Wie jeden Sommer seit 40 Jahren strömen die Berlinerinnen und Berliner zu Scharen in die Waldbühne, um ihr liebstes Orchester zu hören und sich von der einzigartigen Atmosphäre dieses Amphitheaters unter freiem Himmel berauschen zu lassen.
Auch ich wandere an diesem milden Sommerabend im Menschenstrom von der S-Bahnstation zur Waldbühne. Der Himmel zieht sich grau zusammen und kurz nach 19 Uhr fallen sogar einige Regentropfen.
Doch pünktlich zum Konzertbeginn um 20:15 Uhr ist der Himmel wieder blau und die Sonne blinzelnd lächelnd auf die 20.000 Menschen in der seit Wochen ausverkauften Waldbühne nieder, die es sich hier mit mitgebrachten Decken und Picknickkörben gemütlich gemacht haben. Es ist ein Event für die ganze Familie – ganz kleine bis große Kinder sind mit ihren Eltern gekommen und fühlen sich sichtlich wohl.
Auch für die Berliner Philharmonikerist das Open-Air-Spektakel ein Höhepunkt in ihrem Kalender, sie haben offensichtlich Freude und starten einige Minuten vor Konzertbeginn eine La-Ola-Welle, die vom Publikum aufgenommen wird und sich einige Runden lang durch die Tribüne hebt und senkt.
So in beste Stimmung gebracht, beginnt die Aufführung pünktlich – schließlich filmen auch die Kameras der rbb fleißig mit und tausende von Zusehenden können die musikalischen Genusshappen auf ihren Bildschirmen mitverfolgen. Chefdirigent Kirill Petrenko bringt als erstes Stück die “Johannisnacht auf dem Kahlen Berge” von Modest Mussorgsky (bearbeitet von N. Rimsky-Korsakow) zum Erklingen. Die Musik vermischt sich mit dem Vogelgezwitscher aus den umgebenden Bäumen und man fühlt sich tatsächlich in eine monumentale Naturlandschaft versetzt.
Als nächstes wird das Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur op. 10 von Sergej Prokofjew dargeboten, den Solopart am Klavier übernimmt die StarpianistinYuja Wang. Sobald die zierliche Pianistin in einem gelb-grünen Glitzerkleid mit sehr kurzem Rock auf die Bühne stöckelt, ertönen anerkennender Applaus und einige Pfiffe aus dem Publikum. Die französische Mutter hinter mir sagt zu ihrer kleinen Tochter: „Elle est super sexy.“ Doch nicht nur mit ihrer attraktiven Erscheinung kann Yuja Wang punkten, sondern auch mit ihrem sehr energetischen Spiel mit technischer Perfektion, wobei sie für meinen Geschmack einen recht harten Anschlag hat. Nach anhaltendem Applaus gibt die Pianistin noch zwei Zugaben und zeigt bei einem Stück von Chopin, dass sie auch weicher spielen kann.
Nach der Pause steht Maurice Ravel auf dem Programm. Hörte sich die Musik der russischen Komponisten im ersten Teil vor der Pause noch hart und klirrend an wie aus einer eisigen Winterlandschaft, so scheinen die französischen Klänge aufgetaut zu sein und fließen leicht und mild wie ein Quelle im Frühling. Ganz lieblich und schwelgerisch verführt das Stück „Pavane pour une infante défunte“ (Orchesterfassung) zum Träumen.
In eine sommerliche Schäferidylle der antiken Mythologie entführt einen Maurice Ravel mit „Daphnis et Chloé. Suite Nr. 2“. Die Ballettmusik betört mit einem flirrend-impressionistischen Klang.
Dann kommt der Höhepunkt des Abends: Der allseits bekannte und beliebte „Boléro“ von Maurice Ravel, der das Stück 1928 komponiert und als Ballett für die Tänzerin Ida Rubinstein konzipiert hatte. Die Uraufführung fand am 22. November 1928 in der Pariser Oper statt und sorgte für einen Skandal, denn Rubinstein tanzte als einzige Frau in einem Kreis von 20 jungen Tänzern und interpretierte die Musik mit lustvollen und lasziven Bewegungen, die den erotisch-orgastischen Charakter des Stücks betonten. Das Pariser Publikum war gleichermaßen schockiert und fasziniert und der Siegeszug des “Boléro” war nicht mehr aufzuhalten.
Eine legendäre tänzerische Umsetzung aus jüngerer Zeit stammt vom argentinischen Balletttänzer Jorge Donn, der den Boléro im 1981 erschienenen Film „Les uns et les autres“ von Claude Lelouch unvergesslich interpretierte.
Doch an diesem Abend in der Waldbühne gibt es kein Ballett, sondern alleine die Musik soll die Zuhörenden in ihren Bann ziehen. Das gelingt schon, sobald die kleine Trommel mit ihrer sich 169 Mal wiederholenden Rhythmusfigur ansetzt und die schöne Melodie zart und leise von einer einzelnen Querflöte angestimmt wird. Der Sog dieser genialen Komposition liegt in den Wiederholungen, die jedoch niemals ermüdend wirken, sondern durch das stetige Hinzukommen weiterer Instrumente spannungsreich sind. So ist das Stück wie eine kleine Vorstellungsrunde, in der sich die einzelnen Instrumente der Philharmonie mit ihrem individuellen Klang und Charakter präsentieren dürfen: die Oboe melancholisch, Tenorsaxophon jazzig und die Posaunen satt. Während die Streichinstrumente zunächst nur rhythmisch gezupft werden, dürfen sie im Verlauf des Stücks auch in die Melodie mit einstimmen und ihre lieblichen Stimmen zum Erklingen bringen.
In seinen 18 Variationen mit zunehmender Klangfülle hebt die Musik die Stimmung in eine Euphorie, die sich mit dem Crescendo immer mehr hochschraubt. Mit ihren jazzigen Glissandi verströmen die Posaunen und Saxophone puren Übermut und Spielfreude. Seinen ekstatischen Höhepunkt findet die Musik in den letzten Takten mit Basstrommel, Becken und Tamtam. Der Schlussakkord ist dissonant und lässt die Töne in die Tiefe stürzen. Doch das Publikum ist in Hochstimmung, springt auf und applaudiert frenetisch.
Kirill Petrenko und die Philharmoniker nehmen den wohlverdienten Applaus für ihr virtuoses Spiel entgegen und belohnen das Publikum mit zwei Zugaben. In liebgewonnener Tradition endet das Konzert mit dem schwungvollen Marsch „Berliner Luft“ (von Paul Lincke, 1904), bei der unter dem dunklen Nachthimmel tausende von Lichtern aus dem Zuschauer-Rund geschwenkt werden und an den passenden Stellen ausgelassen mitgepfiffen wird.
Am Freitag, den 12. April 2024 habe ich meine erste abendfüllende Lesung mit „Im Takt ihrer Träume“ gegeben.
Ich habe mich sehr gefreut, dass über 15 Menschen den Weg ins Kulturhaus Karlshorst (Berlin) gefunden und meiner Lesung sehr interessiert gelauscht haben.
Schon beim Einlass haben mich zwei freundliche Besucherinnen angesprochen, die sowohl „Das Lachen der Pinguine“ als auch „Im Takt ihrer Träume“ schon gelesen hatten und richtige Fans meiner Bücher sind. Das ist natürlich das schönste Lob, was ich als Autorin hören kann.
Um 19:30 Uhr ging es los und ich habe zwei Szenen vorgelesen, in denen Johanna nach Wien kommt, um sich im Operntheater als Dirigentin zu bewerben, jedoch bereits an der Pforte harsch abgewiesen wird. In ihrer Verkleidung als Mann mogelt sie sich dann doch zum Vorspielen und kann die Juroren von ihren musikalischen Qualitäten überzeugen – darunter auch den brasilianischen Dirigenten Eduardo Breuer, der ihr Herz höher schlagen lässt, obwohl er als Mann natürlich tabu für sie ist.
