Zum ersten Mal Berliner Luft in der Waldbühne geatmet – Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker am 24. Juni 2023

An diesem sonnigen Samstag pilger ich zum ersten Mal zur legendären Waldbühne, um das Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker zu erleben. Nachdem es am Vortag wie aus Kübeln geschüttet hat, sind die Wettergötter heute günstig gestimmt und es herrscht ideales Picknickwetter. So wandere ich mit meiner Decke und Proviant im Rucksack von der S-Bahnstation Richtung Eingang. Meinen Wegplan auf dem Handy benötige ich nicht, denn ich kann einfach dem gutgelaunten Menschenstrom folgen, der mich in die richtige Richtung trägt.

Haupteingang zur Waldbühne

Schnell hole ich meine Pressekarte ab und schon brandet zwischen den Bäumen Applaus auf – ich bin ein bisschen knapp dran und offenbar kommen die Musiker schon auf die Bühne, in fünf Minuten soll das Konzert beginnen.

Als ich aus dem hinteren Halbkreis mit den Imbissbuden an den oberen Rand des steinernen Rundes trete, verschlägt es mir glatt den Atem. Steil wie Felsenhänge fallen die Sitzränge fast hundert Meter in die Tiefe, mir wird beinahe schwindelig.

Noch beeindruckender ist, dass diese unzähligen Sitzreihen mit 20.000 Menschen gefüllt sind, ein buntes Meer von Köpfen und ein erwartungsvolles Murmeln liegt in der warmen Abendluft. Eilends steige ich die lange Felsentreppe am Rand hinab und finde meinen Sitzplatz auf einer Bank im Block B direkt hinter dem Golden Circle in der Mitte direkt vor der Bühne, wo es sich die Besuchenden auf ihren Picknickdecken bequem gemacht haben.

Ich finde es wunderbar, dass dieses Klassikevent offensichtlich so beliebt ist, dass die Waldbühne komplett ausverkauft ist – eine Ausnahmeerscheinung in den Post-Corona-Zeiten, in denen viele Konzerte vor halb leeren Rängen gespielt werden oder ganz abgesagt werden müssen.

Unter Applaus betritt der Dirigent Andris Nelsons die Bühne und die Philharmoniker lassen die Ouvertüre aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ erklingen, ein Stück aus der Romantik, das Naturliebe und Aberglaube beschwört. Der umgebende Wald bietet hier die perfekte Kulisse, für Gespenstergrusel ist es aber noch zu hell.

Mit ausgreifenden Schritten kommt der Startenor Klaus Florian Vogt auf die Bühne, der große Norddeutsche mit blonder Wallemähne und blauen Augen (die auf den großen Leinwänden auf beiden Seiten der Bühne besonders auffallend leuchten) ist auf den bedeutendsten Bühnen der Welt zuhause und vor allem ein gefragter Wagner-Sänger bei den Bayreuther Festspielen.

Heute gibt er sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Er singt die Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ (ebenfalls aus “Der Freischütz”), wobei seine schlanke klare Stimme, die knabenhaft klingt, gut die jugendliche Frische des Stückes einfängt. Allerdings scheint der Tenor von der monumentalen Kulisse und den Menschenmasse so sehr beeindruckt zu sein, dass er auffällig oft nach Luft schnappt und sein Gesang mitunter ein wenig atemlos wirkt. Vielleicht ist es wirklich ein bisschen Nervosität, was ich sehr sympathisch finde, er ist offenbar kein abgebrühter Star. Das Publikum spendet dem Tenor jedenfalls freundlichen Beifall.

Als nächstes bringen die Philharmoniker die Klänge von Richard Wagner zu Gehör. In der Arie „Mein lieber Schwan“ aus Lohengrin fühlt sich der Tenor hörbar angekommen und zeigt in einer gefühlvollen und schönen Interpretation, warum der Gralsritter seine Paraderolle ist.

Dann ist Pause. Ein allgemeines Gewusel bricht aus, die hausgemachten Stullen werden ausgepackt und die Zigaretten angezündet. Ich beobachte vergnügte Familien mit ihren Kindern. Ein kleines Mädchen im goldenen Rock und mit güldenen Sandalen hat sich für das Event wie eine Prinzessin in Schale geworfen und albert mit ihrem Bruder herum.

Auch die Kamerateams vom rbb, der das Konzert live übertragen, sind fleißig im Einsatz, interviewen den Tenor und mischen sich unter das Publikum, um Impressionen und O-Töne zu sammeln.

Gegen 21 Uhr geht das Konzert weiter. Nun steht die Musik des Klangmagiers Richard Strauss auf dem Programm. Die Philharmoniker spielen mit großer Plastizität „Till Eulenspiegels lustigen Streichen“. Die Musik trägt mich wie auf wogenden Wellen in weite Ferne. Dann singt Klaus Florian Vogt drei Strauß-Lieder mit großer Stimmschönheit.

