Woche 12: Abhörstation Teufelsberg – Künstlerkolonie und zeitloses Echo

Warum hier:

Ich kenne die weißen Radarkuppeln der verlassenen Abhörstation bisher nur von Bildern – aber ihre mysteriöse Aura, der Geist der Vergangenheit und die künstlerische Schaffenskraft der Gegenwart ziehen mich magisch an.

In Zeiten des Kalten Kriegs hatten die Amerikaner (NSA) und Briten auf dem Trümmerberg (passend zum nahen See bald „Teufelsberg“ genannt) eine „Field Station“ errichtet und spionierten mit Radarantennen in 4 Radomen jahrzehntelang (ab 1955 bis 1990) den Funkverkehr der DDR und der UDSSR aus.

1992 gaben die Amerikaner das Gelände auf und es folgten wechselhafte Zeiten. Die Pläne von Privatinvestoren für eine Luxusanlage scheiterten. Das Areal wurde als „Lost Place“ ein Pilgerort für Abenteurer und Künstler und blieb auch nicht von Vandalen und Dieben verschont. Jetzt wird der Ort von einer Künstlerkolonie belebt und kann in geregelter Form besucht werden.

Heute mache ich mich also auf Entdeckungsreise in den Grunewald und möchte herausfinden, wie viel von Himmel und Hölle ich heute noch auf dem Trümmerberg finde.

Zur Einstimmung:

„Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein ganz leises Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert. Außerdem konnte Winston, solange er in dem von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden. Es bestand natürlich keine Möglichkeit festzustellen, ob man in einem gegebenen Augenblick gerade überwacht wurde. Wie oft und nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einen Privatapparat einschaltete, blieb der Mutmaßung überlassen. (…)

Nun war er im Begriff, ein Tagebuch anzulegen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, da es ja keine Gesetze mehr gab), aber falls es herauskam, war er so gut wie sicher, daß es mit dem Tode oder zumindest fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeitslager geahndet werden würde. (…)

Tatsächlich war er nicht mehr gewöhnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von ganz kurzen Notizen war es üblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, aber das war natürlich in diesem Fall unmöglich. (…)

Der erste Federstrich über das Papier war die entscheidende Handlung. In kleinen unbeholfenen Buchstaben schrieb er: 4. April 1984.

Er lehnte sich zurück. Ein Gefühl völliger Hilflosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Zunächst einmal war er sich durchaus nicht sicher, daß jetzt wirklich das Jahr 1984 war.“

Aus: „1984“ von George Orwell

Der Ort:

Heute (Freitag) ist der bisher heißeste Tag des Jahres in Berlin (30°C) und ich wandere auf der Teufelsseechaussee durch den Grunewald – von der S-Bahnstation Heerstraße sollen es laut Google Maps nur 2,6 km bis zu meinem Ziel sein, aber ich habe mich verlaufen. Was auch daran liegt, dass nirgendwo ein Schild auf die Abhörstation verweist. Geheimhaltung ist wohl auch heute noch die Losung. Irgendwann stoße ich auf den „Drachenfliegerweg“. Vor mir schlängelt sich der Weg ins Grüne, ich sehe nichts als Bäume.

Also kraxele ich den künstlichen Drachenberg (kleiner Teufelsberg) hinauf und auf dem Plateau habe ich freie Sicht in alle Richtungen. Ich stehe hier auf einigen Millionen Kubikmetern Trümmerschutt aus dem 2. Weltkrieg, darunter begraben liegt noch das Fundament für ein größenwahnsinniges Bauprojekt der Nazis. Heute ist der Berg ein Freizeitgelände. Junge Leute liegen in der Sonne und Teenager lassen Segelflieger steigen.

Süd-westlich vor mir erheben sich auf dem Teufelsberg weiß in der Sonne schimmernd die fast sakral anmutenden Radar-Kuppeln wie Himmelskörper.

Jetzt kenne ich die Richtung und gelange über eine Treppe zurück auf den Waldweg. Später wieder Weggabelungen ohne Schilder, ich frage zwei Mädchen, sie deuten mir einen kleinen Pfad, wenn ich am umgestürzten Baum vorbei käme, sei ich richtig. Dann endlich treffe ich auf einen dreifachen Zaun mit Stacheldraht.

Ein schwarzer Pitbull springt mir entgegen und leckt an meinem Bein – kein Wachhund, er gehört zu Spaziergängern. Diesmal habe ich ein Ticket in der Tasche und gehe am Zaun entlang auf der Suche nach dem regulären Zugang.

Schließlich finde ich (gegen 17 Uhr) den Eingang. Ein junger Künstler-Typ mit rot-blonden Locken und von Alkoholdunst umgeben, heißt mich willkommen und erklärt mir lachend, von Hinweisschildern würden sie nichts halten, der Ort sei aus Tradition geheim. An einem Kontrollpunkt mit Flair einer Pirateninsel schaut sich ein entspannter Jüngling mit Rasterlocken mein Ticket (für eine „Stille Begehung“) an und ich trage mich in eine Gästeliste ein – vor mir waren heute schon Besucher aus Québec, Paris und Potsdam hier.

Auf dem Gelände haben die Künstler überall ihre Spuren hinterlassen. Mal sehe ich Gerätschaften und Utensilien für eine Arbeit in ihrer Entstehung, dann fällt mein Blick auf eine Serie klobiger TV-Geräte, auf deren blinde Scheiben ein Künstler in Neonfarben Wahrzeichen Berlins gemalt hat.

Ich gehe um eine Wegbiegung und vor mir liegt eine Art Dorfplatz am Fuße des Hauptgebäudes – hier sitzen viele Leute gesellig zusammen, eine Holzkonstruktion dient als Bar und Liegestühle und Sessel laden zum Verweilen ein.