In zwei weiteren Szene haben wir Johanna in der Pension für Frauen mit ihren drei lebenslustigen Mitbewohnerinnen Dana, Tessa und Martha kennengelernt, die Johanna modisch im Style der 1920er Jahre einkleiden und ins Wiener Nachtleben (ins Stummfilmkino) ausführen.
Im Finale meiner Lesung durfte Jo die „Tosca“ dirigieren und ist ihrem Kollegen Eduardo nach einer skandalträchtigen „Walküre“ im Künstlerkeller näher als erlaubt gekommen.
Zwischen den insgesamt sechs Lesepassagen habe ich etwas zu den historischen Hintergründen und meiner Recherche erzählt. Für kleine Entspannungspausen haben die musikalischen Einspielungen aus der Soundanlage gesorgt, natürlich passend zum Thema klassische Musik.
Nach der Lesung habe ich noch einige Bücher signiert.
Für mich war es ein rundum gelungener Abend – ich hoffe, für mein Publikum auch.
Bildnachweis: Herzlichen Dank für die Fotos an Vera M. und Simona W.
An diesem sonnigen Samstag pilger ich zum ersten Mal zur legendären Waldbühne, um das Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker zu erleben. Nachdem es am Vortag wie aus Kübeln geschüttet hat, sind die Wettergötter heute günstig gestimmt und es herrscht ideales Picknickwetter. So wandere ich mit meiner Decke und Proviant im Rucksack von der S-Bahnstation Richtung Eingang. Meinen Wegplan auf dem Handy benötige ich nicht, denn ich kann einfach dem gutgelaunten Menschenstrom folgen, der mich in die richtige Richtung trägt.
Schnell hole ich meine Pressekarte ab und schon brandet zwischen den Bäumen Applaus auf – ich bin ein bisschen knapp dran und offenbar kommen die Musiker schon auf die Bühne, in fünf Minuten soll das Konzert beginnen.
Als ich aus dem hinteren Halbkreis mit den Imbissbuden an den oberen Rand des steinernen Rundes trete, verschlägt es mir glatt den Atem. Steil wie Felsenhänge fallen die Sitzränge fast hundert Meter in die Tiefe, mir wird beinahe schwindelig.
Noch beeindruckender ist, dass diese unzähligen Sitzreihen mit 20.000 Menschen gefüllt sind, ein buntes Meer von Köpfen und ein erwartungsvolles Murmeln liegt in der warmen Abendluft. Eilends steige ich die lange Felsentreppe am Rand hinab und finde meinen Sitzplatz auf einer Bank im Block B direkt hinter dem Golden Circle in der Mitte direkt vor der Bühne, wo es sich die Besuchenden auf ihren Picknickdecken bequem gemacht haben.
Ich finde es wunderbar, dass dieses Klassikevent offensichtlich so beliebt ist, dass die Waldbühne komplett ausverkauft ist – eine Ausnahmeerscheinung in den Post-Corona-Zeiten, in denen viele Konzerte vor halb leeren Rängen gespielt werden oder ganz abgesagt werden müssen.
Unter Applaus betritt der Dirigent Andris Nelsons die Bühne und die Philharmoniker lassen die Ouvertüre aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ erklingen, ein Stück aus der Romantik, das Naturliebe und Aberglaube beschwört. Der umgebende Wald bietet hier die perfekte Kulisse, für Gespenstergrusel ist es aber noch zu hell.
Mit ausgreifenden Schritten kommt der Startenor Klaus Florian Vogt auf die Bühne, der große Norddeutsche mit blonder Wallemähne und blauen Augen (die auf den großen Leinwänden auf beiden Seiten der Bühne besonders auffallend leuchten) ist auf den bedeutendsten Bühnen der Welt zuhause und vor allem ein gefragter Wagner-Sänger bei den Bayreuther Festspielen.
Heute gibt er sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Er singt die Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ (ebenfalls aus “Der Freischütz”), wobei seine schlanke klare Stimme, die knabenhaft klingt, gut die jugendliche Frische des Stückes einfängt. Allerdings scheint der Tenor von der monumentalen Kulisse und den Menschenmasse so sehr beeindruckt zu sein, dass er auffällig oft nach Luft schnappt und sein Gesang mitunter ein wenig atemlos wirkt. Vielleicht ist es wirklich ein bisschen Nervosität, was ich sehr sympathisch finde, er ist offenbar kein abgebrühter Star. Das Publikum spendet dem Tenor jedenfalls freundlichen Beifall.
Als nächstes bringen die Philharmoniker die Klänge von Richard Wagner zu Gehör. In der Arie „Mein lieber Schwan“ aus Lohengrin fühlt sich der Tenor hörbar angekommen und zeigt in einer gefühlvollen und schönen Interpretation, warum der Gralsritter seine Paraderolle ist.
Dann ist Pause. Ein allgemeines Gewusel bricht aus, die hausgemachten Stullen werden ausgepackt und die Zigaretten angezündet. Ich beobachte vergnügte Familien mit ihren Kindern. Ein kleines Mädchen im goldenen Rock und mit güldenen Sandalen hat sich für das Event wie eine Prinzessin in Schale geworfen und albert mit ihrem Bruder herum.
Auch die Kamerateams vom rbb, der das Konzert live übertragen, sind fleißig im Einsatz, interviewen den Tenor und mischen sich unter das Publikum, um Impressionen und O-Töne zu sammeln.
Gegen 21 Uhr geht das Konzert weiter. Nun steht die Musik des Klangmagiers Richard Strauss auf dem Programm. Die Philharmoniker spielen mit großer Plastizität „Till Eulenspiegels lustigen Streichen“. Die Musik trägt mich wie auf wogenden Wellen in weite Ferne. Dann singt Klaus Florian Vogt drei Strauß-Lieder mit großer Stimmschönheit.
Das grandiose Finale bildet die Suite op. 59 aus „Der Rosenkavalier“, was eine Art Best-of aus Strauss’ berühmtester Oper ist – ich erkenne die süße Walzermelodie „Nur mit dir“ wieder (amouröse Fantasien von Baron Ochs) und es geht auch dramatisch zu. Diese berauschende Musik ist so voller Farben, dass geradezu cineastische Bilder vor meinen Augen entstehen – sie würde sich auch gut als Filmmusik eignen. Die Philharmoniker spielen mitreißend und dabei differenziert, sie sind einfach erste Sahne.
Als erste Zugabe interpretiert der Tenor das Lied „Morgen“ (ebenfalls von Strauss) sehr gefühlvoll – im Lied geht es um Abschied und Wiedersehen (vielleicht im Jenseits) – ich bin total bewegt und gerührt.
Dann kommt die Zugabe, auf die sich das Stammpublikum die ganze Zeit gefreut zu haben scheint, für mich jedoch ein überraschendes Erlebnis ist: Zum flotten Marsch „Berliner Luft“ (Operettenlied von Paul Lincke, komponiert 1904, wurde bald zum Gassenhauer) werden die Handylichter geschwenkt und hier und dort glitzern Wunderkerzen (inzwischen ist es dunkel und die Sichel des Mondes steht silbrig am Himmel) und im Refrain wird freudvoll mit gepfiffen – das ist wirklich ansteckend. Ich kann gut verstehen, dass diese inoffizielle Hymne der Stadt eine liebgewordene Tradition als Abschlussstück des Konzerts der Philharmoniker in der Waldbühne ist.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem Pfeifen auf den Lippen folge ich schließlich wieder dem Strom der Menschen zur S-Bahnstation.