Das grandiose Finale bildet die Suite op. 59 aus „Der Rosenkavalier“, was eine Art Best-of aus Strauss’ berühmtester Oper ist – ich erkenne die süße Walzermelodie „Nur mit dir“ wieder (amouröse Fantasien von Baron Ochs) und es geht auch dramatisch zu. Diese berauschende Musik ist so voller Farben, dass geradezu cineastische Bilder vor meinen Augen entstehen – sie würde sich auch gut als Filmmusik eignen. Die Philharmoniker spielen mitreißend und dabei differenziert, sie sind einfach erste Sahne.

Als erste Zugabe interpretiert der Tenor das Lied „Morgen“ (ebenfalls von Strauss) sehr gefühlvoll – im Lied geht es um Abschied und Wiedersehen (vielleicht im Jenseits) – ich bin total bewegt und gerührt.

Dann kommt die Zugabe, auf die sich das Stammpublikum die ganze Zeit gefreut zu haben scheint, für mich jedoch ein überraschendes Erlebnis ist: Zum flotten Marsch „Berliner Luft“ (Operettenlied von Paul Lincke, komponiert 1904, wurde bald zum Gassenhauer) werden die Handylichter geschwenkt und hier und dort glitzern Wunderkerzen (inzwischen ist es dunkel und die Sichel des Mondes steht silbrig am Himmel) und im Refrain wird freudvoll mit gepfiffen – das ist wirklich ansteckend. Ich kann gut verstehen, dass diese inoffizielle Hymne der Stadt eine liebgewordene Tradition als Abschlussstück des Konzerts der Philharmoniker in der Waldbühne ist.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem Pfeifen auf den Lippen folge ich schließlich wieder dem Strom der Menschen zur S-Bahnstation.

Es war magischer Konzertabend mit herrlicher Musik und der besonderen Stimmung unter freiem Himmel.

Bis zum nächsten Mal – in der Waldbühne lässt sich die Berliner Luft doch am besten schnuppern.

Jonas Kaufmann und die Berliner Philharmoniker bringen italienisches Lebensgefühl in den Konzertsaal

Berliner Philharmonie, Freitag, 30.12.2022

Das traditionelle Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker lockt jüngere sowie ältere Klassikbegeisterte in den bis auf den letzten Stehplatz besetzten Saal. Die Konzertserie mit italienischem Programm unter der Leitung von Kirill Petrenko mit Startenor Jonas Kaufmann als Gast wird an drei Abenden in Folge dargeboten, heute, am mittleren Tag, sind schon ein halbes Dutzend Kameras im Einsatz und proben für die weltweite Live-Ausstrahlung des Konzerts am letzten Tag des Jahres 2022 über das Internet, in unzählige Kinosäle auf der ganzen Welt und auf die TV-Bildschirme daheim über Arte.

 

Zum Auftakt bieten die Berliner Philharmoniker die Ouvertüre aus der Oper La forza del destino (Die Macht des Schicksals) von Giuseppe Verdi dar. Das Schicksalsmotiv braust durch den Saal und trägt die Zuhörenden in eine Innenwelt voller Kämpfe und Verzweiflung. Daran knüpft Jonas Kaufmann mit seiner Arie aus derselben Oper an. Während im Vorspiel die sehnsuchtsvolle Melodie der Solo-Klarinette erklingt, verwandelt sich der graugelockte Tenor im Frack emotional in die gepeinigte Figur des Don Alvaro, der mit »La vita è inferno all’infelice … Oh, tu che in seno agli angeli« sein Leben zwischen zwei Welten als “Mestize” (Sohn eines Spaniers und einer Inkaprinzessin) und seine unstillbare Sehnsucht nach seiner Geliebten Leonore schmerzvoll besingt. Hier zeigt Kaufmann die ganze Bandbreite seiner gesanglichen Gestaltungskunst. Er lässt die Töne variantenreich an- und abschwellen und bildet eine fließende Gesangslinie (Legato) wie es der italienische Stil erfordert. Durch seine gefühlsgeladene Interpretation taucht man als Zuhörende ganz ins Seelenleben dieser Opernfigur ein.

 

Als nächstes wird eine Rarität zu Gehör gebracht. Die Oper Giulietta e Romeo von Riccardo Zandonai (uraufgeführt 1922) ist eine veristische Umsetzung des weltbekannten Dramas um das tragische Liebespaar Romeo und Julia. Dieses Stück hat es leider nicht ins gängige Repertoire der Opernhäuser geschafft. Umso schöner, diese Perle in der ergreifenden Interpretation von Jonas Kaufmann zu erleben: »Giulietta! Son io!«, schluchzt Romeo am Totenbett seiner Julia. Der Tenor bringt Trauer und Schmerz eindringlich zum Ausdruck, ohne dabei pathetisch zu wirken. Mit großer Innigkeit und warmen Stimmfarben gestaltet er diese Arie, die direkt ins Herz geht.