Die meisten hier sind Männer mit langen Haaren und Bärten, einer von ihnen spricht mich freundlich an und erklärt mir, wo ich mir was anschauen kann. Ich frage ihn, ob er schon lange hier wohnt. Er zögert. Ich formuliere um: „lebt und arbeitet“, woraufhin er mit „seit 3 Jahren“ antwortet. Ich fühle mich hier als Gast in dieser kleinen Welt, nicht wie eine Touristin.

Ich schaue mich weiter um, gehe hier und dort hinein. In den flachen, bunkerartigen Nebengebäuden wirkt alles wie im Rohbau, Kabel hängen aus den Decken. Die Räume sind als Atelier oder als Ausstellungsraum genutzt.

Ein großer offener Raum mit Sofas dient offenbar als Gemeinschaftswohnzimmer der Bewohner.

Im Außenbereich sind auch einige Spuren von Verwahrlosung und Zerstörung sichtbar. Neben einem blauen Dixiklo liegt ein Haufen Plastikteile mit Audiokassetten (Abhörbänder?). Ich bin mir nicht sicher, ob das auch Kunst ist.

Ins Hauptgebäude mit dem Trio der höchsten Radome auf dem Dach führt eine knallig bunte Außentreppe. Auf 3 Etagen des skelettartigen Baus sind die halb abgerissenen Mauern mit monumentalen Graffiti gestaltet.

Hier mischen sich werkelnde Künstler mit den zahlreichen Besuchern. Ich sage mal zu allen „Hallo“, weiß nicht so genau, wer hier Bewohner und wer Besucher ist (Letztere outen sich allerdings mit Kamera um den Hals, so wie ich).

Dann endlich trete ich auf das riesige Flachdach in Sonnenschein und Wind. Erhaben und geheimnisvoll wölben sich die Kuppeln über meinem Kopf.

Ich trete ins Innere einer Kugel, eine kleine kreisrunde Erhöhung markiert die Mitte wie in einer Zirkusmanege, rundum spannt sich die weiße Plane um die Stahlkonstruktion wie ein Erdballon auf.

Der weiße Stoff wurde zur Leinwand der farblichen Gestaltung und hat im unteren Bereich viele Löcher, die im Gegenlicht manchmal Formen und Figuren annehmen. Der Wind lässt die Bespannung flattern und bringt sie zum klingen.

In der Mitte reckt sich ein mehrstöckiger schmaler Turm mit der höchsten Kuppel empor. Ich gehe die Treppen ein Stück hinauf, dann wird der Weg finster und ich kehre um.

Ich spaziere eine Weile auf dem Dach umher und genieße den Weitblick – in einer Richtung wogt ein Meer von Bäumen, in der anderen die Zivilisationslandschaft mit ihren Dächern, Schornsteinen und Türmen.

Dann setze ich mich auf den Boden, lehne meinen Rücken gegen eine der warmen Holzpaletten, die hier als Geländer dienen, und hole meinen Schreibblock hervor.

Ich denke an den Kriegstrümmerhaufen unter mir und die ehemals fensterlosen Räume, in denen Tausende von Menschen einer eintönigen Geheimtätigkeit nachgehen mussten, Wächter und Gefangene zugleich.

Blick auf den Trümmerberg „Drachenberg“

Aber von diesen Geistern spüre ich im Moment nichts mehr. Der Ort ist verwandelt worden, befreit von Dunkelheit und Farblosigkeit. Jetzt fluten Licht, Farben und Wind durch die Räume und Kreativität und Lebenslust schwingen umher wie die Schmetterlinge, die ich vor mir in der Abendsonne tanzen sehe. Selbst die Seiten meines Blocks werden vom Wind umgeblättert.

Ich kann denken, sprechen und schreiben, ohne befürchten zu müssen, von einer Orwellschen „Gedankenpolizei“ bestraft zu werden.

Im Westen sinkt die Sonne und im Osten ziehen graue Wolken wie ein Schleier über die Silhouette der Stadt.

Ich würde hier am liebsten noch länger sitzen bleiben, aber ich denke an meine Rückwanderung durch den Grunewald und verlasse schließlich die magische Dachterrasse.

Kurz vor dem Tor kommt mir der rot-blond-gelockte Bohemien entgegen und fragt, ob ich alles gesehen hätte, auch ganz oben? Ich verneine. Kann man da hoch? Im Dunkeln? Man brauche eine Taschenlampe, er will mir eine holen. Wenig später kommt er wieder und gibt mir ein metallenes Monstrum aus dem vorigen Jahrhundert mit großer Leuchtkraft. „Die heißt Robert“, teilt er mir noch mit.

Also spurte ich wieder zurück zum Hauptgebäude und alle Treppen hoch auf die Terrasse, dann in den Turm, hier wieder Treppen, eng und dunkel, aber mit der Taschenlampe namens Robert finde ich meinen Weg.

Schwer atmend betrete ich die düstere Kuppel („dome“), nur eine kleine Öffnung lässt Licht herein – und höre sofort unheimliche Geräusche – dann merke ich, dass es das Echo meines eigenen Atems ist. Die Akustik des Raums ist unbeschreiblich. Vogelschreie von draußen, Stimmen, Flüstern und Schritte von drinnen – alles verbindet sich zu einer surrealen Geräuschkulisse.

Auf der Innenseite der Kuppel ragen düster zwei männliche Gestalten mit strengen Gesichtszügen und ausgebreiteten Armen über mir – jetzt muss ich sofort an Orwells „Big Brother“ denken.

„Auf jedem Treppenabsatz starrte ihn gegenüber dem Liftschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es gehörte zu den Bildnissen, die so gemalt sind, daß einen die Augen überallhin verfolgen. »Der Große Bruder sieht dich!« lautete die Schlagzeile darunter.“

Aus: „1984“ von George Orwell

Auf meinem Weg nach unten kommen mir die Bemalungen im Treppenhaus gleich viel bedrohlicher vor. So habe ich am Ende doch noch die Beklemmung einer Überwachung spüren können.

