Hennis Blog-Adventkalender 2021 – Was wäre, wenn …? Türchen 20

Alle Jahre wieder haben Sabine und Henni zum Blog-Adventskalender eingeladen und ich schreibe gerne mit. Das Thema der Geschichte lautet dieses Jahr: „Was wäre, wenn…“

Was bisher geschah, könnt ihr in diesem pdf nachlesen.

Türchen 19:

„Nein.“, denke ich. „Ich muss überhaupt nichts erklären.“
„Danke.“, sage ich. „Ich nehme lieber einen Apfelpunsch.“
„Okeeee!?!“ Maggie konnte ich schon früher nichts vormachen.
Egal, meine Entscheidung und damit mussten die beiden jetzt leben.
Puh, das fühlte sich auf einmal echt gut an.

Meine Entscheidung!

Nicht mehr nur auf andere Entscheidungen reagieren, sondern endlich mal selbst was in die Hand nehmen. War viel einfacher als ich gedacht hatte.
Da wollte ich gleich weiter machen.
Ich entschied, das ganze ‚was wäre, wenn‘ beiseitezuschieben. Wohin hatte es mich schließlich gebracht? In ein scheinbar unauflösliches Kuddelmuddel von Gefühlen und nicht zu Ende gelebten Geschichten.
Und da war plötzlich ein kleines bisschen Zufriedenheit in mir.
„Wie kommt es, dass ihr mal wieder in der Gegend seid?“, fragte ich und wärmte mir die Finger und die heilende Seele am Apfelpunsch.

Türchen 20:

„Wir ziehen wieder zurück auf’s Land“, sagt Thommie, „nach fast 10 Jahren in New York haben wir die Nase voll vom Großstadtlärm und Gedränge.“

„Wir haben einen alten Bauernhof gekauft“, verkündet Maggie und ihre grünen Augen sind ganz groß. Wie bei einem Reh, das ins Scheinwerferlicht blickt. Die Alarmglocke in meinem Bauch vibriert. Da stimmt etwas nicht. Maggie senkt den Blick und nippt an ihrem Glühwein.

„Papa, ich will nochmal“, klingt plötzlich ein Stimmchen zu uns hoch. Da steht ein Mädchen in einem viel zu warmen Schneeanzug und trampelt aufgeregt in der Pfütze zu unseren Füßen herum, „nochmal, nochmal!!“

Thommie nimmt das Mädchen auf den Arm.

„Das ist unser Allie“, sagt er mit Vaterstolz.

„Schau mal, das ist unsere Freundin. Sie heißt auch Allie.“

Die Kleine wirft mir einen flüchtigen Blick zu.

„Diesmal will ich auf das Motorrad“, ruft sie und zieht Thommie ungeduldig an seinen Ohrläppchen.

„Ich muss dann mal“, sagt er mit einem schiefen Lächeln und geht mit seiner Tochter zum Karussell für eine weitere Runde. Maggie und ich sehen uns an. Früher haben wir uns oft ohne Worte verstanden. Meine Frage liegt in der Luft und Maggie versteht sie.

„Also gut“, seufzt Maggie, „wenn du die Wahrheit wissen willst: Ich hatte einen Burnout. Deshalb habe ich meinen Job in der Bank gekündigt. Ich musste einfach raus aus der Stadt. Raus aus meinem Leben…“

„Du hast doch alles bekommen, was du immer wolltest. Deinen Traummann, deinen Traumjob, ein tolles Kind“, platzt es aus mir heraus. Warum bin ich nur so wütend auf sie? Ich weiß doch selbst, wie es sich anfühlt, wenn alles verkehrt ist. Meine Hand beginnt zu zittern. Was würde ich jetzt für einen Schluck Glühwein geben. Da spüre ich die kalten Fingerspitzen von Maggie auf meinem Handrücken…

Wie es morgen weiter geht, erfahrt ihr bei Sonja.

Hennis Blog-Adventkalender 2021 – Was wäre, wenn …? Türchen 6

Alle Jahre wieder haben Sabine und Henni zum Blog-Adventskalender eingeladen und ich schreibe gerne mit. Das Thema der Geschichte lautet dieses Jahr: „Was wäre, wenn…“

Was bisher geschah (in kursiv):

Sie saß am Schreibtisch im Licht der ersten Kerze vom Adventkranz und las ihre gerade geschriebenen Zeilen noch einmal durch. 

Was wäre, wenn wir über etwas schreiben, was wir nie vergessen haben?“ 

Ein Foto.

Ich auf einem Stuhl im Kindergarten mit einem Buch auf dem Schoß.
Welt im Kopf.
Ich konnte noch gar nicht lesen. 

Ein Foto.
Ich mit Schwimmflügeln im Planschbecken.
Welt im Wasser.
Ich konnte noch gar nicht schwimmen. 

Ein Leben.
Ich mit Stift in der Hand.
Welt in Welt.
Ich kann gar nicht mehr anders. 

Die Ankunft einer neuen Nachricht auf ihrem Smartphone lenkte sie kurz ab. 

