Blogparade #bks11: Digitale Einsamkeit – Papagena im Netz

Das Finale! Der BKS-Jahrgang 11 schließt sein Blog-Projekt mit einer Blogparade ab! In dem Beitrag werden alle Wörter eingebaut, die in der Wortwolke stehen. Die Blogparade startet ab sofort und endet am 11. Juni. Source: Blogparade #bks11: Digitale Einsamkeit

Papagena im Netz

Ich arme Spielerin

trage mein Herz in meinen Augen

gebannt auf schwarzem Bildschirm

mein Berührungsbildschirm

Horst-hot-hot-hot folgt dir jetzt

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scream

Folge mir, dann folge ich dir

post, klick, post, klick

ich zähle meine follower

Daumen hoch, Stimmungshoch

MiaMoon gefällt das

Du bist jetzt mit LMacBeth befreundet

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scream

Berühre mich, dann berühre ich dich

ein date im Schattenwald

mit Schattengestalten

im digitalen Dickicht

Vogelfänger1791 lädt dich ein, seine Seite mit „gefällt mir“ zu markieren

BigBang gefällt das

SPAM Postfach: 82 neue Nachrichten

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touch my screen

poor player

scream

Sei mein Spiegel, mein Spiegel sei du

Buchstaben sind meine Boten

saugen mich ein, saugen mich aus

shitstorm die große Schreibfreiheit

Tim011101 gefällt das

Sieh mich!

hör mich!

post, post, klick, post, post, klick

Herz im Schatten

berühre mich!

post, post, klick, post, post, klick

fang mich!

Datendarling

sei mein Echo nach dem escape button

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_________

 

Hier das Line-Up der BKS11-Parade (wird laufend ergänzt):

Das verlorene Spiegelbild“ von Mia.Nachtschreiberin

„Zwei Einsamkeiten“ von Hedda Lenz

„Planet Romeo (ein Prequel)“ von Urs Kuenzi

Zwischengang mit Abgesang – Elisabeth zu zweit im Netz“ von der Küchenmarie

„Was ist eine Blogparade?“ von Nikolaus W. Ledermann

„Seelenflucht“ von Feodora Blaubart

„Brennen, allein“ von Miss Amy Novice

„Netzraum“ im Raum in mir

„Gestrandet zwischen 0 &1“ bei Mo…Saiks Runen

Woche 12: Abhörstation Teufelsberg – Künstlerkolonie und zeitloses Echo

Warum hier:

Ich kenne die weißen Radarkuppeln der verlassenen Abhörstation bisher nur von Bildern – aber ihre mysteriöse Aura, der Geist der Vergangenheit und die künstlerische Schaffenskraft der Gegenwart ziehen mich magisch an.

In Zeiten des Kalten Kriegs hatten die Amerikaner (NSA) und Briten auf dem Trümmerberg (passend zum nahen See bald „Teufelsberg“ genannt) eine „Field Station“ errichtet und spionierten mit Radarantennen in 4 Radomen jahrzehntelang (ab 1955 bis 1990) den Funkverkehr der DDR und der UDSSR aus.

1992 gaben die Amerikaner das Gelände auf und es folgten wechselhafte Zeiten. Die Pläne von Privatinvestoren für eine Luxusanlage scheiterten. Das Areal wurde als „Lost Place“ ein Pilgerort für Abenteurer und Künstler und blieb auch nicht von Vandalen und Dieben verschont. Jetzt wird der Ort von einer Künstlerkolonie belebt und kann in geregelter Form besucht werden.

Heute mache ich mich also auf Entdeckungsreise in den Grunewald und möchte herausfinden, wie viel von Himmel und Hölle ich heute noch auf dem Trümmerberg finde.

Zur Einstimmung:

„Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein ganz leises Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert. Außerdem konnte Winston, solange er in dem von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden. Es bestand natürlich keine Möglichkeit festzustellen, ob man in einem gegebenen Augenblick gerade überwacht wurde. Wie oft und nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einen Privatapparat einschaltete, blieb der Mutmaßung überlassen. (…)

Nun war er im Begriff, ein Tagebuch anzulegen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, da es ja keine Gesetze mehr gab), aber falls es herauskam, war er so gut wie sicher, daß es mit dem Tode oder zumindest fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeitslager geahndet werden würde. (…)

Tatsächlich war er nicht mehr gewöhnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von ganz kurzen Notizen war es üblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, aber das war natürlich in diesem Fall unmöglich. (…)

Der erste Federstrich über das Papier war die entscheidende Handlung. In kleinen unbeholfenen Buchstaben schrieb er: 4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Zunächst einmal war er sich durchaus nicht sicher, daß jetzt wirklich das Jahr 1984 war.”

Aus: „1984“ von George Orwell

Der Ort:

Heute (Freitag) ist der bisher heißeste Tag des Jahres in Berlin (30°C) und ich wandere auf der Teufelsseechaussee durch den Grunewald – von der S-Bahnstation Heerstraße sollen es laut Google Maps nur 2,6 km bis zu meinem Ziel sein, aber ich habe mich verlaufen. Was auch daran liegt, dass nirgendwo ein Schild auf die Abhörstation verweist. Geheimhaltung ist wohl auch heute noch die Losung. Irgendwann stoße ich auf den „Drachenfliegerweg“. Vor mir schlängelt sich der Weg ins Grüne, ich sehe nichts als Bäume.

Also kraxele ich den künstlichen Drachenberg (kleiner Teufelsberg) hinauf und auf dem Plateau habe ich freie Sicht in alle Richtungen. Ich stehe hier auf einigen Millionen Kubikmetern Trümmerschutt aus dem 2. Weltkrieg, darunter begraben liegt noch das Fundament für ein größenwahnsinniges Bauprojekt der Nazis. Heute ist der Berg ein Freizeitgelände. Junge Leute liegen in der Sonne und Teenager lassen Segelflieger steigen.

Süd-westlich vor mir erheben sich auf dem Teufelsberg weiß in der Sonne schimmernd die fast sakral anmutenden Radar-Kuppeln wie Himmelskörper.

Jetzt kenne ich die Richtung und gelange über eine Treppe zurück auf den Waldweg. Später wieder Weggabelungen ohne Schilder, ich frage zwei Mädchen, sie deuten mir einen kleinen Pfad, wenn ich am umgestürzten Baum vorbei käme, sei ich richtig. Dann endlich treffe ich auf einen dreifachen Zaun mit Stacheldraht.

Ein schwarzer Pitbull springt mir entgegen und leckt an meinem Bein – kein Wachhund, er gehört zu Spaziergängern. Diesmal habe ich ein Ticket in der Tasche und gehe am Zaun entlang auf der Suche nach dem regulären Zugang.

Schließlich finde ich (gegen 17 Uhr) den Eingang. Ein junger Künstler-Typ mit rot-blonden Locken und von Alkoholdunst umgeben, heißt mich willkommen und erklärt mir lachend, von Hinweisschildern würden sie nichts halten, der Ort sei aus Tradition geheim. An einem Kontrollpunkt mit Flair einer Pirateninsel schaut sich ein entspannter Jüngling mit Rasterlocken mein Ticket (für eine „Stille Begehung“) an und ich trage mich in eine Gästeliste ein – vor mir waren heute schon Besucher aus Québec, Paris und Potsdam hier.

Auf dem Gelände haben die Künstler überall ihre Spuren hinterlassen. Mal sehe ich Gerätschaften und Utensilien für eine Arbeit in ihrer Entstehung, dann fällt mein Blick auf eine Serie klobiger TV-Geräte, auf deren blinde Scheiben ein Künstler in Neonfarben Wahrzeichen Berlins gemalt hat.

Ich gehe um eine Wegbiegung und vor mir liegt eine Art Dorfplatz am Fuße des Hauptgebäudes – hier sitzen viele Leute gesellig zusammen, eine Holzkonstruktion dient als Bar und Liegestühle und Sessel laden zum Verweilen ein.

Die meisten hier sind Männer mit langen Haaren und Bärten, einer von ihnen spricht mich freundlich an und erklärt mir, wo ich mir was anschauen kann. Ich frage ihn, ob er schon lange hier wohnt. Er zögert. Ich formuliere um: „lebt und arbeitet“, woraufhin er mit „seit 3 Jahren“ antwortet. Ich fühle mich hier als Gast in dieser kleinen Welt, nicht wie eine Touristin.

Ich schaue mich weiter um, gehe hier und dort hinein. In den flachen, bunkerartigen Nebengebäuden wirkt alles wie im Rohbau, Kabel hängen aus den Decken. Die Räume sind als Atelier oder als Ausstellungsraum genutzt.

Ein großer offener Raum mit Sofas dient offenbar als Gemeinschaftswohnzimmer der Bewohner.

Im Außenbereich sind auch einige Spuren von Verwahrlosung und Zerstörung sichtbar. Neben einem blauen Dixiklo liegt ein Haufen Plastikteile mit Audiokassetten (Abhörbänder?). Ich bin mir nicht sicher, ob das auch Kunst ist.

Ins Hauptgebäude mit dem Trio der höchsten Radome auf dem Dach führt eine knallig bunte Außentreppe. Auf 3 Etagen des skelettartigen Baus sind die halb abgerissenen Mauern mit monumentalen Graffiti gestaltet.

Hier mischen sich werkelnde Künstler mit den zahlreichen Besuchern. Ich sage mal zu allen „Hallo“, weiß nicht so genau, wer hier Bewohner und wer Besucher ist (Letztere outen sich allerdings mit Kamera um den Hals, so wie ich).

Dann endlich trete ich auf das riesige Flachdach in Sonnenschein und Wind. Erhaben und geheimnisvoll wölben sich die Kuppeln über meinem Kopf.

Ich trete ins Innere einer Kugel, eine kleine kreisrunde Erhöhung markiert die Mitte wie in einer Zirkusmanege, rundum spannt sich die weiße Plane um die Stahlkonstruktion wie ein Erdballon auf.

Der weiße Stoff wurde zur Leinwand der farblichen Gestaltung und hat im unteren Bereich viele Löcher, die im Gegenlicht manchmal Formen und Figuren annehmen. Der Wind lässt die Bespannung flattern und bringt sie zum klingen.

In der Mitte reckt sich ein mehrstöckiger schmaler Turm mit der höchsten Kuppel empor. Ich gehe die Treppen ein Stück hinauf, dann wird der Weg finster und ich kehre um.