In heutigen Zeiten, wo selbst Kinderpuppen gehackt und zur Überwachung eingesetzt werden können, scheint mir die Orwellsche Dystopie doch nicht so fern.

Das gewisse Extra:

Die Akustik in der Kuppel lässt Musik so klingen:

DoubtingThomas – Field Station Berlin Teufelsberg

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★★★☆

Inspiration

★★★★★

Teufels-Echo-im-Künstler-Himmel-Faktor

★★★★★

Woche 11: Spreepark – Vom stillen Riesenrad und grenzenlosen Zäunen

Warum hier:

Der verlassene Spreepark lockt mich schon seit Langem mit seinem Riesenrad, das geheimnisvoll beim Treptower Park über die Baumwipfel lugt. Der Vergnügungspark liegt heute hinter einem Zaun in einem Dornröschenschlaf. Für mich hält er den Zauber meiner Kindheit – es sind nicht die Fahrgeschäfte, sondern die Entdeckungsfreude und der Optimismus, mich in eine unbekannte Umgebung zu wagen und mich in meiner Fantasie wie die Heldinnen und Helden aus den Romanen meiner Kindertage zu fühlen.

Wie Winnetou und Old Shatterhand in der Prärie umher schleichen oder wie Momo und Gigi Fremdenführer im alten Amphitheater ferne Welten imaginieren.

Zur Einstimmung:

Die ganze Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit.“

Aus „Momo“ von Michael Ende

Der Ort:

Im Schatten der Bäume spaziere ich mit meiner jüngeren Schwester Leonie in Richtung Riesenrad – wir können es von hier aus nicht sehen, aber ich versichere ihr, dass es ganz bestimmt da ist.

Vor uns taucht ein stabiler Metallzaun auf. In regelmäßigen Abständen warnen Schilder vor dem unbefugten Betreten und drohen Verfolgung durch Hunde und Strafgerichte an – vor den Hunden fürchte ich mich mehr. Aber als echte Indianerin will ich mich jeder Mutprobe stellen. Also gehen wir auf dem Spazierweg am Zaun entlang. Bald funkelt links von uns das Spreewasser, auf dem Boote schaukeln. Viele Radfahrer und Spaziergänger drehen auf dem Uferweg ihre Runden.

Durch den Zaun kann ich ein rot-gelbes Zelt sehen, dann einen kleinen hölzerner Bahnhof mit Uhr. Dichtes Gras wuchert über die schmalen Gleise, auf denen schon lange keine Bimmelbahn mehr gefahren ist.

Bestens instand gehalten ist jedoch der Zaun. Am Boden sind an vielen Stellen Betonschwellen und Stahlstifte mit Draht von innen angebracht, um ein Untergraben des Zauns zu verhindern.

Hier gibt es kein Durchkommen. Auch die Bäume nehmen wir genau in Augenschein – hier und da könnte ein Stamm und ein Ast das Herüberklettern ermöglichen, aber die Metallspitzen auf dem oberen Rand haben einiges Verletzungspotenzial – das Risiko ist uns zu groß.

Aber so schnell geben wir nicht auf. Und schließlich sehen wir das Riesenrad durch den Zaun, wie es in stiller Würde einen perfekten Kreis in den Himmel malt.

Wir haben das Gelände schon fast umrundet und sind auf dem Rückweg, als Leonie eine Stelle mit weichem Erdboden am Zaun entdeckt und zunächst spielerisch mit Stock und Fuß eine kleine Mulde gräbt.

„Aber da passen wir nie und nimmer durch“, sage ich.

„Wenn der Kopf durchpasst, dann geht auch der Rest des Körpers durch. Das hat ja auch schon bei unserer Geburt geklappt“, sagt Leonie. Und sie vermisst prompt mit ihrem Stock die Mulde und meinen Kopf – passt.

Ich halte entgegen, dass sich meine Körpermaße seit meiner Geburt nicht nur absolut, sondern auch proportional verändert hätten.

Aber sind wir nicht Mitspielerinnen in einem Abenteuerroman? Wer kann schon sagen, ob die nachfolgende Erzählung Fiktion oder Realität ist? Gigi Fremdenführer wird sie sicherlich gefallen.

Bevor noch mehr Spaziergänger neugierig unsere Grabungsarbeiten begutachten und ein selbsternannter Ordnungshüter auftaucht, lege ich mich kurzentschlossen auf den Boden und schiebe meinen Kopf mit zusammengekniffenen Augen unter dem Metallrand des Zauns hindurch (eine Erdbehandlung für meine Haare inklusive) – und tatsächlich, auch Oberkörper und Beine kann ich mit Luftanhalten unter dem Zaun durch quetschen. Auch Leonie gelingt die enge Passage – ganz ohne Hebamme.

Wir suchen erst mal Deckung in einem nahen Betonschuppen, hier begrüßt uns ein toter Vogel. Dann pirschen wir weiter Richtung Riesenrad, müssen aber an einem Verwaltungshaus in der Mitte vorbei, dort steht ein kleines Auto vor der Tür. Plötzlich kommt ein mächtiger Typ ganz in Schwarz um die Ecke: „Security“. Wir hechten hinter die nächste Hauswand. Hoffentlich hat er uns nicht gesehen.

Mit einigem Herzklopfen tasten wir uns weiter ins Gelände vor, zwischen den Bäumen hindurch und stoßen dann auf die Bahngleise. In bester Westernmanier folgen wir den Gleisen, jetzt können wir im Laufschritt voran kommen und bald finden wir Sichtschutz vor dem gefürchteten Sicherheitsmann. An die Hunde wollen wir jetzt nicht denken.

Vor uns erhebt sich das herrliche Riesenrad – es steht still wie die Zeit – umgeben von einem ausgetrockneten See. Ein längliches Holzschiff mit frech aufgerolltem Bug ruht von seinen Abenteuerfahrten aus.