Kommst du morgen auch zu unserem Abitreffen? Dreißig Jahre ist es her…“ Ich erschrak. Dreißig Jahre? Ist das wirklich wahr? Wie lange hatte ich nichts mehr von Babette gehört und jetzt auf einmal schrieb sie mir. Woher hatte sie überhaupt meine Nummer?

Bilder tauchten in mir auf: Vom Abiball, bei dem sich meine Haare in Dietmars Sakko- Knopfleiste verfingen und er mich fast skalpierte. Von meiner Deutschlehrerin Frau Zimbella, die meine Leidenschaft für Bücher teilte und die ich wie eine Göttin verehrte. Von Peter, dem Pickel-Peter, neben den sich keiner setzen wollte und der mir immer so leid tat und…

Und dann bohrte sie sich wieder in mein Herz, diese eine Frage, die ich mir schon so lange nicht mehr gestellt hatte. Aus Angst vor der Antwort. Aus Angst vor den Träumen, die mich danach heimsuchten. Aus Angst vor der Begegnung mit dem Damals. Als meine Welt eine Welt in der Welt war. 

Und doch kann ich ihr nicht entkommen. Dieser einen Frage: Was wäre denn geschehen, wenn ich in der einen Nacht nicht aus Thommis Auto gesprungen und in die Dunkelheit gerannt wäre?

Dunkelheit. Auch heute. Der Nachbar von gegenüber schaltet gerade seine Balkonbeleuchtung ein. Adventlich. Klaro. Für die nächsten Wochen wird sein Rentierschlitten ständig durch mein Blickfeld sausen, bunt blinken und doch keinen Zentimeter von der Stelle kommen.

Stillstand. Wie in der mehr als dreißig Jahre alten Frage „Was wäre, wenn …?“ Ich versuche gar nicht erst, mir etwas vorzumachen. Die Frage ist nur eine Ablenkung von der eigentlichen: „Was wäre nicht geschehen, was hätte vermieden, verhindert werden können?“

Natürlich ist das eine Aufforderung zum Tanz, die das Schicksal spöttisch verweigert. Meine Erinnerungen schauen sehnsüchtig zum Rentierschlitten, vergeblich, der wird sich nicht bewegen. Der Wahrheit lässt sich eben nicht mal auf Kufen entkommen. Thommie ist tatsächlich …

Thommie ist tatsächlich danach spurlos verschwunden. Ob er in seine brasilianische Heimat zurückgekehrt ist? Wenn es denn überhaupt stimmte, dass er aus Brasilien stammte. Er hatte sich da eigentlich immer sehr vage ausgedrückt, aber so, dass alle damals dachten, er sei der Sunnyboy von der Copacabana. Sie hatte ihn mit seiner Band das erste Mal auf der Bühne des Jugendklubs gesehen und sich sofort in ihn verliebt. Er war nach seinem Auftritt in der Stadt hängen geblieben und hatte sich als Kellner im Gasthof ‚Zur Post‘ durchgeschlagen. Er hatte ihr von seiner Heimat Brasilien erzählt, dem Urwald, dem endlos langen weißen Strand und dem Wellenreiten. Zunächst hatten sie sich auf Englisch unterhalten, dann hatte er immer besser gelernt, sich auch auf Deutsch auszudrücken. Sie hatte nicht nur ihn, sondern auch seinen Akzent geliebt.

Sie schaute in den langsam einsetzenden Schneefall auf das blinkende Rentierdesaster gegenüber. Was wäre, wenn Weihnachten im Sommer stattfinden würde, ging es ihr durch den Sinn. Ob jetzt in Rio auch diese Weihnachtsungeheuer über die Balkone hetzen, ohne von der Stelle zu kommen? Ob die Weihnachtsplätzen auch bei 30 Grad und mehr schmecken würden? Aus Schokolade sollten die dann aber lieber nicht sein. Ihre Lieblingsplätzchen mit den Whiskey-Kirschen wären dabei sicher witterungsbeständiger. Tief aufseufzend machte sie sich auf den Weg in die Küche…

… und riss die Schranktüren auf. Bald standen die meisten Zutaten für die süße Sünde vor ihrer Nase. Sie krempelte die Ärmel hoch und lächelte. „Seufzen verboten“, schalt sie sich und machte sich an die Arbeit, die ihr eigentlich ein Vergnügen war!  

Als sie das Ei aus dem Kühlschrank nahm, fiel ihr Blick auf den vergilbten Bierdeckel, der zwischen bunten Urlaubskarten unter einem Magneten pappte.  

Thommi. Drei Striche für Bier und 2,60 für Schlammbowle. Die mit Wodka, Kirschen und Vanilleeis. Das war ihr letzter richtiger gemeinsamer Abend gewesen, bevor sich ihre Wege Hals über Kopf getrennt hatten.

Ein komisches Gefühl kroch ihr den Rücken hoch. Sie schüttelte sich.  

Ihr Smartphone vibrierte erneut. Sie wischte notdürftig den Teig von den Fingern und öffnete die Nachricht. Wieder war es Babette.

