Mit dem Boléro versetzen die Berliner Philharmoniker das Publikum in Ekstase. Mitreißend dirigiert von Kirill Petrenko ist das Saisonabschlusskonzert in der Waldbühne in seinem 40. Jubiläumsjahr das Klassik-Highlight der Sommers

Wie jeden Sommer seit 40 Jahren strömen die Berlinerinnen und Berliner zu Scharen in die Waldbühne, um ihr liebstes Orchester zu hören und sich von der einzigartigen Atmosphäre dieses Amphitheaters unter freiem Himmel berauschen zu lassen.

Auch ich wandere an diesem milden Sommerabend im Menschenstrom von der S-Bahnstation zur Waldbühne. Der Himmel zieht sich grau zusammen und kurz nach 19 Uhr fallen sogar einige Regentropfen.

Doch pünktlich zum Konzertbeginn um 20:15 Uhr ist der Himmel wieder blau und die Sonne blinzelnd lächelnd auf die 20.000 Menschen in der seit Wochen ausverkauften Waldbühne nieder, die es sich hier mit mitgebrachten Decken und Picknickkörben gemütlich gemacht haben. Es ist ein Event für die ganze Familie – ganz kleine bis große Kinder sind mit ihren Eltern gekommen und fühlen sich sichtlich wohl.

Auch für die Berliner Philharmoniker ist das Open-Air-Spektakel ein Höhepunkt in ihrem Kalender, sie haben offensichtlich Freude und starten einige Minuten vor Konzertbeginn eine La-Ola-Welle, die vom Publikum aufgenommen wird und sich einige Runden lang durch die Tribüne hebt und senkt.

So in beste Stimmung gebracht, beginnt die Aufführung pünktlich – schließlich filmen auch die Kameras der rbb fleißig mit und tausende von Zusehenden können die musikalischen Genusshappen auf ihren Bildschirmen mitverfolgen. Chefdirigent Kirill Petrenko bringt als erstes Stück die “Johannisnacht auf dem Kahlen Berge” von Modest Mussorgsky (bearbeitet von N. Rimsky-Korsakow) zum Erklingen. Die Musik vermischt sich mit dem Vogelgezwitscher aus den umgebenden Bäumen und man fühlt sich tatsächlich in eine monumentale Naturlandschaft versetzt.

Als nächstes wird das Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur op. 10 von Sergej Prokofjew dargeboten, den Solopart am Klavier übernimmt die Starpianistin Yuja Wang. Sobald die zierliche Pianistin in einem gelb-grünen Glitzerkleid mit sehr kurzem Rock auf die Bühne stöckelt, ertönen anerkennender Applaus und einige Pfiffe aus dem Publikum. Die französische Mutter hinter mir sagt zu ihrer kleinen Tochter: „Elle est super sexy.“ Doch nicht nur mit ihrer attraktiven Erscheinung kann Yuja Wang punkten, sondern auch mit ihrem sehr energetischen Spiel mit technischer Perfektion, wobei sie für meinen Geschmack einen recht harten Anschlag hat. Nach anhaltendem Applaus gibt die Pianistin noch zwei Zugaben und zeigt bei einem Stück von Chopin, dass sie auch weicher spielen kann.

Nach der Pause steht Maurice Ravel auf dem Programm. Hörte sich die Musik der russischen Komponisten im ersten Teil vor der Pause noch hart und klirrend an wie aus einer eisigen Winterlandschaft, so scheinen die französischen Klänge aufgetaut zu sein und fließen leicht und mild wie ein Quelle im Frühling. Ganz lieblich und schwelgerisch verführt das Stück „Pavane pour une infante défunte“ (Orchesterfassung) zum Träumen.

In eine sommerliche Schäferidylle der antiken Mythologie entführt einen Maurice Ravel mit „Daphnis et Chloé. Suite Nr. 2“. Die Ballettmusik betört mit einem flirrend-impressionistischen Klang.

Dann kommt der Höhepunkt des Abends: Der allseits bekannte und beliebte „Boléro“ von Maurice Ravel, der das Stück 1928 komponiert und als Ballett für die Tänzerin Ida Rubinstein konzipiert hatte. Die Uraufführung fand am 22. November 1928 in der Pariser Oper statt und sorgte für einen Skandal, denn Rubinstein tanzte als einzige Frau in einem Kreis von 20 jungen Tänzern und interpretierte die Musik mit lustvollen und lasziven Bewegungen, die den erotisch-orgastischen Charakter des Stücks betonten. Das Pariser Publikum war gleichermaßen schockiert und fasziniert und der Siegeszug des “Boléro” war nicht mehr aufzuhalten.