Ich spaziere eine Weile auf dem Dach umher und genieße den Weitblick – in einer Richtung wogt ein Meer von Bäumen, in der anderen die Zivilisationslandschaft mit ihren Dächern, Schornsteinen und Türmen.

Dann setze ich mich auf den Boden, lehne meinen Rücken gegen eine der warmen Holzpaletten, die hier als Geländer dienen, und hole meinen Schreibblock hervor.

Ich denke an den Kriegstrümmerhaufen unter mir und die ehemals fensterlosen Räume, in denen Tausende von Menschen einer eintönigen Geheimtätigkeit nachgehen mussten, Wächter und Gefangene zugleich.

Blick auf den Trümmerberg “Drachenberg”

Aber von diesen Geistern spüre ich im Moment nichts mehr. Der Ort ist verwandelt worden, befreit von Dunkelheit und Farblosigkeit. Jetzt fluten Licht, Farben und Wind durch die Räume und Kreativität und Lebenslust schwingen umher wie die Schmetterlinge, die ich vor mir in der Abendsonne tanzen sehe. Selbst die Seiten meines Blocks werden vom Wind umgeblättert.

Ich kann denken, sprechen und schreiben, ohne befürchten zu müssen, von einer Orwellschen „Gedankenpolizei“ bestraft zu werden.

Im Westen sinkt die Sonne und im Osten ziehen graue Wolken wie ein Schleier über die Silhouette der Stadt.

Ich würde hier am liebsten noch länger sitzen bleiben, aber ich denke an meine Rückwanderung durch den Grunewald und verlasse schließlich die magische Dachterrasse.

Kurz vor dem Tor kommt mir der rot-blond-gelockte Bohemien entgegen und fragt, ob ich alles gesehen hätte, auch ganz oben? Ich verneine. Kann man da hoch? Im Dunkeln? Man brauche eine Taschenlampe, er will mir eine holen. Wenig später kommt er wieder und gibt mir ein metallenes Monstrum aus dem vorigen Jahrhundert mit großer Leuchtkraft. „Die heißt Robert“, teilt er mir noch mit.

Also spurte ich wieder zurück zum Hauptgebäude und alle Treppen hoch auf die Terrasse, dann in den Turm, hier wieder Treppen, eng und dunkel, aber mit der Taschenlampe namens Robert finde ich meinen Weg.

Schwer atmend betrete ich die düstere Kuppel („dome“), nur eine kleine Öffnung lässt Licht herein – und höre sofort unheimliche Geräusche – dann merke ich, dass es das Echo meines eigenen Atems ist. Die Akustik des Raums ist unbeschreiblich. Vogelschreie von draußen, Stimmen, Flüstern und Schritte von drinnen – alles verbindet sich zu einer surrealen Geräuschkulisse.

Auf der Innenseite der Kuppel ragen düster zwei männliche Gestalten mit strengen Gesichtszügen und ausgebreiteten Armen über mir – jetzt muss ich sofort an Orwells „Big Brother“ denken.

„Auf jedem Treppenabsatz starrte ihn gegenüber dem Liftschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es gehörte zu den Bildnissen, die so gemalt sind, daß einen die Augen überallhin verfolgen. »Der Große Bruder sieht dich!« lautete die Schlagzeile darunter.”

Aus: „1984“ von George Orwell

Auf meinem Weg nach unten kommen mir die Bemalungen im Treppenhaus gleich viel bedrohlicher vor. So habe ich am Ende doch noch die Beklemmung einer Überwachung spüren können.

In heutigen Zeiten, wo selbst Kinderpuppen gehackt und zur Überwachung eingesetzt werden können, scheint mir die Orwellsche Dystopie doch nicht so fern.

Das gewisse Extra:

Die Akustik in der Kuppel lässt Musik so klingen:

DoubtingThomas – Field Station Berlin Teufelsberg

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★★★☆

Inspiration

★★★★★

Teufels-Echo-im-Künstler-Himmel-Faktor

★★★★★

Woche 11: Spreepark – Vom stillen Riesenrad und grenzenlosen Zäunen

Warum hier:

Der verlassene Spreepark lockt mich schon seit Langem mit seinem Riesenrad, das geheimnisvoll beim Treptower Park über die Baumwipfel lugt. Der Vergnügungspark liegt heute hinter einem Zaun in einem Dornröschenschlaf. Für mich hält er den Zauber meiner Kindheit – es sind nicht die Fahrgeschäfte, sondern die Entdeckungsfreude und der Optimismus, mich in eine unbekannte Umgebung zu wagen und mich in meiner Fantasie wie die Heldinnen und Helden aus den Romanen meiner Kindertage zu fühlen.

Wie Winnetou und Old Shatterhand in der Prärie umher schleichen oder wie Momo und Gigi Fremdenführer im alten Amphitheater ferne Welten imaginieren.

Zur Einstimmung:

Die ganze Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit.“

Aus „Momo“ von Michael Ende

Der Ort:

Im Schatten der Bäume spaziere ich mit meiner jüngeren Schwester Leonie in Richtung Riesenrad – wir können es von hier aus nicht sehen, aber ich versichere ihr, dass es ganz bestimmt da ist.

Vor uns taucht ein stabiler Metallzaun auf. In regelmäßigen Abständen warnen Schilder vor dem unbefugten Betreten und drohen Verfolgung durch Hunde und Strafgerichte an – vor den Hunden fürchte ich mich mehr. Aber als echte Indianerin will ich mich jeder Mutprobe stellen. Also gehen wir auf dem Spazierweg am Zaun entlang. Bald funkelt links von uns das Spreewasser, auf dem Boote schaukeln. Viele Radfahrer und Spaziergänger drehen auf dem Uferweg ihre Runden.

Durch den Zaun kann ich ein rot-gelbes Zelt sehen, dann einen kleinen hölzerner Bahnhof mit Uhr. Dichtes Gras wuchert über die schmalen Gleise, auf denen schon lange keine Bimmelbahn mehr gefahren ist.

Bestens instand gehalten ist jedoch der Zaun. Am Boden sind an vielen Stellen Betonschwellen und Stahlstifte mit Draht von innen angebracht, um ein Untergraben des Zauns zu verhindern.

Hier gibt es kein Durchkommen. Auch die Bäume nehmen wir genau in Augenschein – hier und da könnte ein Stamm und ein Ast das Herüberklettern ermöglichen, aber die Metallspitzen auf dem oberen Rand haben einiges Verletzungspotenzial – das Risiko ist uns zu groß.

Aber so schnell geben wir nicht auf. Und schließlich sehen wir das Riesenrad durch den Zaun, wie es in stiller Würde einen perfekten Kreis in den Himmel malt.

Wir haben das Gelände schon fast umrundet und sind auf dem Rückweg, als Leonie eine Stelle mit weichem Erdboden am Zaun entdeckt und zunächst spielerisch mit Stock und Fuß eine kleine Mulde gräbt.

„Aber da passen wir nie und nimmer durch“, sage ich.

„Wenn der Kopf durchpasst, dann geht auch der Rest des Körpers durch. Das hat ja auch schon bei unserer Geburt geklappt“, sagt Leonie. Und sie vermisst prompt mit ihrem Stock die Mulde und meinen Kopf – passt.

Ich halte entgegen, dass sich meine Körpermaße seit meiner Geburt nicht nur absolut, sondern auch proportional verändert hätten.

Aber sind wir nicht Mitspielerinnen in einem Abenteuerroman? Wer kann schon sagen, ob die nachfolgende Erzählung Fiktion oder Realität ist? Gigi Fremdenführer wird sie sicherlich gefallen.

Bevor noch mehr Spaziergänger neugierig unsere Grabungsarbeiten begutachten und ein selbsternannter Ordnungshüter auftaucht, lege ich mich kurzentschlossen auf den Boden und schiebe meinen Kopf mit zusammengekniffenen Augen unter dem Metallrand des Zauns hindurch (eine Erdbehandlung für meine Haare inklusive) – und tatsächlich, auch Oberkörper und Beine kann ich mit Luftanhalten unter dem Zaun durch quetschen. Auch Leonie gelingt die enge Passage – ganz ohne Hebamme.

Wir suchen erst mal Deckung in einem nahen Betonschuppen, hier begrüßt uns ein toter Vogel. Dann pirschen wir weiter Richtung Riesenrad, müssen aber an einem Verwaltungshaus in der Mitte vorbei, dort steht ein kleines Auto vor der Tür. Plötzlich kommt ein mächtiger Typ ganz in Schwarz um die Ecke: „Security“. Wir hechten hinter die nächste Hauswand. Hoffentlich hat er uns nicht gesehen.

Mit einigem Herzklopfen tasten wir uns weiter ins Gelände vor, zwischen den Bäumen hindurch und stoßen dann auf die Bahngleise. In bester Westernmanier folgen wir den Gleisen, jetzt können wir im Laufschritt voran kommen und bald finden wir Sichtschutz vor dem gefürchteten Sicherheitsmann. An die Hunde wollen wir jetzt nicht denken.

Vor uns erhebt sich das herrliche Riesenrad – es steht still wie die Zeit – umgeben von einem ausgetrockneten See. Ein längliches Holzschiff mit frech aufgerolltem Bug ruht von seinen Abenteuerfahrten aus.

Am Ufer des Sees erhebt sich eine bunte Häuserzeile – ein Geisterdorf, das uns ganz alleine gehört. Dort hängt eine Brezel über der Tür – vielleicht war hier früher eine Bäckerei… Hier könnten wir Kaufmannsladen spielen.

Ich fühle mich zurück versetzt in meine Kindheit – das Spielen mit meinem Schwestern, bei dem jeder Ort in etwas Magisches verwandelt werden konnte und Raum und Zeit den Regeln unserer Fantasie folgten.

Gerne würde ich hier länger bleiben und jeden Winkel dieser abgeblätterten Zauberwelt erkunden, aber eine atemlose Unruhe schwingt immer mit. Jeden Moment könnten wir entdeckt werden. Aber auch dieses Gefühl von ominöser Gefahr und Vergänglichkeit des Spiels macht seinen besonderen Reiz aus.

Schließlich treten wir den Rückzug über die Gleise an.

Was ich von diesem abenteuerlichen Ausflug mit nach Hause nehme, ist mehr, als die Erde in den Gesäßtaschen meiner Jeans. Es sind diese Eindrücke von Selbstüberwindung und Wunscherfüllung.

Oft geht es mir so, dass ich in meiner Fantasie und insbesondere auch beim Schreiben Orte erkunden und erschaffen kann, die für mich körperlich nicht erreichbar sind. Schreibend kann ich jede Begrenzung überwinden (außer im paradiesischen Schreibland geht ein böser Zauber namens Schreibblockade um).