Es war magischer Konzertabend mit herrlicher Musik und der besonderen Stimmung unter freiem Himmel.
Bis zum nächsten Mal – in der Waldbühne lässt sich die Berliner Luft doch am besten schnuppern.
Am Sonntagabend begrüßte dervielseitige Tenor Rolando Villazón sein Publikum im gut gefüllten Kuppelsaal ungewohnt mit Mikrofon, denn Moderator Holger Wemhoff war kurzfristig erkrankt, so dass der Sänger selbst spontan durch sein Programm führte – mit Ernsthaftigkeit und Charme.
So schwelgte die golden-warme Stimme des Tenors in den ersten drei Liedern von Mozart, Schubert und Strauss von der melancholischen Abendstimmung, über die Kunst bis zum Abschied der Seelen. Er interpretierte die deutschen Verse mit sehr guter Textverständlichkeit und großer Ausdruckskraft.
Der nächste Teil war Komponisten aus dem mediterranen Raum gewidmet. In „Coplas de Curro Dulce“ von Fernando J. Obradors zeigte der Mexikaner sein Temperament.
Unter den melodienreichen Liedern der italienischen Komponisten Verdi, Bellini und Rossini stach besonders Villazóns schmerzlich-sehnsuchtsvolle Interpretation von „Vaga luna che inargenti“ (Bellini) heraus.
Nach der Pause präsentierte der Tenor moderne Musik und spannte mit vier Songs von Kurt Weill den Bogen in die Gegenwart mit dem Thema von Krieg und Verlust. Die Texte stammen aus der Feder von Walt Whitman (“Oh Captain! My Captain!“ – das Gedicht ist manchem bekannt aus dem Film “Der Club der toten Dichter”).
Auch die folgenden drei Lieder von Iain Bell forderten die Hörgewohnheiten heraus und gingen nicht sofort ins Ohr, wie andere eingängige Klassikhits.
Der Mexikaner scherzte: „Ich singe dieses Konzert noch acht Mal. Wenn Sie jedes Mal hinkommen, können Sie die Lieder am Schluss mitsingen.“
Zum Abschluss holte der Tenor Lieder der Komponistinnen Gisela Hernández, Inés Halimi und María Grever aus dem Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen hervor und bewies, dass diese Kompositionen ihren Platz im Standardrepertoire verdient hätten.
Das Lied „Entre tus manos“ hat Inés Halimi eigens für Villazón komponiert – wie er erzählte als Ergebnis einer Begegnung auf einer Zugfahrt, bei der die beiden ins Gespräch gekommen waren.
Begleitet wurde Rolando Villazón von der kanadischen Pianistin Carrie-Ann Matheson, die es verstand, im musikalischen Dialog die unterschiedlichen Stimmungen der Lieder zu unterstreichen.
Das Publikum dankte dem Tenor den gelungenen Abend mit stehenden Ovationen und wurde mit drei Zugaben belohnt, in denen der Mexikaner wieder den Farbenreichtum seiner Stimme aufblühen ließ und viel Herzenswärme auf den Saal übersprang.
Am Sonntag, den 9. Oktober wurden in einer festlichen Gala im Konzerthaus Berlin die Preisträger:innen des diesjährigen Opus Klassik geehrt, darunter Jonas Kaufmann, Joyce DiDonato und Igor Levit.
Nach den pandemiebedingten Einschränkungen der letzten zwei Jahre kommen Preisträger:innen und Gäste endlich wieder im vollbesetzten Konzerthaus zusammen, um die Magie der Musik zu feiern. Gerade in schwierigen Zeiten spüren viele Menschen, wie wohltuend die klassischen Klänge sein können. Aber im aktuellen Jahr zeigen die Musiker:innen, dass ihre Kunst mehr will, als nur ein tröstendes Schaumbad für angeschlagene Seelen zu sein. Sie mischen sich ein in den gesellschaftlichen Diskurs, wollen ein Zeichen setzen für den Umweltschutz und gegen Rechtsextremismus.
„Ihr seid Vollidioten!“, ruft Igor Levits Laudator Rapper „Danger Dan“ allen Antisemiten, Rassisten und Antifeministen da draußen und vor den Fernsehgeräten zu. Igor Levit nimmt den Preis für die Solistische Einspielung Instrument entgegen und betont in seiner Dankesrede sein Engagement gegen Rechtsextremismus.
Deutlich sanfter, aber nicht weniger eindrucksvoll setzt sich Komponist und Pianist Ludovico Einaudi, ausgezeichnet in der Kategorie Neue Klassik für sein Album „Underwater“, für den Umweltschutz ein. So macht er mit seiner „Elegy for the Arctic“ Klavier spielend auf einer Eisscholle auf die verheerenden Folgen des Klimawandels aufmerksam (in Kooperation mit Greenpeace).
Die Geigerin Tianwa Yang wird als Instrumentalistin des Jahres geehrt und widmet ihren Preis in einer bewegenden Rede den mutigen Musikerinnen aus der Ukraine, einige davon unterstützt sie selbst in deren Schweizer Exil.
Nicht immer wird jedoch die dramatische Weltlage thematisiert, hin und wieder darf auch unbeschwert gelacht werden – etwa wenn Reporter Fabian Köster im Einspieler das Tuba-Trio 21Meter60 in München besucht, im Handumdrehen berühmt macht und zum Dank deren drei gewaltigen Instrumente schleppen muss. Das sympathische Trio erhält den Preis für ihre Kammermusikeinspielung „nothing but tuba“.
Durch die Gala führt charmant und mehrsprachig Désirée Nosbusch, die den Preisträger:innen so manche persönliche Anekdote entlockt. So verrät die Harfenistin Magdalena Hoffmann, Nachwuchskünstlerin des Jahres, dass sie lieber Wildschwein, als Gans zu Weihnachten verspeist. Zusammen mit Oboist Albrecht Mayer, ausgezeichnet für seine Konzerteinspielung, bietet sie virtuos das Andantino aus dem Konzert für Harfe und Oboe von Wolfgang Amadeus Mozart dar.
Dem Espresso verfallen ist Startenor Jonas Kaufmann, der als Sänger des Jahres für sein Liedalbum „Liszt – Freudvoll und Leidvoll“ geehrt wird. Im Einspieler erlebt man, wie Fabian Köster den 53-jährigen Münchner in seiner Heimatstadt besucht, wo Kaufmann in einem Espressomaschinenladen an einer solchen Maschine herumschraubt. Gutgelaunt erzählt der Preisträger (der bereits zum 10. Mal mit dem Opus/Echo ausgezeichnet wird) von seinem Traum, einmal seine eigene Espressomarke auf den Markt zu bringen, den “Kaffee Kaufmann” vielleicht. Auf der Bühne singt er zusammen mit seinem langjährigen Klavierbegleiter Helmut Deutsch gefühlvoll „O lieb, solang du lieben kannst“ (Liszt) und zaubert damit den bereits erwähnten Seelenbalsam für die Zuhörenden herbei.
Der 85-jährige ukrainische Komponist Valentin Silvestrov erhält die Ehrung für sein Lebenswerk. Die Laudatio hält Kulturstaatsministerin Claudia Roth.
Den Abend beschließt die amerikanische Mezzosopranistin Joyce DiDonato, ausgezeichnet für die Solistische Einspielung Gesang mit ihrem Album „EDEN“, mit Engagement für die Natur auf einer hoffnungsvollen Note. Gemeinsam mit dem Jugendchor The Young ClassX (erhält den Preis für Nachwuchsförderung) pflanzt sie die musikalische Saat für die Zukunft.
Für klangschöne Begleitung sorgt den ganzen Abend über das Konzerthausorchester unter der Leitung von Krzysztof Urbański.