 

In der Ballettmusik Romeo und Julia, Suite Nr. 1 op. 64a: Tybalts Tod von Sergej Prokofjew schließen die Philharmoniker an den Stoff an. Kirill Petrenko lässt das Orchester seine ganzen Facetten zeigen und überzeugt mit einem mitreißenden und immer transparenten Klangerlebnis.

Die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Kirill Petrenko

Nach der Pause bietet Kaufmann das bekannte „Improvviso“ dar, die Auftrittsarie des Andrea Chénier aus der gleichnamigen Oper von Umberto Giordano. Mit »Un di all’ azzurro« beschreibt der Poet am Vorabend der französischen Revolution die Schönheit der Natur und die gegensätzliche Armut der Landbevölkerung und klagt die Ignoranz des Adels im Angesicht dieser Not an. Kaufmann hat diese Rolle schon oft auf der Opernbühne dargestellt und man merkt, dass er in dieser Arie ganz zuhause ist. Der Tenor begeistert mit kraftvoll schillernden Ausbrüchen und wechselt dabei mühelos in sanfte und schwelgerische Passagen.

 

Sodann wird man von den Philharmonikern in Pietro Mascagnis Intermezzo aus Cavalleria rusticana (uraufgeführt 1890) in ein hitziges sizilianisches Dorf entführt. Diese Oper gilt als Meisterwerk und Blaupause für den Verismo, einen Musikstil, der die Gefühle wahrhaftig und naturalistisch ausdrückt. Die ungeschönte Wahrheit über die Liebe bekommt man sodann in der herzzerreißenden Abschiedsarie des Turiddu präsentiert: »Mamma, quel vino è generoso«, singt Kaufmann. Hier zeigt der Tenor, dass er mit Leib und Seele Sängerdarsteller ist, der in seine Rollen hineinschlüpft und deren Gefühle wahrhaftig durchlebt. Mit subtilem Schwanken sieht man den trunkenen Turridu, auf dem Gesicht des Sängers sind die Gefühle im Wechsel zwischen schmerzlicher Bitte, Melancholie und aufblitzender Hoffnung zu erkennen. Auch gesanglich bietet Kaufmann das ganze Wechselbad der Gefühle dar, er hält nichts zurück, gibt alles.

Besonders bemerkenswert ist, dass der Sänger in dieser Marathon-Serie der Konzertabende kein Sparprogramm fährt, auch wenn er sicherlich seine Kräfte klug einteilt, sondern für sein Publikum in diesem Moment sein Bestes gibt. Der emotionale Funke springt vollends über und Kaufmann wird mit enthusiastischem Applaus belohnt.

 

Die Stimmung bleibt italienisch in den folgenden Stücken von Nino Rota, der sich vor allem als Komponist von Filmmusiken einen Namen gemacht hat. In La strada, Orchestersuite: 1. Nozze in campagna – »È arrivato Zampanò« und Orchestersuite: 2. I tre suonatori e il »Matto« sul filo lassen die Philharmoniker die Welt der Schausteller lebendig werden, mit Witz und Melancholie.

 

Das große musikalische Finale bietet die Capriccio italien op. 45 von Peter Tschaikowsky. Der Komponist verbrachte den Winter 1879/80 in Rom und beobachtete mit Vorliebe das bunte Treiben der Menschen auf den Straßen und Plätzen der ewigen Stadt. Besonders beeindruckt haben ihn die Natürlichkeit und Fröhlichkeit der Römer. Diese Eindrücke hat er in sein Orchesterstück einfließen lassen. Während Kirill Petrenko geradezu auf seinem Podest tanzt, zeigen die Berliner Philharmoniker ihr ganzes Können und man fühlt sich auf ein Volksfest ins bella Italia versetzt. Das Tamburin klingt volkstümlich und greift traditionelles Liedgut auf. Wenn ein musikalisches Thema wie in einer La-Ola-Welle von den Kontrabässen ganz rechts durch das ganze Orchester wogt und im Rund letztlich die ersten Geigen ganz links erreicht, wird man auf diesem Strom mitgetragen. Der musikalische Hochgenuss wird vom Publikum mit großem Jubel gefeiert.

Jonas Kaufmann beim Schlussapplaus

Weil man gar nicht möchte, dass der Abend endet, schenkt Jonas Kaufmann dem Publikum noch mit Parla più piano von Nino Rota eine Zugabe mit viel italienischem Flair. Den temperamentvollen Abschluss geben die Philharmoniker mit der Tarantella von Dmitri Schostakowitsch.

Das grandiose Konzert kann auch im Nachhinein noch genossen werden, denn die Darbietung vom 31.12.2022 wurde aufgezeichnet und kann hier angeschaut werden:

In der Digital Concerthall der Berliner Philharmoniker

und Arte Mediathek.

Zweifacher Konzertgenuss für mich am Donnerstag (29.12.) auf einem Stehplatz und am Freitag (30.12.) im Parkett mit Pressekarte.