Heute habe ich es mal umgekehrt gemacht und mich den physischen Grenzen eines realen Ortes gestellt. Diese Sinneseindrücke und die Expedition ins Unbekannte sind Dinge, die ich auf mein Schreiben übertragen möchte. Auch in meiner imaginären Welt möchte ich Neuland entdecken.

Das gewisse Extra:

Eine letzte Fahrt auf dem Riesenrad.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★★★

Keine-Riesenra(d)tlosigkeit-bei-Zaunzensur-Faktor

★★★★★

Woche 10: Kapitulationssaal in Karlshorst – Kriegsende und schreibend Frieden finden

Warum hier:

Schon oft bin ich am Deutsch-Russischen-Museum in meiner Wohngegend vorbei spaziert. Aber ich habe mich nie dazu animiert gefühlt, hinein zu gehen. Das liegt wahrscheinlich an den Panzern im Vorgarten. Nach meinem Aquariumsbesuch hatte ich mir schon einen Entdeckungsort für meine Woche 10 im Blog ausgesucht, aber als ich am Dienstag wieder an dem grauen Museums-Haus vorbei gehe, fängt das rote Banner „8. Mai“ meinen Blick ein.

Zuhause sehe ich auf der Homepage des Museums, dass in diesem Gebäude die deutsche Kapitulationserklärung unterzeichnet wurde.

Wenn mein Blog-Montag schon auf diesen historischen Tag fällt und in meiner Nachbarschaft Geschichte geschrieben wurde – dann nehme ich das als Zeichen an und widme mich also heute diesem Thema.

Mein hauptsächliches Interesse gilt aber nicht der Nacherzählung durch die Historiker, sondern ich möchte Menschen zu Wort kommen lassen, die ihre Erlebnisse aus diesen Tagen schriftlich festgehalten und verarbeitet haben – im Tagebuch und in Briefen.

Zur Einstimmung:

Als ich 2015 als Touristin in Berlin war, wurde an einigen Orten in der Stadt an das Kriegsende am 8. Mai 1945, also vor 70 Jahren erinnert.

Seinerzeit habe ich in einem Antiquariat in Kreuzberg das Buch „Eine Frau in Berlin – Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945“ von Anonyma entdeckt. Auf der Bahnfahrt nach Hause habe ich sofort mit dem Lesen begonnen.

Die Verfasserin beschreibt ihren täglichen Überlebenskampf in den Ruinen Berlins unter Bombenangriffen und dem Einmarsch der Roten Armee mit schonungsloser Detailtreue, ohne Selbstmitleid und mit erstaunlichem Humor. Aber bald reiht sich eine nach der anderen Vergewaltigung der Schreiberin in ihren Tagesablauf. Beim Lesen wurde mir derartig beklommen zumute, dass ich das Buch geschlossen und danach nicht wieder geöffnet habe.

Heute schlage ich das Buch wieder auf – mein Lesezeichen steckt noch auf Seite 82 – und lese gefesselt und unter Anspannung weiter.

Zunächst jedoch der Beginn der Chronik:

„Freitag, 20. April 1945, 16 Uhr

Ja, der Krieg rollt auf Berlin zu. Was gestern noch fernes Murren war, ist heute Dauergetrommel. Man atmet Geschützlärm ein. (…) Zwischendurch Stunden von unheimlicher Lautlosigkeit. Plötzlich fällt einem der Frühling ein. Durch die brandschwarzen Ruinen der Siedlung weht in Schwaden Fliederduft aus herrenlosen Gärten. (…) Gegen drei Uhr fuhr am Kiosk der Zeitungsfahrer vor. Es lauerten ihm schon zwei Dutzend Leute auf. (…) Gar keine richtige Zeitung mehr, bloß noch eine Art Extrablatt, zweiseitig bedruckt und ganz feucht. Im Weitergehen las ich als erstes den Wehrmachtsbericht. Neue Ortsnamen: Müncheberg, Seelow, Buchholz. Klingt verdammt märkisch und nah. (…)

Wieder oben in meiner Dachwohnung. Mein Zuhause ist sie nicht. Ich hab keins mehr. (…) Jetzt, wo alles weg ist und mir nur ein Handkoffer mit Kleiderkram bleibt, fühle ich mich nackt und leicht. Weil ich nichts mehr habe, gehört mir alles. Zum Beispiel diese fremde Dachwohnung. (…) Systematisch habe ich alle Schränke und Schübe nach etwas Brauchbarem abgesucht, das heißt nach Eßbarem, Trinkbarem, Brennbarem. (…)

Eingeklemmt in einer Schubladenritze fand ich einen Brief an den Wohnungsinhaber. Ein verliebter Liebesbrief, hab ihn im Bad weggespült. Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt mit dem Essen.“

Der Ort:

Heute wird im Deutsch-Russischen-Museum das Museumsfest zum 8. Mai gefeiert. Als ich gegen 14 Uhr im Nieselregen auf der Rheinsteinstraße auf das Gebäude zugehen, ist die Straße zu meinem Erstaunen von mindestens 20 grünen und blauen Polizeibussen gesäumt und es wimmelt vor Uniformierten.

Auf dem Gelände des Museums geht es jedoch ganz friedlich zu. Auf der Wiese sind Essensbuden und Zelte aufgebaut. Es tummeln sich Besucher und auch jede Menge Journalisten.

Ein Blick zurück:

Um den Kapitulationssaal und die Dauerausstellung in Ruhe auf mich wirken zu lassen, habe ich schon am Samstagmittag einen ersten Rundgang im Museum gemacht. Auch einige ältere Herrschaften, die russisch sprechen, und drei junge Amerikaner gehen durch die Ausstellung.

Im Kapitulationssaal umfängt mich andächtige Stimmung. Auf einer Leinwand läuft ein Video (ohne Ton), das die Ankunft der militärischen Repräsentanten und die Unterzeichnung der Urkunden im Saal zeigt. Die Mienen der Männer in Uniform sind vom Ernst und der Tragweite des Augenblicks geprägt – jedoch habe ich einige Schwierigkeiten, auf den schnell geschnittenen schwarz-weiß Bildern die Gesichter einem der Namen von der Infotafel und die jeweiligen Uniformen und Abzeichen dem jeweiligen Land zuzuordnen.

Hier dieselben Videoaufnahmen aus der britischen Berichterstattung – die Kommentare und die unterlegt Musik geben einen subjektiv gefärbten Eindruck. Aber jetzt weiß ich zumindest, wer wer ist…

Die Tische im Saal stehen heute genauso, wie damals. Unter Glas sehe ich mir die Faksimile der Urkunden an: Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte auf 3 Seiten. Es wurden drei Exemplare in englischer und je ein Exemplar in russischer und in deutscher Sprache unterzeichnet. Buchstaben und Schriftzüge auf Papier, die das Weltgeschehen verändert haben.

Was hat die Frau aus Berlin an diesem Tag in ihr Tagebuch geschrieben?

„Dienstag, 8. Mai 1945

(…) Es war die Grindige, Frau Wendt, sie hat das Gerücht vernommen, daß Frieden sei. In Süd und Nord soll der letzte ungeordnete deutsche Widerstand zerschlagen sein. Wir haben kapituliert. Die Witwe und ich atmen erleichtert. (…) Unten beim Bäcker drängt sich viel Volk. Dabei gibt es heute noch gar kein Brot, nur Nummern für das Brot für morgen oder übermorgen. (…) Jedenfalls ist die Aussicht auf Brot das erste Zeichen dafür, daß sich oben jemand um uns kümmert. Ein zweites Zeichen klebt unten neben der Haustür: ein Blatt in vervielfältigter Maschinenschrift, ein Aufruf, unterzeichnet von einem Bezirksbürgermeister Dr.Soundso. Der Aufruf fordert zur Rückgabe allen aus Läden und Ämtern gestohlenen Gutes auf (…). Weiter heißt es, daß alle Waffen abgegeben werden müssen. (…)

Donnerstag, 10. Mai 1945

(…) Zum ersten Mal sehen wir an einigen Häusern rote Fahnen, vielmehr Fähnchen – offenbar aus ehemaligen Hakenkreuzfahnen herausgeschnitten. Die Fähnchen sind – wie könnte es anders in unserem Land sein? – von Frauenhand sauber umsäumt. (…)

Montag, 14. Mai 1945

(…) Neben unserer Haustür kleben jetzt gedruckte „Nachrichten für Deutsche“. Das Wort klingt mir in diesem Zusammenhang so fremd in den Ohren, fast wie ein Schimpfwort. Auf dem Blatt ist der Text unserer bedingungslosen Kapitulation zu lesen, unterzeichnet von Keitel, Stumpff, Friedeburg.”

Im Museum zeigt die Dauerausstellung im Nebenraum ein Diorama aus dem Jahr 1967 von Michail Ananjew (aus dem Grekow-Studio für Kriegsmalerei): „Sturm auf den Reichstag“ der Roten Armee am 30.04.1945 mit Kanonendonner und Gefechtsgeräuschen untermalt. Ich fühle mich sehr befremdet von dieser Kriegsverherrlichung. Immerhin gibt es eine Erläuterungstafel, die das Diorama in einen historischen Kontext stellt (ich hätte mir mehr kritische Distanz dazu gewünscht).

Im Treppenhaus auf meinem Weg nach oben leuchtet im bunten Fensterglas eine heroische Statue mit Schwert.

Im Obergeschoss werden in einem Rundgang mit unzähligen Texttafeln, Landkarten, Vitrinen und Fotos die Gräueltaten unter dem Nazi-Regime dargestellt. Ich bin hiervon immer wieder aufs Neue erschüttert.

Anonyma hat hierfür schon in ihrem Tagebucheintrag vom 15. Juni 1945 Worte gefunden:

„Ackerte mich durch einen Band Dramen von Aischylos und entdeckte dabei die Perserklage. Mit ihren Wehschreien der Besiegten paßte sie gut zu unserer Niederlage – und paßte doch gar nicht. Unser deutsches Unglück hat einen Beigeschmack von Ekel, Krankheit und Wahnsinn, ist mit nichts Historischem vergleichbar. Soeben kam durchs Radio wieder eine KZ-Reportage. Das Gräßlichste bei all dem ist die Ordnung und Sparsamkeit: Millionen Menschen als Dünger, Matratzenfüllung, Schmierseife, Filzmatte – dergleichen kannte Aischylos doch nicht.”