Ein Hoch auf die klassische Musik mit ihren leidenschaftlichen und engagierten Interpret:innen. Sie sind nicht nur Seelentröster, sondern auch Botschafter für Humanität, Vermittler zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und zuweilen Provokateure.
Alle Preisträger:innen des Opus Klassik 2022 findet man hier aufgeführt. Die Preisverleihung wurde vom ZDF übertragen und ist in der Mediathek immer noch abrufbar.
Weitere Kultur-Reportagen von mir finden Sie hier.
An diesem idyllischen Sommerabend erwartete die Klassikbegeisterten eines der Highlights des diesjährigen Rheingau Musik Festivals: Startenor Jonas Kaufmann entführte das Publikum im Kurpark Wiesbaden in die schwelgerische Welt der italienischen Oper und der Wiener Operette.
Zum Einstieg überraschte Kaufmann, festlich im Frack gekleidet, mit dem „Prolog“ aus der Oper von „Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo, einer Arie, die eigentlich für einen Bariton geschrieben ist. Trotz seines baritonalen Timbres fehlte es dem Tenor hier in den tiefen Lagen an Fülle und er konnte seine stimmlichen Stärken in diesem Stück nicht zur Geltung bringen, was auch mit ziemlich verhaltenem Applaus quittiert wurde. Im Anschluss trat der Star des Abends ans Mikrofon und entschuldigt sich fast schon für seinen Ausflug ins Bariton-Repertoire, aber diese Arie begeistere ihn so sehr, dass er nicht habe widerstehen können, sie auf der Bühne darzubieten. Kaufmann versprach aber, für den Rest des Abends in den Gefilden des Tenor-Repertoires zu bleiben.
Als nächstes präsentierte er das von Enrico Caruso berühmt gemachte Verismo-Stück „Vesti la giubba“ aus der selben Oper. Es ist der verzweifelte Seelenschrei des Clowns Canio, der sich das Lachen aufschminken muss und dem gleichzeitig das Herz vor Liebeskummer bricht. Kaufmann hat diese Rolle bereits bei den Salzburger Osterfestspielen 2015 sehr überzeugend und herzzerreißend dargeboten und hätte sie im Juli diesen Jahres wieder gespielt und zwar am Royal Opera House in London, wenn er nicht wegen seiner zweiten Corona-Erkrankung hätte absagen müssen. Am heutigen Abend scheint Kaufmann das alles nachholen zu wollen. Allerdings ist diese emotionale Tour de Force am Anfang des Programms sowohl für den Sänger, als auch für das Publikum ein ziemlicher Kaltstart und die Wucht des Gefühls mag nicht so recht entstehen, weil der Kontext der Oper fehlt.
Kaufmann setzte seine Moderation fort und kündigte die nächsten Stücke von Giacomo Puccini an. Dass der Tenor gleichzeitig die Rolle des Conferenciers übernahm, schien eine spontane Entscheidung des Sängers zu sein, jedenfalls sprach er frei und las keinen vorformulierten Text ab. Beim ersten Open-Air-Sommerkonzert in diesem Format im Kloster Benediktbeuern hatte es geregnet und das Publikum war zudem nicht mit Programmzetteln ausgestattete gewesen, so dass Kaufmann auf seine flexible und freundliche Art dort die Moderation übernommen und den Abend ein Stück weit gerettet hatte. Anscheinend hat er gefallen an dieser Rolle gefunden, denn obwohl heute Programmzettel vorhanden waren, führte er mit seinen spontanen, die Stücke und Komponisten musikalisch einordnenden Ansagen durch den ganzen Abend, was ihn sehr nahbar machte – und auch fehlbar zeigte, denn hier und da verhaspelte und verbesserte er sich und merkte selbst an, dass die Moderation “nicht sein eigentlicher Beruf” sei. Seine persönliche Ansprache ans Publikum brachte Kaufmann viele Sympathiepunkte ein, aber vielleicht nahm sie ihm auch ein wenig die Aura des unerreichbaren Stars.
Kaufmann kündigte galant seine Gesangspartnerin, die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen an, die mit der Arie der Mimi aus „La Bohème“ den romantischen Teil des Konzerts einleitete. Im darauffolgenden Duett „O soave fanciulla“ konnten Tenor und Sopran ihre Stimmen in träumerischer Harmonie verschmelzen lassen. Ihr kräftiger und klarer Sopran mischte sich hier bestens mit dem samtigen Timbre des Tenors.
Dann brachte Kaufmann die stiefmütterlich behandelte Tenorarie „Non piangere Liu“ aus Puccinis „Turandot“ zu Gehör, die er mit weichen Tönen und viel Stimmschmelz gestaltete. Zuvor stellte er dem Publikum jedoch augenzwinkernd – „darüber können wir später noch verhandeln“ – in Aussicht, dass sie später noch in den Genuss von DER Tenorarie aus dieser Oper kommen würden, deren Namen nicht genannt werden muss.
Vor der Pause gab Kaufmann noch das aufflammende Plädoyer des Dichters Andrea Chénier aus der gleichnamigen Oper zum besten, was ihm einiges an Stimmkraft abverlangte.
Nach der Pause – Kaufmann trug nun ein dunkelblaues Jacket auf weißem Hemd und leger offenstehendem Kragen – ging es mit der „leichten Muse“ in Gestalt der Operette weiter, die, so Kaufmann, alles andere als leicht zu singen sei, die Kunst liege darin, es leicht und süffig klingen zu lassen. Dass er diese Kunst beherrscht, zeigte der Tenor dann in den bekannten Stücken von Operettenkönig Franz Lehár wie „Dein ist mein ganzes Herz“ und im Duett „Wiener Blut“ mit Willis-Sørensen, die zusammen einen kleinen Walzer auf die Bühne legten. Inzwischen war auch das Publikum ganz in der Atmosphäre der Sommernacht unter freiem Himmel angekommen und applaudierte begeistert.
Seine stimmlichen Verführungskünste und seinen unvergleichlichen Charme konnte Kaufmann in „Hab ein blaues Himmelbett“ aus der Operette „Frasquita“ von Lehár und im Chanson „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von Ralph Erwin ausspielen. In seinem balsamischen Gesang kommen die große Farbpalette seiner Stimme sowie seine Gestaltungskunst bestens zur Geltung, die der vielseitige Tenor auch als gefragter Liedsänger immer wieder vorführt.
Das WDR Funkhausorchester unter der Leitung von Jochen Rieder, den Kaufmann sich seit vielen Jahren für seine Konzert-Tourneen an die Seite holt, in der Orchestermuschel begleitete den Startenor gefällig und schwungvoll.
Kaufmann beglückte sein Publikum mit vier Zugaben, darunter natürlich das Tenorglanzstück „Nessun Dorma“ von Puccini, was wie zu erwarten mit frenetischem Jubel und Standing Ovations belohnt wurde. Ausklingen ließ der Tenor den Abend mit dem sehnsuchtsvollen „Wien, du Stadt meiner Träume“ von Rudolf Sieczynskis.
So strömten die Massen am Ende dieses Abends mit einem Lächeln auf dem Gesicht dem Ausgang entgegen und kaum jemand merkte, dass der Star-Tenor selbst sich unter ihnen einen Weg von der Bühne zurück in seine Garderobe im Kurhaus bahnen musste.
Ausblick auf weitere Klassik-Highlights
Jonas Kaufmann wird im nächsten Mai in die Region zurückkehren und am 21.05.2023 ein Konzert in der Alten Oper Frankfurt geben. Wer nicht solange warten möchte, kann den Tenor in den nächsten Monaten an den Opernhäusern München, Zürich und Wien im italienischen Repertoire erleben. Auf seiner Homepage kann man seinen vollen Terminplan einsehen.