Am Ufer des Sees erhebt sich eine bunte Häuserzeile – ein Geisterdorf, das uns ganz alleine gehört. Dort hängt eine Brezel über der Tür – vielleicht war hier früher eine Bäckerei… Hier könnten wir Kaufmannsladen spielen.

Ich fühle mich zurück versetzt in meine Kindheit – das Spielen mit meinem Schwestern, bei dem jeder Ort in etwas Magisches verwandelt werden konnte und Raum und Zeit den Regeln unserer Fantasie folgten.

Gerne würde ich hier länger bleiben und jeden Winkel dieser abgeblätterten Zauberwelt erkunden, aber eine atemlose Unruhe schwingt immer mit. Jeden Moment könnten wir entdeckt werden. Aber auch dieses Gefühl von ominöser Gefahr und Vergänglichkeit des Spiels macht seinen besonderen Reiz aus.

Schließlich treten wir den Rückzug über die Gleise an.

Was ich von diesem abenteuerlichen Ausflug mit nach Hause nehme, ist mehr, als die Erde in den Gesäßtaschen meiner Jeans. Es sind diese Eindrücke von Selbstüberwindung und Wunscherfüllung.

Oft geht es mir so, dass ich in meiner Fantasie und insbesondere auch beim Schreiben Orte erkunden und erschaffen kann, die für mich körperlich nicht erreichbar sind. Schreibend kann ich jede Begrenzung überwinden (außer im paradiesischen Schreibland geht ein böser Zauber namens Schreibblockade um).

Heute habe ich es mal umgekehrt gemacht und mich den physischen Grenzen eines realen Ortes gestellt. Diese Sinneseindrücke und die Expedition ins Unbekannte sind Dinge, die ich auf mein Schreiben übertragen möchte. Auch in meiner imaginären Welt möchte ich Neuland entdecken.

Das gewisse Extra:

Eine letzte Fahrt auf dem Riesenrad.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★★★

Keine-Riesenra(d)tlosigkeit-bei-Zaunzensur-Faktor

★★★★★

Woche 10: Kapitulationssaal in Karlshorst – Kriegsende und schreibend Frieden finden

Warum hier:

Schon oft bin ich am Deutsch-Russischen-Museum in meiner Wohngegend vorbei spaziert. Aber ich habe mich nie dazu animiert gefühlt, hinein zu gehen. Das liegt wahrscheinlich an den Panzern im Vorgarten. Nach meinem Aquariumsbesuch hatte ich mir schon einen Entdeckungsort für meine Woche 10 im Blog ausgesucht, aber als ich am Dienstag wieder an dem grauen Museums-Haus vorbei gehe, fängt das rote Banner „8. Mai“ meinen Blick ein.

Zuhause sehe ich auf der Homepage des Museums, dass in diesem Gebäude die deutsche Kapitulationserklärung unterzeichnet wurde.

Wenn mein Blog-Montag schon auf diesen historischen Tag fällt und in meiner Nachbarschaft Geschichte geschrieben wurde – dann nehme ich das als Zeichen an und widme mich also heute diesem Thema.

Mein hauptsächliches Interesse gilt aber nicht der Nacherzählung durch die Historiker, sondern ich möchte Menschen zu Wort kommen lassen, die ihre Erlebnisse aus diesen Tagen schriftlich festgehalten und verarbeitet haben – im Tagebuch und in Briefen.

Zur Einstimmung:

Als ich 2015 als Touristin in Berlin war, wurde an einigen Orten in der Stadt an das Kriegsende am 8. Mai 1945, also vor 70 Jahren erinnert.

Seinerzeit habe ich in einem Antiquariat in Kreuzberg das Buch „Eine Frau in Berlin – Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945“ von Anonyma entdeckt. Auf der Bahnfahrt nach Hause habe ich sofort mit dem Lesen begonnen.

Die Verfasserin beschreibt ihren täglichen Überlebenskampf in den Ruinen Berlins unter Bombenangriffen und dem Einmarsch der Roten Armee mit schonungsloser Detailtreue, ohne Selbstmitleid und mit erstaunlichem Humor. Aber bald reiht sich eine nach der anderen Vergewaltigung der Schreiberin in ihren Tagesablauf. Beim Lesen wurde mir derartig beklommen zumute, dass ich das Buch geschlossen und danach nicht wieder geöffnet habe.

Heute schlage ich das Buch wieder auf – mein Lesezeichen steckt noch auf Seite 82 – und lese gefesselt und unter Anspannung weiter.

Zunächst jedoch der Beginn der Chronik:

„Freitag, 20. April 1945, 16 Uhr

Ja, der Krieg rollt auf Berlin zu. Was gestern noch fernes Murren war, ist heute Dauergetrommel. Man atmet Geschützlärm ein. (…) Zwischendurch Stunden von unheimlicher Lautlosigkeit. Plötzlich fällt einem der Frühling ein. Durch die brandschwarzen Ruinen der Siedlung weht in Schwaden Fliederduft aus herrenlosen Gärten. (…) Gegen drei Uhr fuhr am Kiosk der Zeitungsfahrer vor. Es lauerten ihm schon zwei Dutzend Leute auf. (…) Gar keine richtige Zeitung mehr, bloß noch eine Art Extrablatt, zweiseitig bedruckt und ganz feucht. Im Weitergehen las ich als erstes den Wehrmachtsbericht. Neue Ortsnamen: Müncheberg, Seelow, Buchholz. Klingt verdammt märkisch und nah. (…)

Wieder oben in meiner Dachwohnung. Mein Zuhause ist sie nicht. Ich hab keins mehr. (…) Jetzt, wo alles weg ist und mir nur ein Handkoffer mit Kleiderkram bleibt, fühle ich mich nackt und leicht. Weil ich nichts mehr habe, gehört mir alles. Zum Beispiel diese fremde Dachwohnung. (…) Systematisch habe ich alle Schränke und Schübe nach etwas Brauchbarem abgesucht, das heißt nach Eßbarem, Trinkbarem, Brennbarem. (…)

Eingeklemmt in einer Schubladenritze fand ich einen Brief an den Wohnungsinhaber. Ein verliebter Liebesbrief, hab ihn im Bad weggespült. Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt mit dem Essen.“

Der Ort:

Heute wird im Deutsch-Russischen-Museum das Museumsfest zum 8. Mai gefeiert. Als ich gegen 14 Uhr im Nieselregen auf der Rheinsteinstraße auf das Gebäude zugehen, ist die Straße zu meinem Erstaunen von mindestens 20 grünen und blauen Polizeibussen gesäumt und es wimmelt vor Uniformierten.