Auch die „Schlacht um Berlin“ wird mit Fotos und Texten thematisiert. In einer schmalen Glasvitrine sind stellvertretend für das Schicksal unzähliger deutscher Frauen, die von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt worden sind, 4 kleine Krankenblätter aus der Charité Berlin von 1945 ausgestellt.

Worte einer fremden Sprache

Das Schicksal von sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern wird ausführlich dargestellt. Ein Deutsch-Russisch-Wörterbuch mit Vokabular für Fabrikarbeit erweckt meine Aufmerksamkeit.

Passend hierzu schrieb Anonyma am 1. Mai 1945 in ihr Tagebuch (die Rote Armee hat Berlin inzwischen eingenommen und russische Soldaten sind in ihr Haus eingefallen):

„Er gab mir ein kleines Heft, ein deutschrussisches Soldatenwörterbuch. (…) Es steht eine Menge sehr nützlicher Vokabeln darin, wie Speck, Mehl, Salz. Andere wichtige Wörter wie „Angst“ und „Keller“ fehlen. Auch das Wort „tot“. Ich ersetze es durch das gut verständliche „kaputt“, das noch für vieles andere passt.”

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kriegserlebnisse die Betroffenen auch in ihrer eigenen Sprache oft ohne Ausdrucksmöglichkeit zurück gelassen haben.

Worte als Waffe

In der Ausstellung werden viele Dokumente der Nazis, wie z.B. ein „Merkblatt zur Bewachung sowjetischer Kriegsgefangener“ gezeigt. Mir fällt wieder der demagogische Einsatz von Sprache auf, wenn ich die menschenverachtenden Befehle im Behördendeutsch lese. Genauso werden Hass und Ideologie durch Wort und Bild auf Postern und anderen Druckerzeugnissen transportiert.

Das Schicksal deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion nach Kriegsende wird auf einer kleinen Stellwand im Flur abgehandelt.

Im Keller widmet sich ein Raum der Zeit nach dem Krieg und es werden Heimatverlust, Rückkehr und fehlende Aufarbeitung der Geschichte (Verdrängung, einseitige Darstellung, verweigerte Opferentschädigung, Strafverfolgung der deutschen Täter) thematisiert.

Auch die Zahl der Toten und Verletzten des 2. Weltkriegs sind hier aufgeführt. Unvorstellbare Zahlen.

Aber wie erging es dem einzelnen Menschen nach dem Krieg? Millionen von traumatisierten Menschen in ganz Europa und auch in Asien, Amerika und Afrika. Für viele kam die Zeit des Schweigens.

Worte finden

In einer kleinen Vitrine in einer Ecke sehe ich den metallenen Trinkbecher eines deutschen Kriegsgefangenen mit einem Zettel für seinen Enkelsohn.

Wie schwer ist es diesem Mann wohl gefallen, nach all den Jahren diese Zeilen zu schreiben?

Viele Betroffene haben es erst Jahrzehnte später geschafft, ihre Erlebnisse in Worte zu fassen.

Davon zeugen auch die Briefe von sowjetischen Kriegsgefangenen.

Heute höre ich ihren Worten zu. Ich gehe in den Wintergarten.

Ein Mann und eine Frau lesen Briefe aus dem Buch „Ich werde es nie vergessen“ vor. Dieses Buch ist auf Initiative des Vereins „KONTAKTE-KOHTAKTbI“ entstanden. Der Verein setzt sich u.a. für die Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener ein, leistet humanitäre Hilfe und engagiert sich für geschichtliche Aufklärung und Verständigung.

Die Briefe der Betroffenen sind in den Jahren 2004 bis 2006 geschrieben worden (und für das Buch ins Deutsche übersetzt). Die Verfasser der Briefe beschreiben ihre schmerzhaften Erlebnisse während des Kriegs, in Kriegsgefangenschaft als Zwangsarbeiter und ihre Schwierigkeiten nach der Rückkehr in ihre Heimat.

Olga ist jetzt Rentnerin und lebt in Brest. Sie war im Jahr 1941 als Krankenschwester in einem Sanitätsbataillon der Roten Armee eingesetzt und wurde von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. Sie musste tagelang zu Fuß gehen, viele starben bei diesem Marsch. Bis März 1945 musste sie in verschiedenen Lagern arbeiten. Oft gab es nur 200g Brot pro Person morgens, mittags eine Suppe und abends nur Kaffee. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung durch die Rote Armee hatte sie eine 2 Monate alte Tochter namens Vera. Mit dem Säugling wanderte sie über einen Monat lang zu Fuß in ihre Heimat nach Litauen zurück. Ihre Tochter hat überlebt. Sie beendet ihren Brief mit „Teilnehmerin am Großen Vaterländischen Krieg”.

Andrej wurde in Schlesien von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. Er und die anderen Gefangenen lebten monatelang in Erdlöchern, 20 Menschen mussten sich 1 Brot teilen, einmal am Tag bekamen sie Suppe in ihre Feldmütze ausgeschenkt, Essgeschirr gab es nicht.

Später hat er in einem Arbeitslager in einer Zementfabrik gearbeitet. Er erinnert sich an die Suppe einer Köchin, die sie alle „Mutter“ nannten. Er hat diese Frau in guter Erinnerung und möchte auch den Ort wieder aufsuchen, aber auf seine Bitte hat er eine Absage erhalten.

„Damals konnte ich nicht schreiben.“

Vassili ist jetzt 87 Jahre alt. Er geriet 1941 in Kriegsgefangenschaft. Seine Gefangenennummer lautete 131.141, sie hing ihm an einer Schnur um den Hals. Er litt darunter, dass er keine Post nach Hause senden oder empfangen durfte. Er arbeitet in einem Bergwerk in Dortmund und hat dort Kohle befördert. Das Essen war knapp. Er ist nur nicht verhungert, weil er Pantoffeln nähen konnte und diese gegen Brot eingetauscht hat.

„Es ist schwer, mich zu erinnern, noch schwerer, darüber zu schreiben. Aber Frieden kann man wirklich erreichen. Wir sind doch alle Menschen. Ich wünsche mir Frieden und gegenseitiges Verstehen.”

„Iwan“ – so haben ihn die Aufseher genannt, obwohl er anders hieß. Er war 15 Jahre alt, als er von der Roten Armee eingezogen wurde. In Frankreich geriet er in Kriegsgefangenschaft.

„Alles Schlechte ist vorbei und vergangen. Ich erzähle Ihnen von einem guten Menschen. Vom Koch Keck“.

Iwan musste als Küchenhilfe arbeiten. Der Koch Keck hat ihn vor Schlägen der Aufseher beschützt und ihm schwere Arbeit abgenommen (wie Wassertragen), wenn er zu entkräftet dafür war.

„Ich habe beim Briefschreiben Tränen in den Augen. Ich wünsche mir Frieden.“

Ich bin zutiefst berührt, diesen Erinnerungen zuzuhören. Soviel Leid spricht daraus, aber auch Mut und vor allem auch der Wunsch nach Versöhnung und die Fähigkeit, zu vergeben.

Meine Notizen

Nach der Lesung drehe ich eine Runde durch den Garten. Auf der Rückseite des Hauses steht eine Reihe von Panzern, dahinter eine Hüpfburg.

Einige Leute lassen sich mit zwei jungen Männern in historischen (?) Uniformen fotografieren.

Über eine Leiter geleiten einige Eltern ihre kleinen Kinder in einen Panzer. Dieser Anblick verursacht mir Unwohlsein.

Ich trete den Heimweg an. Jetzt wird mir auch klar, warum soviel Polizei vor Ort ist. Gerade haben sich etwa 30 Menschen zu einer Demonstration gegen Neonazis und Rassisten zusammen gefunden. Ein junger Mann spricht vernünftig ins Megafon.

Fünfzig Meter weiter die Straße hinunter auf der Gegenseite stehen 7 Gestalten in Schwarz, mit Deutschlandfahne und einem Banner mit Nazi-Parolen, dazu tönt pathetische Trauermusik aus ihren Boxen. Das einzige, was diesem jämmerlichen Haufen Gewicht verleiht, sind die unzähligen Pressefotografen, die eifrig Bilder machen – und natürlich die Hundertschaft von Polizisten.

Was ich noch sagen möchte

Heute feiern wir den Frieden. Der 8. Mai 1945 markiert das Kriegsende. Wie lange hat es wohl gedauert, bis die betroffenen Menschen aller Nationalitäten inneren Frieden gefunden haben? Mit ihrem erlittenen Leid und auch ihren (Un-) Taten. Manchen ist es vielleicht im Wege des Schreibens gelungen.

Mich lässt der heutige Tag sehr nachdenklich zurück. Und ich bin dankbar für mein Glück, in einem Land in Freiheit und ohne Krieg zu leben. An vielen Orten dieser Welt ist das leider (noch) Utopie.

Das gewisse Extra:

Imagine” von John Lennon

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort

Genauso wenig, wie man menschliches Leiden ermessen oder gegeneinander aufwiegen kann, möchte ich für meine Eindrücke eine skalierte Bewertung abgeben.

Woche 9: Aquarium – Von Geräuschfluten und einer kleinen Meerjungfrau

Warum hier:

Ich bin immer noch in Märchenstimmung und möchte heute in die Welt der „kleinen Meerjungfrau“ eintauchen – das Märchen von Hans Christian Andersen übt schon seit langem eine besondere Faszination auf mich aus. Die Wasserwelt – ein Ort voller Geheimnisse und ein Element, das nicht für uns Menschen geschaffen ist und gerade deshalb entdeckt werden möchte – die Tiefe, Stille und Dunkelheit des Ozeans mit seinen Bewohnern aller Farben und Formen. Ich möchte den Fischen bei ihrem Wasserballett zusehen, ihre Anmut und Langsamkeit genießen. Wie ist es wohl, wenn man unter Wasser nichts hört, oder können Fische hören? Auf jeden Fall sind andere Sinne im Spiel.

Genauso, wie sich die kleine Meerjungfrau nach der Sonne und der Welt der Menschen sehnt, zieht mich die Wasserwelt an. Also gehe ich heute in das Aquarium des Zoologischen Gartens und hoffe auf einen Eindruck von der geheimnisvollen Welt.

