Warum hier:
An diesem Ostersonntag zieht es mich aus meinem Studierzimmer ins Freie – obwohl sich Regen, Hagel und Sonnenschein minütlich abwechseln. Und wer wäre ein besserer Begleiter für meinen Osterspaziergang, als Faust? Und welcher Ort „vor dem Tor“ Berlins bietet ein freies Feld für naturverbundenes Spazieren: Das Tempelhofer Feld.
Zur Einstimmung:
Wer gerade bei „naturverbunden“ geschmunzelt hat, der lausche doch bitte in meinem Video auf das Vogelgezwitscher der Feldlerche (und ist hoffentlich schwindelfrei):
Der Ort:
Faust begrüßt mich, ich kann seine Worte über das Kirchengeläut kaum verstehen. Er hat die ganze Nacht in seinem Studierzimmer verbracht und steckt gerade ziemlich in der Krise.
Ich selbst war eben im Ostergottesdienst in der Evangelischen Kirche bei mir um die Ecke (zum ersten Mal) – dort habe ich in der Predigt von der Auferstehung Jesu gehört und wie wir Menschen auch aufstehen und den Stein von unserem eigenen Grab der Gewohnheiten rollen müssen und einen Weg zur Selbstbefreiung und zur Öffnung für neue Erfahrungen finden sollen – im Glauben.
Faust will davon nichts hören. Mit der Religion hat er es wohl nicht so – aber die Gretchenfrage überlasse ich lieber einer anderen. Trotzdem ist auch Faust auf der Suche nach Befreiung – Befreiung aus seiner eigenen Begrenztheit. Sein Leben lang strebt er schon nach höherem Wissen („was die Welt im Innersten zusammen hält“).
Faust stampft mit schnellem Schritt und gesenktem Kopf vor mir her. Seinen redseligen Gehilfen Wagner haben wir zum Glück abgeschüttelt.
In der S-Bahnstation tummeln sich viele Leute beim Bäcker und im Blumenladen – einige erkennen Faust und grüßen ihn respektvoll mit „Herr Magister“ und „Herr Doktor“. Faust nickt darauf nur mürrisch. Ja, er ist Gelehrter in den Fächern Philosophie, Jura, Medizin und Theologie – und trotzdem findet er keine Antwort auf seine existenzielle Frage.
„Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor“, murmelt Faust vor sich hin. Ich hoffe, seine Laune bessert sich noch.
Endlich öffnet sich das Tempelhofer Feld vor uns und ein kräftiger Regenschauer begießt uns. Die Fläche aus Asphaltbahnen und Wiese dehnt sich scheinbar unendlich aus. Im Moment ist hier kaum jemand außer uns unterwegs.
„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.”
Tatsächlich leuchtet die Wiese grün und die Natur erobert sich ihr Recht zurück.
„Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.”
Die Sonne könnte sich heute schon ein bisschen mehr ins Zeug legen. Blumen sehe ich hier wirklich nicht, dafür unvermutet eine Bauminsel.
Ich bin schon ziemlich durchnässt (ans Schreiben in mein Notzibuch ist nicht zu denken), mein roter Regenschirm scheint mir im Moment der einzige Farbklecks zu sein.
Faust lächelt milde, als mir mein Schirm beim fotografieren mal wieder vom Wind weggerissen wird. Er lässt den Regen über seine Wangen laufen und fühlt sich wohl in diesem unbeherrschbaren Wechselspiel der Natur.
Auf dem weiten Feld kommt Bewegung auf – wir sehen Menschen auf Fahrrädern und anderen Fortbewegungsmitteln einher sausen (warum tragen alle Leute schwarz?).
Plötzlich deutet Faust auf ein Tier im Gras, das uns seit einiger Zeit aus der Ferne umkreist.
„Trägt etwa auch der Osterhase Schwarz“, scherze ich. Doch Faust meint, es sei ein Pudel. Ich glaube, er irrt sich (seine Augen sind nicht mehr die Besten, das kommt vom vielen Lesen bei Kerzenschein…).
„Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.”
Jetzt kommt die Sonne doch ein bisschen beständiger zum Vorschein und im Nu strömen mehr Leute auf das Feld.
Mein Regenschirm bekommt Gesellschaft in Form eines roten Drachens – der schon beim zweiten Anlauf mit im Wind klatschenden Flügeln in den Himmel aufsteigt.
Warum kommen die Menschen hierher? Jeder von ihnen strebt nach etwas. Nach Befreiung aus dem Alltag, nach Bewegung, nach Alleinsein, nach Gemeinschaft, nach Stille – die großen Lebensfragen werden hier wahrscheinlich nicht beantwortet. Aber was man hier erleben kann: Einen Moment der inneren Freiheit.
„Ich höre schon des Dorfs Getümmel;
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet Groß und Klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“
Faust und ich kommen nach unserer großen Runde wieder zum Eingang. Meine Kleidung ist immer noch durchnässt und meine Frisur für heute ruiniert, aber ich habe rote Wangen von Wind und Regen und fühle mich beschwingt. Faust ist auch guter Stimmung. Wir verabschieden uns. Den lästigen Pudel kann ich mit der S-Bahn zum Glück abhängen.
Das gewisse Extra:
Hier ein kleiner Ausblick, wie es Faust nach dem Osterspaziergang (in Bild und Ton) weiter ergeht. Während er noch vom Erlebnis auf dem Felde schwärmt, schleicht sich der Pudel in seiner wahren Gestalt in Fausts Studierzimmer. „Dai campi, dai prati“ aus „Mefistofele“ von Arrigo Boito (aus dem Jahr 1868) – eine meiner Lieblingsopern.
Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:
Produktivität („wordcount“)
☆☆☆☆☆
Inspiration
★★★★☆
Pudelnass-Faktor
★★★★★