Warum hier:
Ich lese gerade Erich Kästners „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“ (1931) und lerne in seiner Großstadtsatire ein Berlin der 30er Jahre voller Exzesse und moralischer Grenzgänge kennen. Aber in derselben Stadt sind auch Pünktchen und Anton (1931) zuhause und hier verfolgen Emil mit seine Detektiven den Dieb. Eine Stadt und ein Autor mit vielen Facetten und Gegensätzen.
Erich Kästner verbracht von 1927 bis 1945 seine literarisch produktivste Zeit in Berlin und machte die Stadt zum Schauplatz seiner Erzählungen. Er schrieb am liebsten in Kaffeehäusern, so zum Beispiel im Café Josty an der Kaiserallee (heute Bundesallee) in Wilmersdorf – auf der Caféterrasse beobachtet Emil mit seinen Kinderdetektiven den Dieb Grundeis – oder im Romanischen Café, einem Künstlertreffpunkt gegenüber der Gedächtniskirche. Diese Orte gibt es heute nicht mehr, sie wurden im 2. Weltkrieg von Bomben zerstört.
Mal sehen, ob ich im Eiscafé Monheim in Wilmersdorf der Kaffeehauskultur und Kästners Werk nachspüren kann. Vielleicht hat Kästner selbst hier früher mal gesessen – das nach seiner Gründerin Erna Monheim benannte Lokal besteht seit 1928 und liegt nicht allzu weit von Kästners damaligem Pensionszimmer in der Prager Straße 17.
Zur Einstimmung:
Jacob Fabian, 32 Jahre alt, arbeitsloser Germanist (zwischendurch mal „Reklamefachmann“) im Café Spalteholz: „Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in der Mensa am Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt hatte, verabscheute er Süßes.“
Der Ort:
Ich hingegen mag sehr gerne Süßes, allerdings auch nicht an Nudeln. Hier im Eiscafé bestelle ich mir stattdessen ein Spaghetti-Eis (mein Favorit aus Kindertagen). Das Café ist aus der Winterpause zurück und empfängt seit 1 Woche wieder seine Gäste.
Mein Spaghetti-Eis holt die gutgelaunte Bedienung aus dem Keller. Das Glas der Schüssel ist beschlagen, weil die Portion offenbar schon vorbereitet in der Kühltruhe steht. Ich hoffe, das Eis hat dort nicht überwintert.
An diesem Nachmittag strömen unablässig juchzende Kinder in dicken Winterjacken mit ihren Müttern und Vätern herein und suchen sich ihr Lieblingseis aus. Dabei reichen ihre kleinen Köpfe gerade so über den Handlauf der Theke und sie drücken ihre Nasen an die Scheibe zu den Eiskübeln. Schokolade und Vanille in der Waffel sind heiß begehrt.
Kinder bei Erich Kästner
Aber so unbeschwert, wie es scheint, ist ein Kinderleben gar nicht. Das wusste auch Erich Kästner. Er fängt die Lebensumstände der Kinder im Berlin der Weimarer Republik einfühlsam ein. Die Kinder sind meist auf sich allein gestellt. Ihre Eltern müssen viel arbeiten, entweder weil sie sehr arm (und auch krank, wie die Mutter von Anton) oder sehr reich sind (wie der Fabrikanten-Vater von Luise/Pünktchen und ihre Mutter, die ihre Zeit lieber Luxus und Vergnügen, als ihrer Tochter widmet).
Die Kinder halten untereinander zusammen, Freundschaft und Solidarität sind die höchsten Güter. Zusammen können sie ihre Sorgen und Ängste überwinden. Und davon gibt es jede Menge: Abwesende Eltern, Armut, Krankheit, Ganoven und böse Klassenkameraden sind der Ausgangspunkt ihrer Nöte.
Bei Kästners Kinderbüchern spielen soziale Ungerechtigkeit und emotionale Vernachlässigung immer eine zentrale Rolle. Die Erwachsenen merken jedoch nichts davon und müssen erst von ihren Kindern von ihrem Egoismus und ihrer Blindheit kuriert werden.
So erkennen die Eltern von Pünktchen ihr Versagen erst, wenn sie ihre Tochter vor dem Opernplatz (sie kommen gerade in feiner Abendgarderobe aus Puccinis „La Bohème“ – „die Musik klingt, als ob es süße Bonbons regnet“) in Lumpen betteln sehen. Erst dieser theatralische Anblick und die edlen Motive ihrer Tochter wecken im Vater seine soziale Verantwortung (er unterstützt die verarmte Mutter von Anton) und in der Mutter ihre vergessenen Fürsorgepflichten.
Kästner macht die Kinder in seinen Erzählungen zu Identifikationsfiguren und Hoffnungsträgern. Und was für die Kinder seiner Zeit galt, scheint auch für alle nachfolgenden Generationen immer noch gültig zu sein.
Nachdenkerei
Beim aktuellen Wiederlesen des Buchs kam mir die eingeschobene „Nachdenkerei“ in „Pünktchen und Anton“, in der Kästner nach jedem Kapitel Figuren und Handlung reflektiert, sehr belehrend vor. Wollte er wirklich mit erhobenem Zeigefinger eine moralische Lehrstunde geben? Oder muss man das als Satire lesen?