Auf dem Gelände des Museums geht es jedoch ganz friedlich zu. Auf der Wiese sind Essensbuden und Zelte aufgebaut. Es tummeln sich Besucher und auch jede Menge Journalisten.

Ein Blick zurück:

Um den Kapitulationssaal und die Dauerausstellung in Ruhe auf mich wirken zu lassen, habe ich schon am Samstagmittag einen ersten Rundgang im Museum gemacht. Auch einige ältere Herrschaften, die russisch sprechen, und drei junge Amerikaner gehen durch die Ausstellung.

Im Kapitulationssaal umfängt mich andächtige Stimmung. Auf einer Leinwand läuft ein Video (ohne Ton), das die Ankunft der militärischen Repräsentanten und die Unterzeichnung der Urkunden im Saal zeigt. Die Mienen der Männer in Uniform sind vom Ernst und der Tragweite des Augenblicks geprägt – jedoch habe ich einige Schwierigkeiten, auf den schnell geschnittenen schwarz-weiß Bildern die Gesichter einem der Namen von der Infotafel und die jeweiligen Uniformen und Abzeichen dem jeweiligen Land zuzuordnen.

Hier dieselben Videoaufnahmen aus der britischen Berichterstattung – die Kommentare und die unterlegt Musik geben einen subjektiv gefärbten Eindruck. Aber jetzt weiß ich zumindest, wer wer ist…

Die Tische im Saal stehen heute genauso, wie damals. Unter Glas sehe ich mir die Faksimile der Urkunden an: Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte auf 3 Seiten. Es wurden drei Exemplare in englischer und je ein Exemplar in russischer und in deutscher Sprache unterzeichnet. Buchstaben und Schriftzüge auf Papier, die das Weltgeschehen verändert haben.

Was hat die Frau aus Berlin an diesem Tag in ihr Tagebuch geschrieben?

„Dienstag, 8. Mai 1945

(…) Es war die Grindige, Frau Wendt, sie hat das Gerücht vernommen, daß Frieden sei. In Süd und Nord soll der letzte ungeordnete deutsche Widerstand zerschlagen sein. Wir haben kapituliert. Die Witwe und ich atmen erleichtert. (…) Unten beim Bäcker drängt sich viel Volk. Dabei gibt es heute noch gar kein Brot, nur Nummern für das Brot für morgen oder übermorgen. (…) Jedenfalls ist die Aussicht auf Brot das erste Zeichen dafür, daß sich oben jemand um uns kümmert. Ein zweites Zeichen klebt unten neben der Haustür: ein Blatt in vervielfältigter Maschinenschrift, ein Aufruf, unterzeichnet von einem Bezirksbürgermeister Dr.Soundso. Der Aufruf fordert zur Rückgabe allen aus Läden und Ämtern gestohlenen Gutes auf (…). Weiter heißt es, daß alle Waffen abgegeben werden müssen. (…)

Donnerstag, 10. Mai 1945

(…) Zum ersten Mal sehen wir an einigen Häusern rote Fahnen, vielmehr Fähnchen – offenbar aus ehemaligen Hakenkreuzfahnen herausgeschnitten. Die Fähnchen sind – wie könnte es anders in unserem Land sein? – von Frauenhand sauber umsäumt. (…)

Montag, 14. Mai 1945

(…) Neben unserer Haustür kleben jetzt gedruckte „Nachrichten für Deutsche“. Das Wort klingt mir in diesem Zusammenhang so fremd in den Ohren, fast wie ein Schimpfwort. Auf dem Blatt ist der Text unserer bedingungslosen Kapitulation zu lesen, unterzeichnet von Keitel, Stumpff, Friedeburg.“

Im Museum zeigt die Dauerausstellung im Nebenraum ein Diorama aus dem Jahr 1967 von Michail Ananjew (aus dem Grekow-Studio für Kriegsmalerei): „Sturm auf den Reichstag“ der Roten Armee am 30.04.1945 mit Kanonendonner und Gefechtsgeräuschen untermalt. Ich fühle mich sehr befremdet von dieser Kriegsverherrlichung. Immerhin gibt es eine Erläuterungstafel, die das Diorama in einen historischen Kontext stellt (ich hätte mir mehr kritische Distanz dazu gewünscht).

Im Treppenhaus auf meinem Weg nach oben leuchtet im bunten Fensterglas eine heroische Statue mit Schwert.

Im Obergeschoss werden in einem Rundgang mit unzähligen Texttafeln, Landkarten, Vitrinen und Fotos die Gräueltaten unter dem Nazi-Regime dargestellt. Ich bin hiervon immer wieder aufs Neue erschüttert.

Anonyma hat hierfür schon in ihrem Tagebucheintrag vom 15. Juni 1945 Worte gefunden:

„Ackerte mich durch einen Band Dramen von Aischylos und entdeckte dabei die Perserklage. Mit ihren Wehschreien der Besiegten paßte sie gut zu unserer Niederlage – und paßte doch gar nicht. Unser deutsches Unglück hat einen Beigeschmack von Ekel, Krankheit und Wahnsinn, ist mit nichts Historischem vergleichbar. Soeben kam durchs Radio wieder eine KZ-Reportage. Das Gräßlichste bei all dem ist die Ordnung und Sparsamkeit: Millionen Menschen als Dünger, Matratzenfüllung, Schmierseife, Filzmatte – dergleichen kannte Aischylos doch nicht.“

Auch die „Schlacht um Berlin“ wird mit Fotos und Texten thematisiert. In einer schmalen Glasvitrine sind stellvertretend für das Schicksal unzähliger deutscher Frauen, die von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt worden sind, 4 kleine Krankenblätter aus der Charité Berlin von 1945 ausgestellt.