Zur Einstimmung:

„Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume, und so klar wie das reinste Glas, aber es ist dort sehr tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht, viele Kirchtürme müßten aufeinandergestellt werden, um vom Grunde bis über das Wasser zu reicher. Dort unten wohnt das Meervolk. (…) Das war eine Pracht, wie man sie auf der Erde nie sehen konnte. (…) Man konnte all die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern schwammen. Bei einigen schimmerten die Schuppen purpurrot, bei anderen wie Silber und Gold. Mitten im Saale floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweiblein zu ihrem eigenen herrlichen Gesang. So süßklingende Stimmen gibt es bei den Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfer sang am schönsten von allen, und alle klatschten ihr zu, und einen Augenblick lang fühlte sie Freude im Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen im Wasser und auf der Erde hatte! Aber bald dachte sie doch wieder an die Welt über sich; sie konnte den schönen Prinzen nicht vergessen und auch nicht ihren Kummer darüber, daß sie nicht, wie er, eine unsterbliche Seele besaß.“

Aus: Die kleine Meerjungfrau (dänisch: „Den lille Havfrue”) von Hans Christian Andersen, von 1837

Der Ort:

Ich komme am Bahnhof Zoologischer Garten an und mein Blick fällt gleich auf die langen Warteschlagen vor dem Zoo. Heute ist der 1. Mai und alle Welt scheint in Ausflugslaune zu sein. Ich gehe die Budapester Straße entlang und gleich neben dem Elefantentor finde ich den Eingang ins Aquarium. Das Gebäude beherbergt schon seit über 100 Jahren Fische und Reptilien. Die Reliefs und Mosaiken an der Fassade zeigen prähistorische Tiere – und bauen eine Brücke in fantastische Welten und wecken meine Vorfreude.

Im Kassenbereich tönt mir ein Stimmengewirr und Kreischen aus dem Foyer entgegen – ich muss sofort an ein Hallenbad denken – und wäre am liebsten umgekehrt. Aber drinnen werden sich die Leute schon verteilen, denke ich. Irgendwo finde ich bestimmt eine ruhige Ecke, wo ich mich zum Schreiben hinsetzen und den Fischen meditativ beim Schwimmen zuschauen kann.

Drinnen ist die Hölle los! Durch die dämmrigen Gänge schieben sich hektische Kinder mit ihren noch hektischeren Eltern, die gefliesten Wände und Glasflächen der Aquarien werfen den Schall zurück. Ich werde vom Menschenstrom von Becken zu Becker gedrängt. Ja, da sind viele bunte Fische, die auch ganz hektisch schwimmen.

Damit bloß niemals Stille einkehrt, sind überall Lautsprecher in der Decke, die Meeresrauschen von sich geben.

Hier und da stehen ein paar Bänke herum, aber mich hier hinzusetzen und zu schreiben – nein, sogar meine eigenen Gedanken werden von diesem Lärm übertönt.

In einem Dreieck laufen die Wege zusammen und ich sehe die größten Becken vor mir. Hier wird gerade ein Kindergeburtstag gefeiert, mit Pappgeschirr und Kuchen auf den Bänken. Ich tauche wieder in einen Nebengang.

Dort zieht mich ein Becken mit weiß-bläulichen Quallen an – oder sind es gar Aliens?

Die Wesen haben lichtdurchlässige Körper mit Fäden und Knospen, die sich wie Wellen bewegen, ständig ihre Form verändern und fast körperlos wirken.

Ich kann meine Augen gar nicht abwenden und könnte ihnen stundenlang zuschauen, wenn nicht neben mir ein Fotoapparat Rotlicht schießen würde. Dann brüllt mir ein Vater was ins Ohr, weil sein Kind nicht gehorcht. Irgendetwas in meinem rechten Auge beginnt zu zucken und ich ergreife die Flucht.

Ich beschließe, die unbeliebtesten Tiere suchen zu gehen – vielleicht ist dort ja weniger Trubel. In der 1. Etagen sind die Reptilien untergebracht. Aber auch hier sind die Gänge voller Menschen und Stimmen.

In einem Terrarium dreht eine riesige Schildkröte auf ihren Zehenspitzen ihre Runden, als wolle sie einen Weltrekord aufstellen.

Woanders sind im Sand Cowboyboots und ein Totenschädel drapiert, was die Schlange in diesem Westernszenario aber herzlich wenig interessiert. Eine grüne Echse balanciert auf der metallenen Fensterbank entlang, rutscht immer weg und tastet mit einem Fuß die Scheibe ab, als suche sie einen Ausweg aus ihrem Gefängnis.

Hier spielen die Lautsprecher eine andere Platte ab – irgendein Zirpen.

Ich hechte eine Treppe höher. Im 2. Stock gibt es Insekten. Das interessiert doch bestimmt niemanden. Weit gefehlt. Ich hätte nicht gedacht, dass Glaskästen mit Ameisen und Fliegen so viele Besucher anziehen können.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster – von hier aus kann ich Häuser, Himmel und die Gedächtniskirche sehen – und sehne mich nach draußen.

Also wieder die Treppe hinab. Zufällig stolpere ich in die Krokodil-Halle. In diesem Glashaus umfängt mich warme, feuchte Luft, ein Wasserfall plätschert und unter Palmenwedeln und einigen Heizlampen liegen völlig bewegungslos 3 Krokodile. Diese wunderbare Gelassenheit. Hier ist es auch stiller, aber die Besucher haben nur Platz auf einer kurzen Brücke, ich werde bald wieder von Nachkommenden hinaus gedrängt. Ein Krokodil müsste man sein!

Aber es zieht mich doch zu den Unterwasser-Welten zurück. Ich gehe noch einmal zu den Quallen und bewundere ihren wunderschönen Tanz.

Dann kehre ich zu dem farbenreichsten der Becken zurück: Hier schillern die Fische in buntem Überschwang und mein Blick folgt mal dem einen, mal dem anderen.

Die kleine Meerjungfrau kommt mir wieder in den Sinn. Sie musste ihre schöne Stimme der Hexe opfern, damit diese den Fischschwanz der Meerjungfrau in Beine verwandelt und sie so in die Menschenwelt gehen und dem Prinzen gegenübertreten kann.  Wie wäre es, wenn die Menschen auch ihre Stimmen am Einlass hergeben und die Wasserwelt mit stummem Staunen erleben würden?

Aber bevor ich ins traumhafte Wasserreich abtauchen kann, werde ich seitlich angestoßen – ich stehe jemandem beim Selfie im Weg. Inzwischen klingelt es auch in meinen Ohren und ich rette mich zum Ausgang.

Das, was ich hier gesucht habe, kann ich wohl nur in meiner Fantasie finden.

Das gewisse Extra:

Die Unterwasserwelt hat nicht nur Schriftsteller, sondern auch Filmemacher inspiriert. Hier ein kleines Kontrastprogramm (lasst euch überraschen):

Video 1

Video 2

Diese Musik voller Wehmut und Sehnsucht führt die Fantasie auf eine Reise in die Wasserwelt. Die Oper Rusalka von Antonín Dvořák (aus dem Jahr 1900) ist eine musikalische Umsetzung der Undine-Sage und des Märchens von Andersen.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★☆☆

Schallwellen-Faktor

★★★★★

Woche 8: Die märchenhafte Grimm-Bibliothek – Von Kobolden und Yoga-Kühen

Warum hier:

Bücher, Bücher, Bücher – was könnte inspirierender sein? Ich mache mich auf eine Entdeckungsreise in das Grimm-Zentrum, die Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Schon oft bin ich an dem prägnanten Gebäude mit der S-Bahn vorbei gefahren, jetzt wird es Zeit, das Innere kennenzulernen.

Schon die Namensgeber führen mich in meine Kindheit zurück – in die Welt der Märchen und zum Ursprung des Geschichtenerzählens.

Jacob und Wilhelm Grimm haben nicht nur das deutschsprachige Volksmärchen aus der mündlichen Überlieferung in eine schriftliche Form gebracht, sie waren auch die Mitbegründer der Linguistik und Philologie in Deutschland und habe u.a. das Deutsche Wörterbuch erstellt – eine einmalige Sammlung des Wortschatzes mit Nachweisen zur Wortherkunft und -bedeutung.

Zur Einstimmung:

Es war einmal eine Prinzessin namens Rotbäckchen. Sie war wunderschön, aber auch hochmütig und selbstsüchtig. Als bösen Kobolde die Erde zum Stillstand brachten und es sieben Jahre lang keinen Wechsel mehr von Tag und Nacht und von Jahreszeiten gab, waren Erde und Menschen in großer Not. Da zog die Prinzessin aus, um die Welt zu retten…

Der Ort:

Im hellen Foyer des Grimm-Zentrums wuseln wissensdurstige Menschen geschäftig umher. Ich folge dem Strom hinunter zu den Schließfächern. Dort bringe ich meine Sachen unter und muss über den Automaten mit bunter Füllung schmunzeln, der statt Kaugummi Ohrstöpsel ausspuckt.

Auf 7 Etagen reihen sich Bücherregale in striktem Muster im langen Rechteck des Gebäudes aneinander.

Ich gehe auf die Suche nach dem Grimmschen Wörterbuch (den Standort habe ich in der Suchmaschine ermittelt). Auf dem Weg in die 5. Etage verirre ich mich ein wenig. Im siloartigen Betontreppenhaus ohne Fenster und mit einer Wandinschrift („Lost“) kommt bei mir gleich ein bisschen „Hänsel und Gretel“-Stimmung auf.

Hinter der schweren Metalltür des 5. Stockwerks liegt aber kein Lebkuchenhaus, sondern die Germanistikabteilung. Auch hier suche ich meinen Weg durch einen Wald von Regalen mit Ziffern und langen Nummern.

Schließlich werde ich fündig: Das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm hat 31 Bände und nimmt mehr als 1 Regallänge ein. Ich nehme mir den Band A und Z vor und schaue mir einige Worte vom Anfang („Aas“ – hier begegnet mir bei den Literaturbeispielen wieder Mephisto) und einige vom Ende an („Zizibe“ – juchu, ich habe ein neues Wort gelernt).

Aber wo finde ich einen Grimmschen Märchenband? Ich versuche mein Glück in der 7. Etage in der „Kinderstube“ (der Bereich ist reserviert für Schwangere und Eltern mit Kind – im Moment ist hier niemand, also gehe ich hinein, obwohl ich diese Kriterien nicht erfülle).

Hier finde ich zuerst neben einem knallig orangen Bällebad nur zeitgenössische Kinderbücher, z.B. ein Buch „Bleib gesund mit den Yoga Kühen“.