Das Titelbild stammt ebenfalls vom Fotografen Ansgar Klostermann, zur Verfügung gestellt vom Rheingau Musik Festival.
Nach monatelanger Darbenszeit ist es am Samstag endlich soweit: Ich gehe in die Oper!
Aber ganz so wie früher ist es noch nicht, denn es gilt, einige Vorkehrungen zu treffen. So wandere ich gegen Mittag in sengender Hitze zum Tierpark und lass mir in einer miefigen Turnhalle in der Nase herumstochern und halte 20 Minuten später ein Stück Papier mit dem Zauberwort: “NEGATIV” in der Hand.
Am frühen Abend also ziehe ich einen Rock an, der bestens zu meiner Knallbonbon-Feierstimmung passt und mache mich auf den Weg. Die Staatsoper unter den Linden begrüßt mich sanft rosé. Beim Einlass jedoch überkommt mich das typische Flughafen-Unwohlgefühl bei der Kontrolle – ich weiß, ich habe alle Papiere und nichts zu verbergen, aber irgendwie fürchte ich trotzdem, ich würde der Kontrolle nicht standhalten. Der Scanner tut sich auch schwer mit meinem Ticket, aber nach fünf Versuchen und Hellerschalten meines Displays darf ich dann doch in die heiligen Hallen eintreten.
Nun sitze ich auf einem dicken Polster im lückenhaft (gemäß Vorschrift) besetzten Auditorium und die Vorfreude steigt.
Ich sehe “La Fanciulla del West” von Puccini (1910). Der Büffel auf der Bühne soll das Publikum offenbar schon auf den Wilden Westen einstimmen. Das Orchester spielt sich ein und ich entdecke schon Antonio Pappano am Pult – er ist einer meiner Lieblingsdirigenten, den ich schon öfters im Royal Opera House in London erlebt habe, wo er der musikalische Direktor ist.
Ich lasse meinen Blick über die Ränge gleiten und sehe mich gleich mit einer Gewissensfrage konfrontiert: Fast alle Besucher haben ihre Masken abgelegt, sobald sie auf ihrem Platz sitzen. In der E-Mail des Hauses mit Corona-Hinweisen stand doch, man müsse seine Maske auch während der Vorstellung tragen. Aber schließlich ist jeder hier im Saal negativ getestet, wir sitzen alle auf Abstand, die hochleistungsfähige Belüftung ist im Einsatz, die Inzidenzwerte ganz weit unten – in einem Akt bedächtiger Sorglosigkeit streife ich also auch meine Maske ab und hänge sie über den Ellbogen wie es inzwischen zur selbstverständlichen Mode geworden ist.
Das Saallicht geht aus und die bombastischen Klänge von Puccini erfüllen den Raum. Wie wunderbar diese Musik klingt, wie plastisch der Klang im Raum, ich kann jede Instrumentengruppe einzeln hören – damit kann kein Livestream und keine Opern-DVD mithalten – auf die ich in den letzten Monaten so oft zurückgreifen musste.
Der kräftige Männerchor lässt das raue Leben der Goldgräber in Kalifornien lebendig werden und schließlich erscheint unter bebendem Blechbläsereinsatz das “goldene Mädchen” Minni auf dem Dach ihrer Schenke. Die Sopranistin Anja Kampe hat eine klangschöne und volle Stimme und verkörpert das herzliche Mädchen sympathisch und glaubhaft. Der Tenor Marcelo Álvares überzeugt mich leider nicht mit seiner “tenorigen” Darstellung: Seine schauspielerischen Mittel sind sehr begrenzt, er schreitet treuherzig umher und konzentriert sich auf seine Glanztöne, für die er immer in die Knie geht, um sie dann mit ganzem Körpereinsatz in die Höhe zu stemmen – ich sehe einen Tenor bei der Arbeit und keinen charmanten Ganoven Dick Johnson. Immerhin kommen dann im zweiten und dritten Akt die kurzen Arien, auf die ich die ganze Zeit warte (“Ch’ella mi creda” – hier in meiner Lieblingsinterpretation von Jonas Kaufmann).
Leider kann diese Oper musikalisch und von der Dramatik nicht mithalten mit den drei besten Opern von Puccini (La Bohème, Tosca, Madama Butterfly). Aber ich will nicht meckern, sondern freue mich an dem unvergleichlichen Live-Erlebnis.
Auf der Bühne wird im Finale alles abgefeuert, was das Theaterarsenal zu bieten hat: Gewehrsalven, Rauch und sogar zwei Männer in Flammen taumeln über die Bühne – wenn es jetzt noch eine Klopperei geben würde und jemand eine Flasche über den Schädel zerschlagen bekäme, wäre ich wirklich bei den Karl-May-Festspielen angekommen. Die vordergründige Inszenierung stammt übrigens von Lydia Steier.
Das Publikum applaudiert anhaltend voller Dankbarkeit. Ich gehe beschwingt von dem Musikgenuss über die Museumsinsel zur S-Bahn – hier sind Wiesen und Biergärten in dieser warmen Sommernacht voller Menschen, die einem Massenerlebnis anderer Art frönen. So wie diese Leute über ein Tor jubeln, so jubiliere ich, endlich wieder diese Magie im Opernhaus spüren zu dürfen.
Und wie das bei Süchtigen so ist, brauche ich natürlich sofort den nächsten Trip. Am Montag durchlaufe ich erneut das obligatorische Testprogramm und finde mich wieder in meinem zweiten Wohnzimmer ein.
Dieses Mal höre ich Kompositionen von Peter I. Tschaikowsky: Zuerst das KLAVIERKONZERT NR. 2 G-DUR OP. 44 – hier gefallen mir die Soli vom Cello am besten, das Piano ist nicht mein Lieblingsinstrument – und nach der Pause eine sehr lebhafte ORCHESTERSUITE NR. 3 G-DUR OP. 55. Antonio Pappano dirigiert wieder mit viele Esprit und Leidenschaft und ich lasse mich von der wunderbaren Musik in Phantasiewelten tragen.
Zum Abschied bekomme ich eine Goldmünze und einen Aufkleber von meinem Gastgeber überreicht.
Da fühle ich mich doch gleich eingeladen, am Samstag wiederzukommen – zum konzertanten “Freischütz” von Carl Maria von Weber. Ich nehme alles mit, was ich vor der Sommerpause kriegen kann.
Mein neues Romanprojekt schimmert schon verheißungsvoll am Horizont – meine Protagonistin soll die Wiener Staatsoper in den 1920er Jahren sein. In ihren prunkvollen Mauern, zwischen Sternenstaub und Bühnenstaub zum vielstimmigen Klang des Orchesters soll sich mein Figurenreigen auffächern. Ein Mikrokosmos der Gesellschaft – von kapriziösen Gesangsstars, über Highsociety in den Logen und Bravo- und Buh-Rufern auf den Stehplätzen bis zu den rauen Bühnenarbeitern auf dem Schnürboden trifft hier alles zusammen für das Gesamtkunstwerk und Erlebnis Oper. Als langjährige Opern-Enthusiastin habe ich richtig Lust auf dieses Thema und kenne mich auch ganz gut aus – aber hauptsächlich in der Gegenwart.
Ich mache mich also auf eine Recherche-Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach einer historischen Künstlerin (zunächst schwebt mir eine Prima Donna vor) – die ich in den Mittelpunkt meiner Geschichte stellen kann. Ich surfe im world wide web, aber die richtig Großen dieser Zeit waren alles Männer.