Worte einer fremden Sprache

Das Schicksal von sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern wird ausführlich dargestellt. Ein Deutsch-Russisch-Wörterbuch mit Vokabular für Fabrikarbeit erweckt meine Aufmerksamkeit.

Passend hierzu schrieb Anonyma am 1. Mai 1945 in ihr Tagebuch (die Rote Armee hat Berlin inzwischen eingenommen und russische Soldaten sind in ihr Haus eingefallen):

„Er gab mir ein kleines Heft, ein deutschrussisches Soldatenwörterbuch. (…) Es steht eine Menge sehr nützlicher Vokabeln darin, wie Speck, Mehl, Salz. Andere wichtige Wörter wie „Angst“ und „Keller“ fehlen. Auch das Wort „tot“. Ich ersetze es durch das gut verständliche „kaputt“, das noch für vieles andere passt.“

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kriegserlebnisse die Betroffenen auch in ihrer eigenen Sprache oft ohne Ausdrucksmöglichkeit zurück gelassen haben.

Worte als Waffe

In der Ausstellung werden viele Dokumente der Nazis, wie z.B. ein „Merkblatt zur Bewachung sowjetischer Kriegsgefangener“ gezeigt. Mir fällt wieder der demagogische Einsatz von Sprache auf, wenn ich die menschenverachtenden Befehle im Behördendeutsch lese. Genauso werden Hass und Ideologie durch Wort und Bild auf Postern und anderen Druckerzeugnissen transportiert.

Das Schicksal deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion nach Kriegsende wird auf einer kleinen Stellwand im Flur abgehandelt.

Im Keller widmet sich ein Raum der Zeit nach dem Krieg und es werden Heimatverlust, Rückkehr und fehlende Aufarbeitung der Geschichte (Verdrängung, einseitige Darstellung, verweigerte Opferentschädigung, Strafverfolgung der deutschen Täter) thematisiert.

Auch die Zahl der Toten und Verletzten des 2. Weltkriegs sind hier aufgeführt. Unvorstellbare Zahlen.

Aber wie erging es dem einzelnen Menschen nach dem Krieg? Millionen von traumatisierten Menschen in ganz Europa und auch in Asien, Amerika und Afrika. Für viele kam die Zeit des Schweigens.

Worte finden

In einer kleinen Vitrine in einer Ecke sehe ich den metallenen Trinkbecher eines deutschen Kriegsgefangenen mit einem Zettel für seinen Enkelsohn.

Wie schwer ist es diesem Mann wohl gefallen, nach all den Jahren diese Zeilen zu schreiben?

Viele Betroffene haben es erst Jahrzehnte später geschafft, ihre Erlebnisse in Worte zu fassen.

Davon zeugen auch die Briefe von sowjetischen Kriegsgefangenen.

Heute höre ich ihren Worten zu. Ich gehe in den Wintergarten.

Ein Mann und eine Frau lesen Briefe aus dem Buch „Ich werde es nie vergessen“ vor. Dieses Buch ist auf Initiative des Vereins „KONTAKTE-KOHTAKTbI“ entstanden. Der Verein setzt sich u.a. für die Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener ein, leistet humanitäre Hilfe und engagiert sich für geschichtliche Aufklärung und Verständigung.

Die Briefe der Betroffenen sind in den Jahren 2004 bis 2006 geschrieben worden (und für das Buch ins Deutsche übersetzt). Die Verfasser der Briefe beschreiben ihre schmerzhaften Erlebnisse während des Kriegs, in Kriegsgefangenschaft als Zwangsarbeiter und ihre Schwierigkeiten nach der Rückkehr in ihre Heimat.

Olga ist jetzt Rentnerin und lebt in Brest. Sie war im Jahr 1941 als Krankenschwester in einem Sanitätsbataillon der Roten Armee eingesetzt und wurde von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. Sie musste tagelang zu Fuß gehen, viele starben bei diesem Marsch. Bis März 1945 musste sie in verschiedenen Lagern arbeiten. Oft gab es nur 200g Brot pro Person morgens, mittags eine Suppe und abends nur Kaffee. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung durch die Rote Armee hatte sie eine 2 Monate alte Tochter namens Vera. Mit dem Säugling wanderte sie über einen Monat lang zu Fuß in ihre Heimat nach Litauen zurück. Ihre Tochter hat überlebt. Sie beendet ihren Brief mit „Teilnehmerin am Großen Vaterländischen Krieg“.

Andrej wurde in Schlesien von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. Er und die anderen Gefangenen lebten monatelang in Erdlöchern, 20 Menschen mussten sich 1 Brot teilen, einmal am Tag bekamen sie Suppe in ihre Feldmütze ausgeschenkt, Essgeschirr gab es nicht.

Später hat er in einem Arbeitslager in einer Zementfabrik gearbeitet. Er erinnert sich an die Suppe einer Köchin, die sie alle „Mutter“ nannten. Er hat diese Frau in guter Erinnerung und möchte auch den Ort wieder aufsuchen, aber auf seine Bitte hat er eine Absage erhalten.

„Damals konnte ich nicht schreiben.“

Vassili ist jetzt 87 Jahre alt. Er geriet 1941 in Kriegsgefangenschaft. Seine Gefangenennummer lautete 131.141, sie hing ihm an einer Schnur um den Hals. Er litt darunter, dass er keine Post nach Hause senden oder empfangen durfte. Er arbeitet in einem Bergwerk in Dortmund und hat dort Kohle befördert. Das Essen war knapp. Er ist nur nicht verhungert, weil er Pantoffeln nähen konnte und diese gegen Brot eingetauscht hat.