Aber dann, in der hintersten Ecke, stoße ich auf 3 alte Bände aus dem Jahr 1953 mit brüchigen und vergilbten Seiten: „Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“. Ich schmökere in König Drosselbart und Frau Holle. Viele der Märchen kenne ich noch gar nicht, z.B. „Des Teufels rußiger Bruder“.

Nun ist der akademischen und nostalgischen Recherche Genüge getan und ich suche mir einen Platz zum Schreiben.

Das Herzstück der Bibliothek ist der lang gestreckte terrassenartige Arbeitssaal mit regelmäßiger Holztäfelungen und Fenstern. Hier sitzen unzählige Studierende vor ihren Notebooks und Büchern und lesen und schreiben – wie Arbeitsbienen in einen riesigen Bienenstock. Ich höre leises Rascheln und Tippen, manchmal prasselt ein Regenschauer auf das Glasdach, dann fallen wieder Sonnenstrahlen herein.

Hier sitze ich nun und lasse meine Gedanken in die Märchenwelt schweifen.

Was sind die wichtigsten Zutaten eines Märchens?

  • eine Hauptfigur, die eine charakterliche Reise macht – entweder ist sie schon „gut“ und wird in Versuchung geführt, oder sie hat noch schlechte Eigenschaften und muss zur Läuterung geführt werden
  • ein Gegenspieler (z.B. Stiefmutter), eine böse Kraft (z.B. Hexe), ein Fluch
  • Märchenzahlen wie 3, 7 und 12
  • Zauberkräfte, übernatürliche Ereignisse, Gegenstände mit magischen Eigenschaften
  • Menschen, die sich in Tiere verwandeln oder umgekehrt, sprechende Tiere
  • ein beschwerlicher Weg mit Prüfungen und Entbehrungen für die Hauptfigur
  • eine helfende Kraft (z.B. Königssohn küsst die Prinzessin wach) oder Besinnung auf die eigenen Tugenden
  • Belohnung für die Guten, Bestrafung für die Bösen, eine Moral der Geschichte
  • Märchen sind auch Spiegel der Gesellschaft und zeigen Missstände auf

Das gewisse Extra:

Schon auf meinem Hinweg fällt mir am Bahnsteig dieser Unhold auf – ich habe ihn mir gleich als Märchenbösewicht vorgemerkt.

Inspiriert von meinen Eindrücken aus der Grimm-Bibliothek und natürlich ihren Märchen habe ich aus den genannten Zutaten am Sonntag ein Märchen geschrieben.

Möchtet ihr wissen, wie es Prinzessin Rotbäckchen auf ihrer Reise ergeht?

Ich kann schon verraten, dass sie auf einen tanzenden Storch und eine Yoga-Kuh trifft und auch Aas, Bienen und Zizibe vorkommen. Auch hat sich heimlich eine Liebesgeschichte eingeschlichen, obwohl das gar nicht mein Plan war.

Ich hoffe, ihr findet Vergnügen an:

Prinzessin Rotbäckchen und der siebenjährige Tag

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★★★☆

Inspiration

★★★★★

Kindheit-trifft-Germanistik-Faktor

★★★★★

Woche 7: Tempelhofer Feld – Osterspaziergang mit Faust

Warum hier:

An diesem Ostersonntag zieht es mich aus meinem Studierzimmer ins Freie – obwohl sich Regen, Hagel und Sonnenschein minütlich abwechseln. Und wer wäre ein besserer Begleiter für meinen Osterspaziergang, als Faust? Und welcher Ort „vor dem Tor“ Berlins bietet ein freies Feld für naturverbundenes Spazieren: Das Tempelhofer Feld.

Zur Einstimmung:

Wer gerade bei „naturverbunden“ geschmunzelt hat, der lausche doch bitte in meinem Video auf das Vogelgezwitscher der Feldlerche (und ist hoffentlich schwindelfrei):

Der Ort:

Faust begrüßt mich, ich kann seine Worte über das Kirchengeläut kaum verstehen. Er hat die ganze Nacht in seinem Studierzimmer verbracht und steckt gerade ziemlich in der Krise.

Ich selbst war eben im Ostergottesdienst in der Evangelischen Kirche bei mir um die Ecke (zum ersten Mal) – dort habe ich in der Predigt von der Auferstehung Jesu gehört und wie wir Menschen auch aufstehen und den Stein von unserem eigenen Grab der Gewohnheiten rollen müssen und einen Weg zur Selbstbefreiung und zur Öffnung für neue Erfahrungen finden sollen – im Glauben.

Faust will davon nichts hören. Mit der Religion hat er es wohl nicht so – aber die Gretchenfrage überlasse ich lieber einer anderen. Trotzdem ist auch Faust auf der Suche nach Befreiung – Befreiung aus seiner eigenen Begrenztheit. Sein Leben lang strebt er schon nach höherem Wissen („was die Welt im Innersten zusammen hält“).

Faust stampft mit schnellem Schritt und gesenktem Kopf vor mir her. Seinen redseligen Gehilfen Wagner haben wir zum Glück abgeschüttelt.

In der S-Bahnstation tummeln sich viele Leute beim Bäcker und im Blumenladen – einige erkennen Faust und grüßen ihn respektvoll mit „Herr Magister“ und „Herr Doktor“. Faust nickt darauf nur mürrisch. Ja, er ist Gelehrter in den Fächern Philosophie, Jura, Medizin und Theologie – und trotzdem findet er keine Antwort auf seine existenzielle Frage.

„Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor“, murmelt Faust vor sich hin. Ich hoffe, seine Laune bessert sich noch.

Endlich öffnet sich das Tempelhofer Feld vor uns und ein kräftiger Regenschauer begießt uns. Die Fläche aus Asphaltbahnen und Wiese dehnt sich scheinbar unendlich aus. Im Moment ist hier kaum jemand außer uns unterwegs.

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.”

Tatsächlich leuchtet die Wiese grün und die Natur erobert sich ihr Recht zurück.

„Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.”

Die Sonne könnte sich heute schon ein bisschen mehr ins Zeug legen. Blumen sehe ich hier wirklich nicht, dafür unvermutet eine Bauminsel.

Ich bin schon ziemlich durchnässt (ans Schreiben in mein Notzibuch ist nicht zu denken), mein roter Regenschirm scheint mir im Moment der einzige Farbklecks zu sein.

Faust lächelt milde, als mir mein Schirm beim fotografieren mal wieder vom Wind weggerissen wird. Er lässt den Regen über seine Wangen laufen und fühlt sich wohl in diesem unbeherrschbaren Wechselspiel der Natur.

Auf dem weiten Feld kommt Bewegung auf – wir sehen Menschen auf Fahrrädern und anderen Fortbewegungsmitteln einher sausen (warum tragen alle Leute schwarz?).

Plötzlich deutet Faust auf ein Tier im Gras, das uns seit einiger Zeit aus der Ferne umkreist.

„Trägt etwa auch der Osterhase Schwarz“, scherze ich. Doch Faust meint, es sei ein Pudel. Ich glaube, er irrt sich (seine Augen sind nicht mehr die Besten, das kommt vom vielen Lesen bei Kerzenschein…).

„Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.”

Jetzt kommt die Sonne doch ein bisschen beständiger zum Vorschein und im Nu strömen mehr Leute auf das Feld.

Mein Regenschirm bekommt Gesellschaft in Form eines roten Drachens – der schon beim zweiten Anlauf mit im Wind klatschenden Flügeln in den Himmel aufsteigt.

Warum kommen die Menschen hierher? Jeder von ihnen strebt nach etwas. Nach Befreiung aus dem Alltag, nach Bewegung, nach Alleinsein, nach Gemeinschaft, nach Stille – die großen Lebensfragen werden hier wahrscheinlich nicht beantwortet. Aber was man hier erleben kann: Einen Moment der inneren Freiheit.

„Ich höre schon des Dorfs Getümmel;
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet Groß und Klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Faust und ich kommen nach unserer großen Runde wieder zum Eingang. Meine Kleidung ist immer noch durchnässt und meine Frisur für heute ruiniert, aber ich habe rote Wangen von Wind und Regen und fühle mich beschwingt. Faust ist auch guter Stimmung. Wir verabschieden uns. Den lästigen Pudel kann ich mit der S-Bahn zum Glück abhängen.

Das gewisse Extra:

Hier ein kleiner Ausblick, wie es Faust nach dem Osterspaziergang (in Bild und Ton) weiter ergeht. Während er noch vom Erlebnis auf dem Felde schwärmt, schleicht sich der Pudel in seiner wahren Gestalt in Fausts Studierzimmer. „Dai campi, dai prati“ aus „Mefistofele“ von Arrigo Boito (aus dem Jahr 1868) – eine meiner Lieblingsopern.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★★☆

Pudelnass-Faktor

★★★★★

Woche 6: Deutsches Technikmuseum – Rendezvous mit Roboter Tim

Warum hier:

Normalerweise würde es mindestens 11 Pferde brauchen, um mich ins Technikmuseum zu schleppen. Aber eine besondere Attraktion lockt mich an: Der Museumsroboter Tim.

Schon seit der Antike hat der Mensch immer wieder versucht, eine künstliche Figur nach seinem Ebenbild zu erschaffen – einen künstlichen Menschen, der mit den Mitteln der Mechanik, der Elektronik und manchmal auch der Magie seinem Schöpfer nicht nur an Intelligenz gleicht, sondern auch über das Unbegreifliche verfügen soll: eine Seele.

In der Literatur und auch in anderen Kunstformen ist diese Hybris des Menschen (Mannes) und sein tragisches Scheitern immer wieder beschrieben. Heute will ich den Berliner Roboter kennenlernen und bin gespannt, ob er mich zum Schreiben inspirieren kann.

Zur Einstimmung:

Der Ort:

Im Hauptgebäude des Deutschen Technikmuseums nähere ich mich ein wenig widerstrebend der Computer-Abteilung. Hier stehe ich dem ersten elektromagnetischen Computer von Konrad Zuse (Z3) von 1941 gegenüber. Metallschalter und Kabel in raumfüllender Größe. Wie hierin mit Nullen und Einsen künstliche Intelligenz erzeugt wird, bleibt für mich ein Rätsel.

Um den Roboter Tim zu finden, gehe ich über das stimmungsvolle Gelände zwischen Tempelhofer Ufer und Park am Gleisdreieck zum langgestreckten Ladegebäude.

Drinnen führt mich mein Weg an einiger Pferdestärke vorbei, bis ich in die Ausstellung „Das Netz“ gelange.