Eine legendäre tänzerische Umsetzung aus jüngerer Zeit stammt vom argentinischen Balletttänzer Jorge Donn, der den Boléro im 1981 erschienenen Film „Les uns et les autres“ von Claude Lelouch unvergesslich interpretierte.

Doch an diesem Abend in der Waldbühne gibt es kein Ballett, sondern alleine die Musik soll die Zuhörenden in ihren Bann ziehen. Das gelingt schon, sobald die kleine Trommel mit ihrer sich 169 Mal wiederholenden Rhythmusfigur ansetzt und die schöne Melodie zart und leise von einer einzelnen Querflöte angestimmt wird. Der Sog dieser genialen Komposition liegt in den Wiederholungen, die jedoch niemals ermüdend wirken, sondern durch das stetige Hinzukommen weiterer Instrumente spannungsreich sind. So ist das Stück wie eine kleine Vorstellungsrunde, in der sich die einzelnen Instrumente der Philharmonie mit ihrem individuellen Klang und Charakter präsentieren dürfen: die Oboe melancholisch, Tenorsaxophon jazzig und die Posaunen satt. Während die Streichinstrumente zunächst nur rhythmisch gezupft werden, dürfen sie im Verlauf des Stücks auch in die Melodie mit einstimmen und ihre lieblichen Stimmen zum Erklingen bringen.

In seinen 18 Variationen mit zunehmender Klangfülle hebt die Musik die Stimmung in eine Euphorie, die sich mit dem Crescendo immer mehr hochschraubt. Mit ihren jazzigen Glissandi verströmen die Posaunen und Saxophone puren Übermut und Spielfreude. Seinen ekstatischen Höhepunkt findet die Musik in den letzten Takten mit Basstrommel, Becken und Tamtam. Der Schlussakkord ist dissonant und lässt die Töne in die Tiefe stürzen. Doch das Publikum ist in Hochstimmung, springt auf und applaudiert frenetisch.

Kirill Petrenko und die Philharmoniker nehmen den wohlverdienten Applaus für ihr virtuoses Spiel entgegen und belohnen das Publikum mit zwei Zugaben. In liebgewonnener Tradition endet das Konzert mit dem schwungvollen Marsch „Berliner Luft“ (von Paul Lincke, 1904), bei der unter dem dunklen Nachthimmel tausende von Lichtern aus dem Zuschauer-Rund geschwenkt werden und an den passenden Stellen ausgelassen mitgepfiffen wird.

So macht Musik Spaß!

Zum ersten Mal Berliner Luft in der Waldbühne geatmet – Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker am 24. Juni 2023

An diesem sonnigen Samstag pilger ich zum ersten Mal zur legendären Waldbühne, um das Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker zu erleben. Nachdem es am Vortag wie aus Kübeln geschüttet hat, sind die Wettergötter heute günstig gestimmt und es herrscht ideales Picknickwetter. So wandere ich mit meiner Decke und Proviant im Rucksack von der S-Bahnstation Richtung Eingang. Meinen Wegplan auf dem Handy benötige ich nicht, denn ich kann einfach dem gutgelaunten Menschenstrom folgen, der mich in die richtige Richtung trägt.

Haupteingang zur Waldbühne

Schnell hole ich meine Pressekarte ab und schon brandet zwischen den Bäumen Applaus auf – ich bin ein bisschen knapp dran und offenbar kommen die Musiker schon auf die Bühne, in fünf Minuten soll das Konzert beginnen.

Als ich aus dem hinteren Halbkreis mit den Imbissbuden an den oberen Rand des steinernen Rundes trete, verschlägt es mir glatt den Atem. Steil wie Felsenhänge fallen die Sitzränge fast hundert Meter in die Tiefe, mir wird beinahe schwindelig.

Noch beeindruckender ist, dass diese unzähligen Sitzreihen mit 20.000 Menschen gefüllt sind, ein buntes Meer von Köpfen und ein erwartungsvolles Murmeln liegt in der warmen Abendluft. Eilends steige ich die lange Felsentreppe am Rand hinab und finde meinen Sitzplatz auf einer Bank im Block B direkt hinter dem Golden Circle in der Mitte direkt vor der Bühne, wo es sich die Besuchenden auf ihren Picknickdecken bequem gemacht haben.

Ich finde es wunderbar, dass dieses Klassikevent offensichtlich so beliebt ist, dass die Waldbühne komplett ausverkauft ist – eine Ausnahmeerscheinung in den Post-Corona-Zeiten, in denen viele Konzerte vor halb leeren Rängen gespielt werden oder ganz abgesagt werden müssen.