„Es ist schwer, mich zu erinnern, noch schwerer, darüber zu schreiben. Aber Frieden kann man wirklich erreichen. Wir sind doch alle Menschen. Ich wünsche mir Frieden und gegenseitiges Verstehen.“

„Iwan“ – so haben ihn die Aufseher genannt, obwohl er anders hieß. Er war 15 Jahre alt, als er von der Roten Armee eingezogen wurde. In Frankreich geriet er in Kriegsgefangenschaft.

„Alles Schlechte ist vorbei und vergangen. Ich erzähle Ihnen von einem guten Menschen. Vom Koch Keck“.

Iwan musste als Küchenhilfe arbeiten. Der Koch Keck hat ihn vor Schlägen der Aufseher beschützt und ihm schwere Arbeit abgenommen (wie Wassertragen), wenn er zu entkräftet dafür war.

„Ich habe beim Briefschreiben Tränen in den Augen. Ich wünsche mir Frieden.“

Ich bin zutiefst berührt, diesen Erinnerungen zuzuhören. Soviel Leid spricht daraus, aber auch Mut und vor allem auch der Wunsch nach Versöhnung und die Fähigkeit, zu vergeben.

Meine Notizen

Nach der Lesung drehe ich eine Runde durch den Garten. Auf der Rückseite des Hauses steht eine Reihe von Panzern, dahinter eine Hüpfburg.

Einige Leute lassen sich mit zwei jungen Männern in historischen (?) Uniformen fotografieren.

Über eine Leiter geleiten einige Eltern ihre kleinen Kinder in einen Panzer. Dieser Anblick verursacht mir Unwohlsein.

Ich trete den Heimweg an. Jetzt wird mir auch klar, warum soviel Polizei vor Ort ist. Gerade haben sich etwa 30 Menschen zu einer Demonstration gegen Neonazis und Rassisten zusammen gefunden. Ein junger Mann spricht vernünftig ins Megafon.

Fünfzig Meter weiter die Straße hinunter auf der Gegenseite stehen 7 Gestalten in Schwarz, mit Deutschlandfahne und einem Banner mit Nazi-Parolen, dazu tönt pathetische Trauermusik aus ihren Boxen. Das einzige, was diesem jämmerlichen Haufen Gewicht verleiht, sind die unzähligen Pressefotografen, die eifrig Bilder machen – und natürlich die Hundertschaft von Polizisten.

Was ich noch sagen möchte

Heute feiern wir den Frieden. Der 8. Mai 1945 markiert das Kriegsende. Wie lange hat es wohl gedauert, bis die betroffenen Menschen aller Nationalitäten inneren Frieden gefunden haben? Mit ihrem erlittenen Leid und auch ihren (Un-) Taten. Manchen ist es vielleicht im Wege des Schreibens gelungen.

Mich lässt der heutige Tag sehr nachdenklich zurück. Und ich bin dankbar für mein Glück, in einem Land in Freiheit und ohne Krieg zu leben. An vielen Orten dieser Welt ist das leider (noch) Utopie.

Das gewisse Extra:

Imagine“ von John Lennon

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort

Genauso wenig, wie man menschliches Leiden ermessen oder gegeneinander aufwiegen kann, möchte ich für meine Eindrücke eine skalierte Bewertung abgeben.

Woche 9: Aquarium – Von Geräuschfluten und einer kleinen Meerjungfrau

Warum hier:

Ich bin immer noch in Märchenstimmung und möchte heute in die Welt der „kleinen Meerjungfrau“ eintauchen – das Märchen von Hans Christian Andersen übt schon seit langem eine besondere Faszination auf mich aus. Die Wasserwelt – ein Ort voller Geheimnisse und ein Element, das nicht für uns Menschen geschaffen ist und gerade deshalb entdeckt werden möchte – die Tiefe, Stille und Dunkelheit des Ozeans mit seinen Bewohnern aller Farben und Formen. Ich möchte den Fischen bei ihrem Wasserballett zusehen, ihre Anmut und Langsamkeit genießen. Wie ist es wohl, wenn man unter Wasser nichts hört, oder können Fische hören? Auf jeden Fall sind andere Sinne im Spiel.

Genauso, wie sich die kleine Meerjungfrau nach der Sonne und der Welt der Menschen sehnt, zieht mich die Wasserwelt an. Also gehe ich heute in das Aquarium des Zoologischen Gartens und hoffe auf einen Eindruck von der geheimnisvollen Welt.

Zur Einstimmung:

„Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume, und so klar wie das reinste Glas, aber es ist dort sehr tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht, viele Kirchtürme müßten aufeinandergestellt werden, um vom Grunde bis über das Wasser zu reicher. Dort unten wohnt das Meervolk. (…) Das war eine Pracht, wie man sie auf der Erde nie sehen konnte. (…) Man konnte all die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern schwammen. Bei einigen schimmerten die Schuppen purpurrot, bei anderen wie Silber und Gold. Mitten im Saale floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweiblein zu ihrem eigenen herrlichen Gesang. So süßklingende Stimmen gibt es bei den Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfer sang am schönsten von allen, und alle klatschten ihr zu, und einen Augenblick lang fühlte sie Freude im Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen im Wasser und auf der Erde hatte! Aber bald dachte sie doch wieder an die Welt über sich; sie konnte den schönen Prinzen nicht vergessen und auch nicht ihren Kummer darüber, daß sie nicht, wie er, eine unsterbliche Seele besaß.“

Aus: Die kleine Meerjungfrau (dänisch: „Den lille Havfrue”) von Hans Christian Andersen, von 1837

Der Ort:

Ich komme am Bahnhof Zoologischer Garten an und mein Blick fällt gleich auf die langen Warteschlagen vor dem Zoo. Heute ist der 1. Mai und alle Welt scheint in Ausflugslaune zu sein. Ich gehe die Budapester Straße entlang und gleich neben dem Elefantentor finde ich den Eingang ins Aquarium. Das Gebäude beherbergt schon seit über 100 Jahren Fische und Reptilien. Die Reliefs und Mosaiken an der Fassade zeigen prähistorische Tiere – und bauen eine Brücke in fantastische Welten und wecken meine Vorfreude.