Hier wird die Wirkungsweise von Computer und Internet in verschiedenen Lebensbereichen (z.B. Wissen, Nachrichten, Shopping, Haus, Spiele) gestern und heute anschaulich dargestellt. Viele Kinder mit ihren Eltern tummeln sich hier – und schon höre ich ein kleines Mädchen neben mir sagen: „Wo ist denn Tim?“. Das Kind und ihre Freunde laufen durch die Ausstellung auf der Suche nach dem Roboter – und ich hinterher.

Und bald finden wir ihn – der vielbeschäftigte Museumsführer ist von Kindern umringt. Auf seinem Touchscreen sind Bilder von Ausstellungsobjekten. Eine Berührung und schon verkündet Tim mit monotoner Stimme: „Okay, ich bringe dich jetzt zu deinem Ziel.“

Dann saust er auf seinem kreisrunden Standbein los, dreht dabei animierend seinen durchsichtigen Plexiglaskopf um 360 Grad (ob er wohl zur Physio muss, um seine verspannten Kabelstränge im Nacken zu lockern?), als wolle er sehen, ob ihm seine Gäste auch folgen. Dabei sagt er in regelmäßigen Abständen: „Hier lang“ und „Alle noch da?“

Wenn seine Schar zurück fällt, rollt er unbeirrt weiter. Als Babysitter würde ich ihn jedenfalls nicht engagieren. Dann schon lieber den Terminator – der opfert sich für seinen Schützling auf und lernt sogar ein paar menschliche Werte (man darf nicht einfach jeden töten) und coole Sprüche („Hasta la vista, baby“) vom Menschenkind.

Manchmal dreht Tim eine Pirouette, wenn ein Hindernis auftaucht, ansonsten ist er sehr zielstrebig. Konversation ist nicht seine Stärke. Fragen ignoriert er. Ein schlechter Gastgeber ist er aber nicht – immerhin kommen die menschlichen Besucher untereinander ins Gespräch.

Am Ziel angekommen, referiert es über den Ausstellungsgegenstand – das wollen die Kinder aber gar nicht hören, sondern schicken ihn gleich wieder los und rennen ihm nach.

Ein Mädchen versucht, ihn zu umarmen oder aufzuhalten – was Tim völlig kalt lässt. Nur wenn man ihm seinen Fuß in den Weg stellt, bleibt er stehen und sagt: „Kannst du bitte deinen Fuß wegnehmen?“

Irgendwann habe ich Tim mal für mich alleine und er erzählt mir etwas zur Wortherkunft von „SPAM“ (Dosenfleisch) – dabei schaue ich in seine großen blauen Kameraaugen in seinem runden Riesenkopf – er verwirklicht das Kindchenschema und erinnert mich auch ein wenig an E.T. Hin und wieder klimpert er mit den Augen: mit mechanischem Geräusch schiebt ein Bügel seine Augenlider über die Linse. Das ist so tölpelhaft, dass ich es arglos und irgendwie rührend finde. Er kann ja nichts dafür, dass sein Schöpfer ihn nicht mit mehr Fähigkeiten ausgestattet hat.

Ein paar Sätze mehr hätten Tim gut getan. Im Androiden-Roman „L’Eve de future“ (1886) vom Dichter Auguste Philippe Villiers de l’Isle Adam lässt sich der Protagonist Lord Ewald eine Automatenfrau namens Hadaly konstruieren, die seiner Freundin Alicia nachempfunden, jedoch nach seinen Wünschen ins Vollkommene gesteigert ist. Diese Idealfrau kann zum Beispiel dank eines Goldphonographens 7 Stunden lang tiefsinnige Texte großer Dichter rezitieren.

Schließlich verabschiede ich mich von Tim (was er leider nicht erwidert) und lasse im Museumscafé Tor Eins meine Eindrücke nachklingen.

Worin besteht die Faszination eines künstlichen Menschen? Selbst der recht simple Mechanismus vom Roboter Tim hat Klein und Groß angezogen.

Ist es die Beherrschbarkeit des Maschinenmenschen?

Die Roboter der Antike waren Diener der Menschen – bewegliche Statuen zur Bedienung der Götter beim Essen oder Riesen aus Eisen zur Bewachung einer Stadt.

Ist es der Wunsch, eine Kreatur zu schaffen, die einzig und alleine der Erfüllung eines menschlichen Bedürfnisses dient? Fast immer ist es die Liebe.

In E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann verliebt sich der Jüngling Nathanael unter dem Einfluss einer magischen Brille in die Puppe Olimpia, die mechanisch sprechen (ihr einziges Wort lautet: „Ach“), singen und tanzen kann.

„Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. (…) Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hochentflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte einmal übers andere: »Ach – Ach – Ach!« – worauf denn Nathanael also sprach: »O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« und noch mehr dergleichen, aber Olimpia seufzte bloß immer wieder: »Ach, Ach!«”

Hier wird deutlich, dass diese Liebe eine reine Wunschprojektion ist. Seine Idealfrau ist ein Spiegel seiner selbst, die ihm Bestätigung gibt. Eine ziemlich narzisstische Form der Liebe.

Die Metamorphose des Narziss von Salvador Dalí (1937), Tate Modern London

Aber macht nicht gerade auch das Unvorhersehbare, nicht Beherrschbare des Gegenübers seine menschliche Qualität aus?

In Liebesdingen würde Oscar Wilde dem auf jeden Fall zustimmen. „The very essence of romance is uncertainty“ (aus: „The Importance of Being Earnest“).

Auch beim Roboter ist die Faszination glaube ich weniger die Beherrschbarkeit, sondern vielmehr die Suche nach dem magischen Etwas, was wir Seele nennen – und manchmal in einem guten Menschen-Immitat zu erkennen glauben.

Allerdings gibt es Roboter, die einem Menschen zum Verwechseln ähnlich sind, bisher nur im Film.

In Filmen wie Metropolis, Blade Runner und A.I. – Künstliche Intelligenz entwickeln Maschinen / Androide / Replikanten ein eigenes Bewusstsein. Sie lösen sich aus ihrer Knechtschaft und wenden sich gegen ihren Schöpfer. Oder sie lernen zu träumen und zu lieben – wie der Roboter-Junge David aus A.I., der durch einen Zauber menschlich werden möchte, damit seine Menschenmutter ihn liebt.

Die Kreatur sehnt sich genauso nach Liebe, wie ihr Schöpfer. Diese Sehnsucht bleibt aber für beide Seiten unerfüllbar.

Zurück im Café. Ich unterbreche meinen Gedankenfluss, um den Ort für meinen Blog auch fotografisch festzuhalten. In dem Moment kommt die Bedienung (ein Mann mit Hipster-Bart) an meinen Tisch, stellt das Stück Ziegenkäse-Himbeertorte vor mich hin und sagt:

„Hier ist noch was zum fotografieren“.

Da fällt mir noch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Maschinenmensch ein: Der Humor.

Das gewisse Extra:

Ich kann meinen Namen nun mit Bits schreiben:

101010110011001010010100100110010111000101

Eine wunderbare musikalische Umsetzung der Geschichte von E.T.A. Hoffmann kann man an der Komischen Oper Berlin erleben „Les Contes d’Hoffmann“ von Jacques Offenbach (Mo, 17. April).

Wer möchte mitkommen?

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★☆☆☆

Inspiration

★★★★☆

(T)1010100(I)1001001(M)1001101 -Faktor

★★★★★

Woche 5: Verlassenes Institut für Anatomie – die Anatomie der Fantasie

Warum hier:

Seit ich Bilder vom verlassenen Institut für Anatomie der Freien Universität Berlin gesehen habe, möchte ich diesen Ort entdecken. Es ist einer der top Berliner Pilgerorte für Fotografen, die „lost places“ aufsuchen. Mich reizen der geisterhafte Hörsaal und der gruselige Keller mit den Leichenkühlfächern. Und mich reizt auch, dass es ein verbotener Ort ist.

Zur Einstimmung:

Der Ort:

Bei herrlichem Sonnenschein spaziere ich die Peter-Lenné-Straße in Dahlem entlang, vorbei an prächtigen Villen mit umzäunten Gärten. Nichts kann diese heile Welt trüben. Doch da liegt es – das Eckgrundstück mit wilden Sträuchern und verrottetem Herbstlaub im struppigen Gras. Darauf steht trotzig ein Gebäude mit zerbrochenen Scheiben und Graffiti an der bröckelnden Fassade. Ein stabiler Bauzaun umkreist das Objekt. Hier scheint es kein Hineinkommen zu geben.

Doch was ist das? Direkt vor dem Hauptportal gibt es einen kleinen Durchschlupf unter dem Zaun. Also nichts wie hinunter auf den Boden, meine Haare fegen beim Durchrollen über den erdigen Untergrund – und ich bin drinnen. Übrigens habe ich für mein heutiges Abenteuer einen Komplizen (Olli) dabei – für den Fall, dass es böse Geister im Haus gibt.

Wir klettern durch die scheibenlosen Öffnungen der doppelten Holztüren und jetzt sind wir im Haus.

Vom Foyer gehen Türen in alle Richtungen ab. Auf meinem Erkundungsweg durch das Erdgeschoss knirschen bei jedem Schritt Glasscherben unter meinen Sohlen. Alle Fenster sind ohne Gläser und lassen die Frühlingsbrise herein. Ich komme durch große Säle mit kathedralenhafter Andächtigkeit. Überall sehe ich bunte Bilder und Schriftzeichen an den Wänden – die lebendigen Zeugnisse meiner Vorgänger.

Ich gehe durch lange Flure, kleine Bürozimmer, breite Laborräume mit gemauerten Tischen vor den Fenstern, die den Blick freigeben in einen lauschigen Innenhof mit Tannengrün und gelb blühenden Osterblumen.

Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist aufgehoben.

Dort ein „Operationstheater“.

Wo geht es nun in den Keller? Tatsächlich finden wir kurz vor der Treppe einige rote Tropfen auf dem Fliesenboden – bei denen es sich nach unserer forensischen Fachmeinung eindeutig um Blutspuren handelt. Im dunklen Keller ist es sofort um einige Grad kälter, die Flure sind enger und die Decken niedriger. Unvermittelt stoße ich in einem Zimmerchen auf einen stählernen Seziertisch – der mit roten Blütenblättern fotogen dekoriert ist.

Und schließlich finden wir sie – die langen Reihen von Metallfächern, die in steriler Funktionalität der Aufbewahrung von Leichen dienten. Heute können die bunt bemalten Klappen der Fantasie als Gerüst für eine Schauergeschichte dienen. Die Geister sind aber schon ausgeflogen. Auf eine Kühlkammer hat jemand geschrieben: „Ganz schön tot hier“.