Unter Applaus betritt der Dirigent Andris Nelsons die Bühne und die Philharmoniker lassen die Ouvertüre aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ erklingen, ein Stück aus der Romantik, das Naturliebe und Aberglaube beschwört. Der umgebende Wald bietet hier die perfekte Kulisse, für Gespenstergrusel ist es aber noch zu hell.

Mit ausgreifenden Schritten kommt der Startenor Klaus Florian Vogt auf die Bühne, der große Norddeutsche mit blonder Wallemähne und blauen Augen (die auf den großen Leinwänden auf beiden Seiten der Bühne besonders auffallend leuchten) ist auf den bedeutendsten Bühnen der Welt zuhause und vor allem ein gefragter Wagner-Sänger bei den Bayreuther Festspielen.

Heute gibt er sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Er singt die Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ (ebenfalls aus “Der Freischütz”), wobei seine schlanke klare Stimme, die knabenhaft klingt, gut die jugendliche Frische des Stückes einfängt. Allerdings scheint der Tenor von der monumentalen Kulisse und den Menschenmasse so sehr beeindruckt zu sein, dass er auffällig oft nach Luft schnappt und sein Gesang mitunter ein wenig atemlos wirkt. Vielleicht ist es wirklich ein bisschen Nervosität, was ich sehr sympathisch finde, er ist offenbar kein abgebrühter Star. Das Publikum spendet dem Tenor jedenfalls freundlichen Beifall.

Als nächstes bringen die Philharmoniker die Klänge von Richard Wagner zu Gehör. In der Arie „Mein lieber Schwan“ aus Lohengrin fühlt sich der Tenor hörbar angekommen und zeigt in einer gefühlvollen und schönen Interpretation, warum der Gralsritter seine Paraderolle ist.

Dann ist Pause. Ein allgemeines Gewusel bricht aus, die hausgemachten Stullen werden ausgepackt und die Zigaretten angezündet. Ich beobachte vergnügte Familien mit ihren Kindern. Ein kleines Mädchen im goldenen Rock und mit güldenen Sandalen hat sich für das Event wie eine Prinzessin in Schale geworfen und albert mit ihrem Bruder herum.

Auch die Kamerateams vom rbb, der das Konzert live übertragen, sind fleißig im Einsatz, interviewen den Tenor und mischen sich unter das Publikum, um Impressionen und O-Töne zu sammeln.

Gegen 21 Uhr geht das Konzert weiter. Nun steht die Musik des Klangmagiers Richard Strauss auf dem Programm. Die Philharmoniker spielen mit großer Plastizität „Till Eulenspiegels lustigen Streichen“. Die Musik trägt mich wie auf wogenden Wellen in weite Ferne. Dann singt Klaus Florian Vogt drei Strauß-Lieder mit großer Stimmschönheit.

Das grandiose Finale bildet die Suite op. 59 aus „Der Rosenkavalier“, was eine Art Best-of aus Strauss’ berühmtester Oper ist – ich erkenne die süße Walzermelodie „Nur mit dir“ wieder (amouröse Fantasien von Baron Ochs) und es geht auch dramatisch zu. Diese berauschende Musik ist so voller Farben, dass geradezu cineastische Bilder vor meinen Augen entstehen – sie würde sich auch gut als Filmmusik eignen. Die Philharmoniker spielen mitreißend und dabei differenziert, sie sind einfach erste Sahne.

Als erste Zugabe interpretiert der Tenor das Lied „Morgen“ (ebenfalls von Strauss) sehr gefühlvoll – im Lied geht es um Abschied und Wiedersehen (vielleicht im Jenseits) – ich bin total bewegt und gerührt.

Dann kommt die Zugabe, auf die sich das Stammpublikum die ganze Zeit gefreut zu haben scheint, für mich jedoch ein überraschendes Erlebnis ist: Zum flotten Marsch „Berliner Luft“ (Operettenlied von Paul Lincke, komponiert 1904, wurde bald zum Gassenhauer) werden die Handylichter geschwenkt und hier und dort glitzern Wunderkerzen (inzwischen ist es dunkel und die Sichel des Mondes steht silbrig am Himmel) und im Refrain wird freudvoll mit gepfiffen – das ist wirklich ansteckend. Ich kann gut verstehen, dass diese inoffizielle Hymne der Stadt eine liebgewordene Tradition als Abschlussstück des Konzerts der Philharmoniker in der Waldbühne ist.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem Pfeifen auf den Lippen folge ich schließlich wieder dem Strom der Menschen zur S-Bahnstation.

Es war magischer Konzertabend mit herrlicher Musik und der besonderen Stimmung unter freiem Himmel.

Bis zum nächsten Mal – in der Waldbühne lässt sich die Berliner Luft doch am besten schnuppern.