Im Kassenbereich tönt mir ein Stimmengewirr und Kreischen aus dem Foyer entgegen – ich muss sofort an ein Hallenbad denken – und wäre am liebsten umgekehrt. Aber drinnen werden sich die Leute schon verteilen, denke ich. Irgendwo finde ich bestimmt eine ruhige Ecke, wo ich mich zum Schreiben hinsetzen und den Fischen meditativ beim Schwimmen zuschauen kann.

Drinnen ist die Hölle los! Durch die dämmrigen Gänge schieben sich hektische Kinder mit ihren noch hektischeren Eltern, die gefliesten Wände und Glasflächen der Aquarien werfen den Schall zurück. Ich werde vom Menschenstrom von Becken zu Becker gedrängt. Ja, da sind viele bunte Fische, die auch ganz hektisch schwimmen.

Damit bloß niemals Stille einkehrt, sind überall Lautsprecher in der Decke, die Meeresrauschen von sich geben.

Hier und da stehen ein paar Bänke herum, aber mich hier hinzusetzen und zu schreiben – nein, sogar meine eigenen Gedanken werden von diesem Lärm übertönt.

In einem Dreieck laufen die Wege zusammen und ich sehe die größten Becken vor mir. Hier wird gerade ein Kindergeburtstag gefeiert, mit Pappgeschirr und Kuchen auf den Bänken. Ich tauche wieder in einen Nebengang.

Dort zieht mich ein Becken mit weiß-bläulichen Quallen an – oder sind es gar Aliens?

Die Wesen haben lichtdurchlässige Körper mit Fäden und Knospen, die sich wie Wellen bewegen, ständig ihre Form verändern und fast körperlos wirken.

Ich kann meine Augen gar nicht abwenden und könnte ihnen stundenlang zuschauen, wenn nicht neben mir ein Fotoapparat Rotlicht schießen würde. Dann brüllt mir ein Vater was ins Ohr, weil sein Kind nicht gehorcht. Irgendetwas in meinem rechten Auge beginnt zu zucken und ich ergreife die Flucht.

Ich beschließe, die unbeliebtesten Tiere suchen zu gehen – vielleicht ist dort ja weniger Trubel. In der 1. Etagen sind die Reptilien untergebracht. Aber auch hier sind die Gänge voller Menschen und Stimmen.

In einem Terrarium dreht eine riesige Schildkröte auf ihren Zehenspitzen ihre Runden, als wolle sie einen Weltrekord aufstellen.

Woanders sind im Sand Cowboyboots und ein Totenschädel drapiert, was die Schlange in diesem Westernszenario aber herzlich wenig interessiert. Eine grüne Echse balanciert auf der metallenen Fensterbank entlang, rutscht immer weg und tastet mit einem Fuß die Scheibe ab, als suche sie einen Ausweg aus ihrem Gefängnis.

Hier spielen die Lautsprecher eine andere Platte ab – irgendein Zirpen.

Ich hechte eine Treppe höher. Im 2. Stock gibt es Insekten. Das interessiert doch bestimmt niemanden. Weit gefehlt. Ich hätte nicht gedacht, dass Glaskästen mit Ameisen und Fliegen so viele Besucher anziehen können.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster – von hier aus kann ich Häuser, Himmel und die Gedächtniskirche sehen – und sehne mich nach draußen.

Also wieder die Treppe hinab. Zufällig stolpere ich in die Krokodil-Halle. In diesem Glashaus umfängt mich warme, feuchte Luft, ein Wasserfall plätschert und unter Palmenwedeln und einigen Heizlampen liegen völlig bewegungslos 3 Krokodile. Diese wunderbare Gelassenheit. Hier ist es auch stiller, aber die Besucher haben nur Platz auf einer kurzen Brücke, ich werde bald wieder von Nachkommenden hinaus gedrängt. Ein Krokodil müsste man sein!

Aber es zieht mich doch zu den Unterwasser-Welten zurück. Ich gehe noch einmal zu den Quallen und bewundere ihren wunderschönen Tanz.

Dann kehre ich zu dem farbenreichsten der Becken zurück: Hier schillern die Fische in buntem Überschwang und mein Blick folgt mal dem einen, mal dem anderen.

Die kleine Meerjungfrau kommt mir wieder in den Sinn. Sie musste ihre schöne Stimme der Hexe opfern, damit diese den Fischschwanz der Meerjungfrau in Beine verwandelt und sie so in die Menschenwelt gehen und dem Prinzen gegenübertreten kann.  Wie wäre es, wenn die Menschen auch ihre Stimmen am Einlass hergeben und die Wasserwelt mit stummem Staunen erleben würden?

Aber bevor ich ins traumhafte Wasserreich abtauchen kann, werde ich seitlich angestoßen – ich stehe jemandem beim Selfie im Weg. Inzwischen klingelt es auch in meinen Ohren und ich rette mich zum Ausgang.

Das, was ich hier gesucht habe, kann ich wohl nur in meiner Fantasie finden.

Das gewisse Extra:

Die Unterwasserwelt hat nicht nur Schriftsteller, sondern auch Filmemacher inspiriert. Hier ein kleines Kontrastprogramm (lasst euch überraschen):

Video 1

Video 2

Diese Musik voller Wehmut und Sehnsucht führt die Fantasie auf eine Reise in die Wasserwelt. Die Oper Rusalka von Antonín Dvořák (aus dem Jahr 1900) ist eine musikalische Umsetzung der Undine-Sage und des Märchens von Andersen.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★☆☆

Schallwellen-Faktor

★★★★★