden. Vielleicht in Hollywood. Letztens hatte er „Conan“ im Fernsehen gesehen. Wenn man nur genug Muskeln hatte, konnte man berühmt werden. Jede Menge Kohle schaufeln und die heißesten Weiber warfen sich einem an den Hals.
Philipp lächelte. Er schaufelte nasse Blätter und stellte sich vor, es wären Geldscheine. Geld ins Haus und aus dem Fenster raus. Geld ins Haus und aus dem Fenster raus. Geld ins Haus und aus dem Fenster raus.
Etwas raschelte hinter ihm und Philipp zuckte zusammen. Unter dem Laubbett bei dem schiefen Grabstein bewegte sich etwas. Er hielt ganz still und starrte auf das Wogen der Blätter. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Gleich würde eine Skeletthand hervor kommen und ihn am Knöchel packen. Da löste sich ein dunkler Schatten aus dem Grab – und flitzte unter eine Hecke. Philipp stieß die Luft aus seinen Lungen. Gut, dass er nicht wie ein Mädchen gequiekt hatte. War das eine Ratte gewesen? Nee, mit so einem buschigen Schwanz wohl eher eine Katze oder irgend ein anderes Vieh.
Die Inschrift auf dem rissigen Grabstein war vor lauter Moos kaum zu erkennen:
„Franz…1879-1895“ – oder so ähnlich. Er rechnete. Der Junge war also mit 16 Jahren gestorben. Er guckte noch mal hin. Irgendwas war komisch. Er schüttelte den Kopf und begann wieder zu fegen. Halt! 1979 war sein Geburtsjahr. Und jetzt war 1995. Das könnte er selbst sein, der unter diesem Moderhaufen liegt. Nur 100 Jahr früher. Jetzt wurde es ihm aber wirklich unheimlich.
Er hörte ein Glöckchen klingeln. Philipp war erleichtert. Es war der Bucklige mit der Glocke an seinem Gürtel. Man hörte ihn immer schon von Weitem. Der Alte mit dem runzeligen Gesicht kam gebückt hinter einer Hecke hervor und kicherte.
„Hat dich der Marder erschreckt?“, fragte der Glockenmann und zeigte seine letzten vier Zähne, als er breit lächelte. Philipp zuckte mit den Achseln.
„Hier in den Wäldern gibt es noch einige Wildtiere. Auch Wölfe. Aber die kommen nur in den Teil vom Friedhof, wo noch Fleisch an den Knochen ist.“
Philipp merkte, wie sich sein Mund blöde öffnete. Jetzt lachte der Alte ganz laut und das Glöckchen an seinem Gürtel bimmelte mit. Aber irgendwie war Philipp nicht sauer darüber.
„Frühstückszeit“, sagte der Totengräber.
„Komm mit.“ (…)
——————————————————————————————-
Tja, und heute hänge ich durch. Werde mir gleich eine große Kanne roten (= Leitmotiv) Yogi-Tee mit schwarzem Pfeffer kochen – der macht meinen Fingern und meiner Fantasie hoffentlich ein bisschen Feuer. Meine beste Schreibphase habe ich eh zwischen abends Acht und Mitternacht. Der heutige Tag ist also noch nicht verloren…
Würde mich sehr über euren Ansporn auf den letzten Metern freuen!
NACHTRAG (31.12.2017):
Schneckentempo statt Galopp – mein Körper hat schmerzhaften Protest gegen meinen Roman-Endspurt eingelegt, so dass ich seit gestern in eine langsame Gangart gewechselt bin. Vielleicht wollen meine Figuren sich auch nicht ins Finale peitschen lassen, wenn sie noch nicht bereit sind.
Heute dürfen sich meine Hauptfiguren am Silvesterabend 96 auf ihr anstehendes Schicksalsjahr einstimmen – bin echt gespannt, was Philipp beim Bleigießen so anstellen wird…
Mal sehen, vielleicht trägt mich die mythische Zeit der Rauhnächte ja bis zum 6. Januar 2018 über die Ziellinie.