Eine der Glanzgestalten dieser Zeit war Richard Tauber. Ich bestelle seine Biografie und lese eifrig darin: Er war der deutsche Caruso mit der goldenen Stimme, ein Pop-Star seiner Zeit mit unzähligen Schallplattenaufnahmen. Er pendelte zwischen Wien und Berlin, wurde in den 1930ern als Halbjude von den Nazis vertrieben und starb 1948 verarmt im Exil in London. Er war ein großzügiger Lebemann mit einer schrecklichen 1. Ehefrau (Sopran / Soubrette), die ihn erpresst und ausgenommen hat: Carlotta Vanconti – sie eignet sich definitiv nicht als Heldin für meinen Roman – höchstens als Gegenspielerin.
Irgendwie komme ich dann auf Dirigenten – und stelle fest, dass Frauen damals wie heute eine absolute Ausnahmeerscheinung in diesem Metier sind. Der Funke springt über und ich verfolge diese Fährte weiter, finde Anekdoten zu den wenigen Dirigentinnen, die in den 1920er Jahren an der Berliner Philharmonie den Taktstock geschwungen haben. Aber in Wien? Nulla! Die Australierin Simone Young war die erste Frau am Pult der Wiener Staatsoper – dieses Debüt fand im 21. Jahrhundert statt. Ich stoße auf Joana Mallwitz, die bei den Salzburger Festspielen dieses Jahr (2020!) die erste Frau ist, die mit “Così fan tutte” dort eine Oper dirigieren darf.
Welche Erkenntnis ziehe ich daraus: Eine Dirigentin hätte in den 1920er Jahren niemals das Pult des Staatsopernorchesters betreten dürfen. Ich habe eine Eingebung: Sie müsste sich als Mann verkleiden! Meine Protagonistin ist geboren. Ich knüpfe an die literarische Tradition von Shakespeare an und lasse eine Frau in Männerkleidung Furore machen. Amouröse Verwicklungen inklusive. Da denke ich sofort an einen Mentor (natürlich auch ein Dirigent), in den sie sich verliebt, aber sich nicht als Frau offenbaren darf. Und ein machtgieriger Konkurrent kommt ihrer Maskerade auf die Schliche und erpresst sie. Die Travestie bietet jede Menge Möglichkeiten für Verwicklungen und spannungsreiche Konflikte und sogar Komik.
Nun steht meine Reise nach Wien an – zum einen freue ich mich darauf, endlich wieder in Live-Operngenuss zu kommen – zum anderen bin ich begierig darauf, für meinen Roman zu recherchieren. Ich will das Wien der 1920er Jahre hautnah kennenlernen.
Im Vorfeld schreibe ich eine E-Mail an die Info-Seite der Wiener Staatsoper mit Bitte um Kontakt zum Archivar, da mir viele Fragen zu Frauen an diesem Arbeitsplatz auf den Lippen brennen. Ich erhalte keine Antwort. Auch an ein Wiener Musik-Archiv schreibe ich eine Anfrage, aber meine Mail kommt als unzustellbar zurück. Die digitalen Wege führen ins Leere. Bin gespannt, was ich vor Ort herausfinden kann.
Am Montagabend steige ich in den „Nightjet“ nach Wien (12 Stunden Fahrt). Ich teile das Abteil mit zwei jungen Frauen, mache es mir oben auf dem Bett so gut es geht gemütlich und lese in der Tauber-Biografie. Hier kommt gut zum Ausdruck, welch hohen Stellenwert und gesellschaftliche Anerkennung Opern- und Operettensängern in dieser Zeit hatten (es gab nicht so viele multimediale Alternativen wie heutzutage), auch das Publikum ging mit großer Leidenschaft in die Vorstellungen, jeder redete darüber. Auch zu den Gagen und anderen Details werde ich hier fündig.
Nach einer holprigen Fahrt durch Tschechien und wenig Schlaf auf meiner schmalen harten Liege, reißt der Zugbegleiter morgens um 6 Uhr die Abteiltür auf und serviert mir Pfefferminztee (die trockenen weißen Brötchen verschmähe ich). So gestärkt steige ich um 7 Uhr aus dem Zug. WIEN – hier bin ich.
Eine halbe Stunde später komme ich in die Wohnung (sehr zentral an der Karlskirche – nur ein U-Bahn-Tunnel entfernt von der Wiener Staatsoper) meines Airbnb-Gastgebers Christoph – ein Gamben-Spieler (das ist ein historisches Streichinstrument), wie mir das Plakat an der Zimmertür verrät – wie könnte es in dieser Klassik-Hochburg anders sein. In der gemütlichen Altbauwohnung lege ich mich erst mal ein Stündchen ins Bett und starte dann in den Besichtigungstag.
Ich spaziere zuerst zur Staatsoper – diese ausladende Diva, die sich halb versunken als „Erstes Haus am Ring“ seit 1869 breit macht (so dass sie nie komplett auf ein Foto passt), zeigt mir ihr altehrwürdiges Gesicht. Ich war in früheren Jahren schon einige Male hier und habe ein wohliges Wiedersehensgefühl. Im Opernshop unter den Arcaden stöbere ich nach Büchern über die Geschichte des Hause – blättere durch einige und mache Fotos.
Das Highlight des Tages ist der Liederabend von Jonas Kaufmann. Zweieinhalb Stunden vor Beginn stelle ich mich im kalten Wind in die Schlange für die Stehplätze. Dieses Ritual zieht seit 150 Jahren die echten Opernliebhaber an, die hier bei jedem Wetter stundenlang ausharren, um für wenig Geld (3 Euro, es gibt über 500 Stehplätze, in Corona-Zeiten nur noch 156 mit Stuhl für je 10 Euro und auf Abstand) auf den klangschönsten Plätzen ihren Lieblingssängern und Stücken zu lauschen.
Mein standhafter Einsatz wird belohnt und nach einer Stunde halte ich glücklich meine Karte in der Hand (sogar im Parkett).
Das Konzert beginnt um 20 Uhr und ist wunderbar gefühlvoll und nuanciert. Jonas Kaufmann präsentiert mit seinem langjährigen Klavierbegleiter Helmut Deutsch eine Highlights-Zusammenstellung des Liedrepertoires mit teilweise volksliedhaften Stücken (Ännchen von Tharau, Der Mai ist gekommen) und Klassikern des Kunstlieds von Schubert, Schumann, Mozart, Mahler, Strauss und vielen mehr. Eines meiner Favoriten: Die Forelle von Schubert.
Am Mittwoch besuche ich das Ernst-Fuchs-Museum in der Otto-Wagner-Villa (um 1900 im Jugendstil erbaut) – dort trafen sich die Künstler und gesellschaftliche Elite zum Fin de siècle.
In den 1970er Jahren kaufte und sanierte der Maler Ernst Fuchs die Villa. Hier hängen nun seine farbenprächtigen Gemälde im Stil des phantastischen Realismus und jede Menge weiblicher Formen wie im Barock – ganz schön kunstvoller Kitsch. Für meine Roman-Recherche passt diese Epoche zwar nicht, aber vielleicht kann ich mal eine Party-Szene in solch einer Villa spielen lassen.
Nach einer Pause in meiner Wohnung – mit Lachsbrötchen und Kuchen – zieht es mich in den nahen Stadtpark. Mein Weg führt mich vorbei am Konzerthaus und am Musikverein (mit seinem berühmten Goldenen Saal) – keine andere Stadt der Welt hat so viele Konzertsäle und bietet täglich ein solch hochkarätiges Defilee an klassischer Musik.
Im Park wandele ich auf idyllischen Wegen zwischen Wiesen und Schwanenteich, an jeder Ecke ragt eine Statue eines Komponisten auf: Johann Strauss in Gold mit Geige, Franz Lehár und Franz Schubert sind nur einige davon. Die Meister der Klassik und ihr musikalisches Vermächtnis sind allgegenwärtig.