Den Eindruck habe ich gar nicht. Der Ort ist voll von der Präsenz anderer Menschen, die hier ihre kreativen Spuren hinterlassen und sich den Raum gestalterisch zueigen gemacht haben.

Wieder im Tageslicht und einige Flure weiter komme ich endlich in den Hörsaal – ein würdevolles Amphitheater. In einer Ecke steigt mir beißender Brandgeruch in die Nase, ein paar verkohlte Überreste zeugen davon.

Standhaft reihen sich die unzähligen Holztische und Bänke vor mir auf, als könnte hier jeden Augenblick eine Verwandlung stattfinden und der Saal sich mit wissbegierigen Studierenden füllen.

Ich gehe durch die Reihen. Auf dem Boden liegen Chipstüten, süße Knabbereien, Getränkeverpackungen – vielleicht von der Party der letzten Nacht. #aboutlastnight

Ich suche mir einen Platz – die meisten Klapptische verharren unbeweglich in halb aufrechter Lage, aber einige laden doch mit (staubiger) Tischfläche zum Schreiben ein. Die hölzerne Sitzfläche ist schon ein bisschen aufgesplittert, aber wie ich hier so mit Schreibbuch und Stift sitze, fühle ich mich sofort am richtigen Ort.

Rundherum lassen die großen Fensterrahmen die Luft und die Sonnenstrahlen ungehindert in den Raum schweifen, ich höre Vogelgezwitscher und manchmal ferne Stimmen und Motoren von draußen. Das Haus und dieser Raum gehören im Moment mir alleine, ich bin nicht abgeschnitten, aber doch abgeschirmt vom Rest der Welt. Ich befinde mich außerhalb der Zeit, auf einer Insel der Fantasie – und der Freiheit.

Jetzt kommt mir nochmal der Leichenkeller in den Sinn und ich muss an Mary Shelleys „Frankenstein“ denken – wie dort ein Mensch versucht, gottgleich mit den Mitteln der Medizin einen neuen Menschen anatomisch zu rekonstruieren und ihn zum Leben zu bringen (“It’s alive“- herrliches Pathos im Film von 1931 ).

Als Schriftsteller benötige ich jedoch nur meine Fantasie, um einen Menschen zu erschaffen. Dieser schöpferische Akt des Schreibens ist grenzenlos. Manchmal frage ich mich, ob meine Figuren ein Eigenleben haben und was sie so treiben, wenn ich ihnen den Rücken kehre. Und was ist mit all den Charakteren in den Büchern, die ich gelesen habe? Hören sie auf zu existieren, sobald ich das Buch zuklappe? Ich glaube nicht…

Das gewisse Extra:

Das verlassene Gebäude ist für viele ein (Frei-) Raum, um ihre Kreativität auszuleben. Hier hat jemand eine kleine Ausstellung kuratiert.

Hier ein surrealistisches Wort-Bild: „Das ist noch nicht das Ende. Das ist noch nicht mal der Anfang vom Ende. Aber das hier ist vielleicht das Ende vom Anfang“.

Was wohl hinter dieser Tür liegt? Hier sind auch eurer Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort

Produktivität („wordcount“)

★★★☆☆

Inspiration

★★★★★

Vorstrafenregistererweiterungs-Faktor

★★★★★

Woche 4: Von der Eisscholle zum Kurfürstendamm – Literaturhaus Fasanenstraße 23

Warum hier:

Heute ist der Kurfürstendamm für viele der Inbegriff von Luxus und Shoppingrausch. Aber im Berlin der Weimarer Republik war der Ku’damm das Zentrum des kulturellen Lebens.

“Die Tanzdielen, Cafés, Kabaretts, Revuen und Theater waren origineller, avantgardistischer, erotischer, geistvoller und anzüglicher. Das Publikum war prominenter, die Künstler verrückter, die Autos schneller.“ (Karl-Heinz Metzger)

Kein Wunder also, dass hier auch die bekannten und weniger bekannten Schriftsteller dieser Zeit zu Hause waren. Im Salon der historischen Villa aus dem Jahr 1890 in der Fasanenstraße 23 gingen die Literaten ein und aus. Nun pflegt das Literaturhaus diese Tradition. Heute begebe ich mich auf ihre Spuren.

Zur Einstimmung:

 

Der Ort:

Ich spaziere im schönsten Sonnenschein von der Gedächtniskirche den Ku’damm entlang. Vorbei am Apple-Tempel, vor dem Hotel Restaurant Kempinski sitzen heute morgen schon Leute mit Designersonnenbrillen. Gegenüber erstrahlt die klassizistische Fassade des ehemaligen Nelson-Theaters – heute werden dort Hilfiger-Klamotten zur Schau gestellt.

 

Hier biege ich in die Fasanenstraße ein. Eine der wenigen Straßen, die von den Bombenangriffen im 2. Weltkrieg verschont geblieben sind. Zwischen den historischen Fassaden schwimmt eine grüne Insel, auf der man in die Vergangenheit reisen kann.

Die Villa wurde 1889/1890 von Richard Hildebrandt und seiner Frau Louise geb. Gruson erbaut. Die abenteuerliche Geschichte seines Erbauers ist schon bestes Roman-Material: Hildebrandt war 1869 Steuermann auf dem Dampfer „Hansa“ bei der 2. deutschen Nordpolarexpedition. Vor der Küste von Grönland wurde ihr Schiff vom Packeis zerquetscht und Hildebrandt trieb zusammen mit 13 weiteren Seeleuten 9 Monate lang auf einer Eisscholle durch das Meer, bis sie unbeschadet an Land gehen konnten. Diese legendäre Eisschollenfahrt kommt sogar in einer Erzählung bei Theodor Fontane vor.

Für ihre Villa suchten sich die Hildebrandts ein ruhiges Plätzchen im Grünen – damals gehörte Charlottenburg noch nicht zu Berlin und der nahe Kurfürstendamm war eher ein Trampelpfad – nicht ahnend, dass sich die Gegend schnell zum städtischen Magneten entwickeln würde.

 

Als Hommage an Louises Vater (Hermann Gruson – Industrieller und Kakteenliebhaber) bauten sie einen Wintergarten auf ihre Terrasse – in dem sich heute das Wintergarten-Café befindet. Die Hildebrandts führten ein weltoffenes Haus und Forscher und Künstler waren bei ihnen zu Gast.

Willkommen fühle ich mich auch heute – ich gelange über eine herrschaftliche Treppe flankiert von einer italienischen Seenlandschaft und einer Mosel-Burg  in das Foyer des Hauses. Hier verströhmen das dunkle Holz und ein wilhelminischer Bogen eine behagliche Ruhe.

Bald füllt sich der Raum mit Literaturinteressierten, die wie ich trotz Zeitumstellung zu so früher Stunde (okay, es ist 11 Uhr) an diesem Sonntagmorgen hierher gekommen sind, um die Hausführung zu erleben.

Nach der eindrucksreichen Führung sitze ich nun im Wintergarten-Café. Im Glasbau sind schon alle Plätze besetzt, aber der Innenraum mit seinen hohen Stuckdecken, Dielenboden und weichen Sesseln lockt mich auch – und vor allem die Vitrine mit den üppigen Torten.

 

Nun lausche ich klappernden Tellern und dem ausgelassenen Plaudern der vielen Gäste – es dringen sogar russische und französische Worte an mein Ohr.  Ich genieße meine Orangencremetorte und lasse meinen Blick ins Grüne und meine Gedanken in ferne Welten und Zeiten schweifen.

 

In den 20er Jahren wurde die Villa von der Alexander von Humboldt-Gesellschaft genutzt und es fanden hier regelmäßig Literaturlesungen statt. In diesen Jahren gab es eine lebendige russische Exilgemeinde in „Charlottengrad“, es gab russische Tageszeitungen und russische Schriftsteller konnten hier veröffentlichen, so wie Vladimir Nabokov („Lolita“). Er trug 1927 in der Humboldtvilla Gedichte vor.

Auch Thomas Mann hat hier im Garten unter Bäumen gesessen und mit dem französischen Austauschstudenten Pierre Bertaux geplaudert, während Heinrich Mann lieber einen Briefwechsel mit dessen Vater Félix Bertaux führte. Heinrich Mann wohnte auch in der Fasanenstraße, bevor er 1933 nur mit Jackett und Hut die Stadt verließ.

Da fällt mir ein, dass “Der Zauberberg” seit Monaten bei mir im Bücherregal steht – mein Lesezeichen auf Seite 20 und der Protagonist hat noch nicht mal im Sanatorium eingecheckt.

Auch Robert Musil war Teil der Berliner Literaturszene. Im Haus am Kurfürstendamm 217 schrieb er von 1931 bis 1933 an seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (es soll Menschen geben, die dieses Mammut-Werk tatsächlich vollständig gelesen haben – bei mir steht es noch nicht mal im Regal).

Der Dichter Max Hermann-Neiße war einer der schillerndsten Berliner Literaten seiner Zeit, musste jedoch 1933 vor den Nazis fliehen und litt im Exil unter dem Verlust seiner Heimat.

Gegenüber des Literaturhauses wohnte Essad Bey (geboren in Baku, Aserbaidschan), der sich in den 20ern als Orient-Spezialist einen literarischen Namen in Berlin machte und in der Villa orientalische Märchen in eigener Fassung mit seinem exotischen Fes auf dem Kopf vortrug.

Sein Liebesroman “Ali und Nino” (unter dem Pseudonym Kurban Said veröffentlicht) klingt so schön schnulzig, dass ich ihn mir gleich bestellt habe.

Das gewisse Extra: Botanisches

Zu Zeiten der Hildebrandts wuchsen in ihrem üppigen Garten so viele Früchte, dass 1 Woche lang geerntet wurde.

Heute steht dort nur noch 1 Birnbaum – der jedes Jahr 7 prächtige Birnen hervorbringt (ich weiß das aus zuverlässiger Quelle: Sebastian Januszewski, der die monatliche Führung im Literaturhaus mit viel Liebe zum Detail gestaltet).

Früchte ganz anderer Art konnten die Berliner im Januar 1926 im Nelson-Theater bestaunen – als Josefine Baker hier mit ihrem Tanz im Bananenrock zur Sensation wurde.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort

Produktivität („wordcount“)

★★☆☆☆

Inspiration

★★★★★

Aus-aller-Welt-Faktor

★★★★★