So erzählt Kästner in der Nachdenkerei „Von der Phantasie“ von einem Mann mit viel Phantasie, der im Traum aus seinem Fenster sprang, dies im Schlaf dann auch tatsächlich tat, glücklicherweise aber nur im Parterre wohnte.
„Aber stellt euch vor, der arme Mann hätte vier Treppen hoch gewohnt! Da hätte ja seine Phantasie lebensgefährlich werden können. Phantasie ist eine wunderbare Eigenschaft, aber man muß sie im Zaum halten.“
Springen lässt Kästner seine Romanfiguren aber trotzdem: Uli aus „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) springt mit einem Regenschirm in der Hand von einem Klettergerüst, um seinen Mut zu beweisen.
Fabian springt von einer Brücke in einen Fluss, um einen Jungen zu retten. Der kleine Junge schwimmt heulend ans Ufer. Fabian ertrinkt, denn er kann leider nicht schwimmen.
Bei Fabian ist der Sprung ins Wasser weniger ein Akt von Mut oder Zivilcourage, sondern eher eine Kapitulation vor den Anforderungen des Lebens und seinen eigenen Ansprüchen. Zuvor hat er das Stellenangebot einer politisch rechts orientierten Zeitung abgelehnt, will dann in die Berge „fliehen“ und warten, dass die Welt sich ändert, weil er nicht nur Zuschauer, sondern auch Akteur im Welttheater sein will.
Aber er fragt sich selbst: „Fand sich für den, der handeln wollte, nicht jederzeit und überall Tatorte?“
Kästner und der Nationalsozialismus
Kästner selbst quälte nach Ende des 2. Weltkriegs seine eigene Untätigkeit im Angesicht der Herrschaft der Nationalsozialisten. Seine Haltung war eindeutig gegen das Nazi-Regime und ihre Ideologie. Schon 1928 verfasste er das hellsichtige Gedicht „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?“
Nach Hitlers Machtergreifung 1933 entschied sich Kästner jedoch, in Berlin zu bleiben und nicht, wie viele zeitgenössische Künstler, ins Exil zu gehen.
Bei der Bücherverbrennung der Nazis am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz (heute Bebelplatz) vor der Juristischen Fakultät wurde Kästners „Fabian“ als „wider den deutschen Geist“ verbrannt. Kästner selbst war als Augenzeuge bei der Hetzveranstaltung anwesend.
Heute erinnert ein Mahnmal – ein unterirdischer Raum mit leeren Bücherregalen – auf dem Bebelplatz an die Bücherverbrennung.
Danach wurden Publikationsverbote über Kästner verhängt und seine Bücher in Deutschland verboten. Kästner hielt sich während dieser Zeit politisch bedeckt.
Seiner Schriftstellertätigkeit ging er unter Pseudonymen nach. So lieferte er der Unterhaltungsindustrie des Dritten Reiches Theatertexte und diverse Filmdrehbücher. Für den Jubiläumsfilm der Ufa „Münchhausen“ schrieb Kästner 1942 unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“ das Drehbuch.
Kästner schrieb in den letzten Kriegsjahren ein Tagebuch und hatte immer vor, eine große literarische Abrechnung mit dem Nazi-Regime herauszubringen. Zwar veröffentlichte er seine Aufzeichnungen unter dem Titel „Nota Bene“ 1961, aber es war nicht das Werk, das er von sich selbst erwartete.
Hier scheint Kästner im autobiografischen Fabian sein eigenes Dilemma vorhergesehen zu haben.
In seinen Jahren in München bis zu seinem Tod 1974 litt Kästner zeitweise an Schreibblockade und Alkoholsucht. Die Rolle des Erfolgsautors und Märchenonkels spielt er nur noch.
Zurück ins Eiscafé
Gerade kommt ein 4-jähriger Knirps in einem knallgrünem Anorak mit seinem Vater herein. Er bestellt Zitroneneis „mit bunten und blauen Streuseln“.
Ja, die Kinderwelt ist voller Entdeckungen und Wunder – und ihre Sorgen und Nöte sind besiegbar – zumindest in der Romanwelt von Erich Kästner.
Das gewisse Extra:
Das Gedicht „Sachliche Romanze“ hat mich nachhaltig beeindruckt. Das Gedicht ist in Stil und Sprache typisch für Kästner, wie ich finde. Zeitlos und Hintergründig.
Im erotischen Gedicht „Abendlied des Kammervirtuosen“ kann man die frivole Seite Kästners kennenlernen, der zeitlebens viele und wechselnde Liebesbeziehungen zu Frauen unterhielt. Das Gedicht wurde als Verunglimpfung von Beethoven aufgefasst und sorgte für seinen Rauswurf bei der Neuen Leipziger Zeitung 1927 – und seinen Umzug nach Berlin.
Meine Sterne-Wertung für den Schreibort
Produktivität („wordcount“)
★★★☆☆
Inspiration
★★★★☆
Süß-Faktor
★★★★★