Am Abend mache ich einen Spaziergang in den Prunkstraßen (heutzutage Fußgängerzone) zwischen Hofburg, Staatsoper und Stephansdom und lasse den Wiener Flair auf mich wirken. Am Kohlmarkt und am Graben haben sich alle namenhaften Designer der Welt niedergelassen, hier kann man sein Geld verprassen – wie schon zu Sisis Zeiten. Damit die Touristen auch auf ihre Kosten kommen, stehen die Fiaker im Pferdeduft am Steffl bereit und bei Manner kann man sich mit Haselnussschnitten und Mozartkugeln eindecken.
Meine Recherche will nicht so recht in Fahrt kommen. Eigentlich möchte ich die Lehár-Villa besichtigen – Franz Lehár war der Operettenkönig dieser Zeit und hat Richard Tauber die schönsten Melodien in den Mund komponiert, zum Beispiel: „Gern hab ich die Frau’n geküsst“ aus Paganini, „Hab ein blaues Himmelbett” und natürlich den Welterfolg (in zig Sprachen übersetzt) „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Das Land des Lächelns. Aber eine alte Dame am Telefon sagt mir, dass es wegen Corona zurzeit keine Führungen gibt.
Persönlicher Einsatz ist angesagt, also überwinde ich meine Bittsteller-Scheu und frage zunächst an der Opernkassa und dann beim Pförtner im Bühneneingang der Wiener Staatsoper nach einer Kontaktmöglichkeit zu deren Archiv. Dass ich mich persönlich im Archiv umschaue, komme leider nicht infrage. Die Oper sei zurzeit eine Festung und wegen Corona komme niemand rein, außer man arbeitet dort. Aber der Pförtner schreibt mir Namen und Telefonnummer der Leiterin des Musikarchivs auf. Am Donnerstagmorgen rufe ich dort an. Nein, sie habe nur Noten, aber Herr Dr. Lang sei wohl der richtige Ansprechpartner. Mit ihm spreche ich, er ist freundlich und gibt mir seine E-Mail-Adresse, ich solle mein Anliegen schriftlich an ihn richten. Das mache ich zu Hause sofort. Bin gespannt, ob ich von dort Informationen erhalte – ich hätte gerne eine Übersicht, in welchen Bereichen Frauen an der Staatsoper in den 1920ern gearbeitet haben und ob z.B. die Gage für eine Sopranistin deutlich niedriger war, als für einen Tenor etc.
Aber es muss in Wien doch irgendeine Ausstellung, ein Museum geben, das mir Eindrücke über die Lebensart der gesuchten Epoche gibt. Ich versuche es im Theatermuseum (auf der Webseite brüsten sie sich mit Künstler-Memorabilia). Nein, zurzeit haben sie nur eine Puppenausstellung.
Ich versuche es beim Wiener Stadtmuseum – dort rühmen sie sich mit einer großen biografischen Theater-Sammlung. Nein, diese sei leider zurzeit geschlossen. Das Wien-Museum hat auch über die Stadt verteilt Komponisten-Wohnungen im Angebot (u.a. Mozart, Beethoven, Schubert), aber die lebten und wirkten alle vor der Epoche meines Interesses.
Es ist wie verhext. Wien zeigt mir seine prunkvollen Fassaden und Schmuckstücke aus der k.u.k. Monarchie, man kann Musiker in historischen Kostümen Mozart musizieren hören, im Fiaker ins Kaiserreich zurück traben, weiße Pferde spanische Hofreitschule vortänzeln sehen und im Kaffeehaus Sachertorte mit Melange genießen. Das Kaiserreich lebt ewig – die 1920er Jahre scheinen im Nebel des Vergessens verschwunden zu sein.
Ich will meine bittere Enttäuschung mit einem Griesstrudel im Griensteidl (im 19. Jahrhundert ein Künstlertreffpunkt) an der Hofburg versüßen – aber ein Blick hinter die Fassade offenbart: Das Traditionshaus ist seit meinem letzten Besuch von einem Damenmodeladen verdrängt worden.
Was ist nur los? Wo finde ich Zeugnisse dieser Ära nach dem Zusammenbruch der Monarchie, die bewegten Jahre der ersten österreichischen Republik, der Inflation und Armut, dem Mut zum Neuanfang, dem Nachhängen der Monarchie? Welche Rolle haben die Künstler in dieser Zeit gespielt? Ich komme ihnen einfach nicht auf die Spur. Wien ist eine keusche Kurtisane, die sich hinter dem schönen Schleier der Vergangenheit verbirgt. Wien ist eine kapriziöse Künstlerin, die ihr Maske niemals absetzt.
Am Donnerstag unternehme ich einen weiteren Versuch: Das Haus der Geschichte Österreichs ab 1918 in der Hofburg scheint eine gute Anlaufstelle zu sein. Diese gigantische Anlage mit Heldenplatz hat schon Hitler 1938 mit winkenden Massen willkommen geheißen.
Heute steht dort immer noch ein mächtiges Reiterstandbild von Prinz Eugen (Feldherr für die Habsburger in den großen Türkenkriegen um 1700) – völlig unreflektiert und in heroischer Verklärung. Ich bin gespannt, wie Österreich in dem Museum mit seiner eigenen Geschichte umgeht. Die Ausstellung setzt sich durchaus selbstkritisch mit der Verstrickung in den Nationalsozialismus auseinander. Es gibt einen Zeitstrahl nach Dekaden von 1918 bis in die Gegenwart mit Werbeplaketen und viel Text zum Lesen. Ich fühle mich ziemlich überfordert angesichts dieser Informationsflut.
Im Bereich der 1920er Jahre schaue ich mich genauer um. Geldscheine und „Betteln und Hausieren Verboten“-Schilder weisen auf die Inflation und Armut hin. Über Künstler entdecke ich fast nichts. Für Frauen war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schwierig, denn sie wurden aus ihren Berufen von den heimkehrenden Soldaten oft wieder hinausgedrängt und endeten vielfach in der Prostitution. Der Körperkult mit Turnvereinen kam auf – auch Frauen machten Sport und sollten ihre Körper fit halten – hier kündigte sich schon nationalsozialistische Ideologie an.
Die Ausstellung endet mit Conchita Wurst als Barbiepuppe – sie ist offenbar die Symbolfigur Österreichs für Toleranz und Überwindung von Geschlechterklischees. Wie diese glamouröse Bartträgerin wohl in den 1920er Jahren von den Wiener aufgenommen worden wäre?
Resigniert sehe ich ein, dass ich dem Künstler-Wien der 1920er vor Ort nicht auf die Spur kommen kann. Damit ich diese Epoche wiederauferstehen lassen kann, muss ich wohl doch in Büchern suchen.
Am diesem Donnerstag tröstet mich aber ein anderes Highlight: Heute wird „Don Carlos“ an der Wiener Staatsoper gegeben. Pünktlich um 15 Uhr stehe ich wieder in der Stehplatzschlange (und sehe einige bekannte Gesichter vom Dienstag wieder), dieses Mal sind 30 Leute vor mir, nach eineinhalb Stunden habe ich meine Karte ergattert – dieses Mal in der Galerie.
Um 17:30 Uhr geht es los – über fünf Stunden Verdi in der französischen Urfassung – die Verdi nach der misslungenen Premiere in Paris 1867 gründlich überarbeitete. 1884 feierte Don Carlo dann seinen Durchbruch – auf vier Akte gekürzt und mit italienischem Libretto – das gesungen viel emotionaler klingt. Hier ein schönes Beispiel des berühmten Freundschafts- und Freiheitsschwurs zwischen Carlos und Rodrigue – wie auch in Schillers literarischen Vorlage.
Es könnte so schön sein, wenn der Regisseur sich nicht nach Kräften bemüht hätte, die Figuren ins Lächerliche zu ziehen. Immerhin begeistert mich wieder Jonas Kaufmann in der Titelpartie.
In den zwei langen Pausen flaniere ich in den Prunkräumen (an jeder Tür stehen Desinfektionsspender und es herrscht natürlich Maskenpflicht und Abstandsgebot).
Während der Aufführung bekomme ich wieder einen Eindruck vom heiligen Ernst, mit dem die Zuschauerinnen und Zuschauer dem Opernereignis beiwohnen – es ist wie ein kirchliches Ritual, das Publikum kennt die Regeln und muss sie einhalten – unter dem wachsamen Blick der Platzpolizei (wehe jemand verlässt seinen zugewiesenen Sitzplatz, dann wird man sofort verhaftet und abgeführt – auch schon vor Corona) und der gegenseitigen Erziehung zu bester Manier – da gehört das „SSSSCHT“-Zischen noch zu den dezenten Methoden. Meine Sitznachbarin (immer mit einem freien Stuhl dazwischen) fängt einen Kleinkrieg mit dem alten Ehepaar hinter sich an, die Greisin hinten will auf den tiefen Untertitelmonitor an der Armstütze der Despotin schauen, die es ihr verbietet („Ihr Monitor ist da oben!“) und extra ihren Schal darüber hängt. Im Dunkeln kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen den älteren Damen.
In der Pause holt die Bevormundete eine Platzanweiserin zur Hilfe, die hilflos über ihre Maske schaut und sagt, sie könne die Despotin nicht zur Raison bringen. Dann kommt ein durchsetzungsstärkerer Kollege hinzu und fordert die Regelpocherin auf, ihre Maske aufzusetzen (sie trägt nur einen Schal halb über dem Mund), sie weigert sich zickig, hinterfragt die Regel („Jetzt geht das Licht aus, da darf ich meine Maske absetzen“), der Platzanweiser will seine Macht ausspielen und fordert sie auf, ihre Karte vorzuzeigen (reine Schikane), die Frau weigert sich, jetzt kommt der Dirigent herein, gleich beginnt die Vorstellung. Um einen Tumult zu vermeiden, zieht sich der Platzanweiser zerknirscht zurück. Die dreiste Dame hat gewonnen und sich erfolgreich mit jedem in ihrer Umgebung angelegt. Sie ruft laut „Buh“ und „Bravo“ in die Stille des vollen Saals (mit 1.250 Plätzen ausverkauft) – was eigentlich gute Tradition und Vorrecht der Kenner auf den Stehplätzen ist, aber in Corona-Zeiten eigentlich unterlassen werden soll, wegen Spucke und Aerosol. „Die will immer auffallen“, flüstert das alte Ehepaar von hinten und wir tauschen vielsagende Blicke aus, es hat sich eine stumme Allianz aus den Beobachtern und Verlierern des Schlagabtauschs gebildet.
Am Freitag steht meine Abreise um 22 Uhr mit dem Nachzug an. Den Tag will ich mir eigentlich mit einem Museumsbesuch (Kunst aus dem 20. Jahrhundert) verschönern, aber schon morgens beim Haarewaschen überkommt mich ein Schwindelanfall – von den heftigen Schmerzen im rechten Arm, die mich seit gestern morgen plagen. Es scheint eine Muskelüberlastung vom Koffertragen auf der Hinreise zu sein. Jede Bewegung des Arms jagt mir Schmerzen wie Messerstiche durch den Körper. Wie soll ich so den Tag herum bringen geschweige denn meinen Koffer zum Bahnhof schleppen und die lange Nacht auf der harten Liege ausharren? Ich beschließe, in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu gehen in der Hoffnung auf eine Schmerz stillende Spritze. Vorher bringe ich mühevoll (mit Links) meinen Koffer in ein Schließfach am Hauptbahnhof und schlängele mich gegen 13 Uhr zwischen Notarztwagen zum Aufnahmeraum vom Rudolfstift. Die diensthabende Ärztin bietet mir ein Schmerzmittel per Tropf an. Okay. Ich werde in ein Vorzimmer mit Liegestühlen geführt, eine armer Tropf mit Rückenschmerzen hängt schon am Tropf. Ich dann auch. Nach 10 Minuten bekomme ich einen Kreislaufkollaps – ich alarmiere meinen Sitznachbarn, der nach Hilfe ruft, bevor ich wegkippe. Viele Stimmen um mich herum, ich werden im Stuhl flach gelegt und unter Aufregung („Kollaps“-Rufe) in den Notfallraum gefahren, dort sprechen sie über mich und ich soll auch etwas sagen (ob ich heute schon gegessen und getrunken habe), schaffe das aber nicht. Man misst meinen Blutdruck (extrem niedrig) und nimmt eine Blutprobe. Ich bekomme einen zweiten Tropf mit Flüssigkeit. Nach einigen langen Minuten bin ich wieder ansprechbar.
Den Nachmittag verbringe ich im Ruheraum des Hospitals auf meinem Liegestuhl und zittere vor mich hin. Eine Krankenschwester sieht ab und zu freundlich nach mir – hier sprechen alle Ärzte und Pfleger mit osteuropäischem Akzent – das ist auch so eine Wiener Besonderheit und kommt noch aus der k.u.k.-Zeit – es gibt viele Zuwanderer aus Tschechien, Ungarn und Rumänien. Um 17 Uhr fühle ich mich einigermaßen stabil, obwohl ich mich vor der langen Rückfahrt und meinem unzuverlässigen Körper fürchte. Ich bekomme Entlassungspapiere und einige Paracetamol-Tabletten (das Mittel aus dem Tropf zeigt keine durchschlagende schmerzstillende Wirkung) und auf meinen Wunsch auch Beruhigungstabletten, damit ich die Bahnfahrt durchstehen. Noch 5 Stunden bis zur Zugabfahrt und ich bin heimatlos.
Mir ist nach Natur und frischer Luft, also fahre ich in den Prater – den ich noch nicht kenne. Vom Riesenrad aus spaziere ich im Park umher und entlang der Hauptallee, die mit über 4 Kilometern die längste Kastanienallee Europas ist. Ich sammle zwei Kastanien als Souvenirs auf.
Hier färbt sich das Laub der Bäume schon herbstlich bunt, aber mir summt “Im Prater blüh’n wieder die Bäume” im Ohr herum – eine Wiener Schnulze von Robert Stolz – der mir sogar als steinernes Monument begegnet.
Ich denke darüber nach, wie es wohl für eine Dirigentin sein muss, wenn sie ihren Arm nicht mehr bewegen kann. Dann kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ich muss meine Schmerzen einfach als lebensnahe Recherche betrachten.
Als es dunkel wird, fahre ich zurück ins Zentrum und kehre in meinem Lieblingskaffeehaus Diglas ein (das es zum Glück noch gibt) und lasse mir dort eine warme Kürbissuppe schmecken. Der Kellner hat einen durchsichtigen Plastik-Mundschutz und fragt mich beim Bezahlen: „Brauchen Sie ein Lächeln?“ – was ich gerne annehme, aber eigentlich hat er „Rechnung“ gesagt.
Gegen 21 Uhr mache ich mich auf den Weg zum Hauptbahnhof, gehe zum Abschied noch an meiner alten Bekannten der Staatsoper vorbei, die monumental und divenhaft ihr Geheimnis hütet. Um 22 Uhr fährt der Zug aus. Ich habe ein Abteil für mich alleine und falle auf der schmalen Liege sogar für einige Stunden in einen tiefen Schlaf – dank der Medikamente.
Mein rechter Arm hat sich immer noch nicht erholt und ich tippe diese Zeilen unter Schmerzen – aber das gehört zum Autorinnen-Leben wohl dazu.
Das war also meine Recherchereise – mit vielen Eindrücken und auch einer Portion Drama.