Türchen 6:

„Ich hoffe, du kneifst nicht. Fast alle haben zugesagt, sogar unsere Lieblingsdeutschlehrerin Frau Zimbella“, lautet ihre Nachricht. Mit zittrigen Fingern tippe ich eine Frage ins Smartphone:

„Hat Maggie auch zugesagt?“

Ich halte den Atem an, bis die Antwort von Babette kommt.

„Ja.“

Maggie kommt also wirklich zum Abitreffen. Maggie, die ich seit jener fatalen Nacht in Thommis Auto vor 30 Jahren nie mehr wiedergesehen habe. Maggie, mit der ich im Sandkasten Kuchen gebacken habe. Maggie, mit der ich in der Schule mein Pausenbrot getauscht habe: Schwarzbrot mit Gouda gegen Weißbrot mit Nutella. Maggie, die an Karneval immer Prinzessin war und ich ihr Hofnarr im zu großen Kostüm von meinem Bruder. Maggie, die mir gezeigt hat, wie man raucht und wie man sich seinen BH ausstopft. Maggie mit ihren blonden Locken und den grau-grünen Augen, in denen immer Abenteuerlust funkelte. Natürlich war sie es, die als einziges Mädchen aus unserer Klasse einen Maibaum bekommen hatte. Zwar von Pickel-Peter, aber egal. Ich war nie eifersüchtig auf Maggie gewesen, wir gehörten zusammen wie Pech und Schwefel, wie Topf und Deckel, wie Fönfrisur und blauer Lidstrich.

Bis Thommi in unser Leben trat. Das Gasthaus „Zur Post“ war zum Treffpunkt aller Mädchen aus unserem Dorf geworden, seit Thommi dort kellnerte und Samstagsabends mit seiner Zwei-Mann-Band dort auftrat. Dann verwandelte sich dieser triste Keller in eine Insel der Glückseligkeit. Wenn Thommi mit seiner rauchigen Stimme sang und dazu mit seinen grazilen Fingern an den Saiten seiner Gitarre zupfte wie ein Liebhaber, träumte sich jedes Mädchen in seine Arme. Er hatte für jede seiner Bewunderinnen diesen speziellen Blick, den er unter seinen langen Wimpern warf. Auch mir sendete er diese magischen Blicke zu. Doch für Maggie hatte er einen besonderen Blick reserviert…

Morgen geht es weiter bei Christina

Schalttag statt Alltag – Ein Manifest & mehr

EIN MANIFEST CONTRA CALARIUS und PRO SOLARIS

Nieder mit der Diktatur der Uhren! Alle Macht den solarischen Sekunden!

Wir, die Gruppe 366, sind eine Vereinigung von Sonnenanbetern und Tropentrojanern. Wir haben uns der Rückkehr zur natürlichen Zeitmessung und der Abschaffung der diktatorischen Zeitverfälschung verschrieben.

Die Zeit ist in ihrer Ausführung und Richtung vom Kalender und den Uhren abhängig, in deren Korsett sie lebt, ein Korsett erdacht von den Menschen und Sklaven ihrer Epoche. Die höchste Zeit wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseinsinhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht.

Hat der Kalender unsere Erwartungen auf eine solche Zeit erfüllt, die eine Ballotage unserer vitalsten Angelegenheiten ist?

Nein! Nein! Nein!

Haben die Uhren unsere Erwartungen auf eine Zeit erfüllt, die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt?

Nein! Nein! Nein!

Wir, die Gruppe 366, haben uns zusammen getan, um eine Zeit durchzusetzen, von der wir die Verwirklichung unserer Ideale erwarten.

Wir fordern ab sofort:

5. Das annus intercalarius bzw. annus bissextus (im Volksmund Schaltjahr genannt) wird abgeschafft.

1. Alle Chronometer (im Volksmund: Uhren) werden abgeschafft. Das gleiche gilt für jede Art von Chronologie.

7. Die Länge der Tage wird ausschließlich vom Sonnenkalender bemessen, auch tropischer Kalender genannt.

3. Jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze hat das Recht, die volle Länge des tropischen Jahres auszuleben, nämlich 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 45,261 Sekunden. Das entspricht einer zusätzlichen täglichen Bonuszeit von durchschnittlich 57,329 Sekunden. Diese Sekunden sollen aber nicht gezählt, sondern genossen werden. Sie heißen fortan: solarische Sekunden.

2. Zur Zeitmessung werden ekliptische Frühlingspunkte bezogen auf die Sonne in gleichmäßiger Präzession und Nutuation angesetzt. Hierfür wird ab sofort das Tulpen-Chronometer eingeführt. Solange die Tulpe ihren Kopf nicht neigt, ist der Tag noch nicht zu Ende.

4. In einer Welt ohne Uhren gibt es auch keine Verspätungen mehr. Folgerichtig fordern wir die Ersetzung des Wortes “Verspätung” in allen Sprachen dieser Welt durch das Wort: „Solarequivalenz“.

6. Jeder, der versucht, die Lebensausdehnung über das diktatorische Tagesmaß von 24 Stunden hinaus einzuschränken, wird auf unbestimmte Zeit ins Solarium verbannt, inklusive Sonnenbrand.

Wir, die Gruppe 366, verpflichten uns gegenüber dem Universum, den Menschen, Tieren und Pflanzen, die Einhaltung dieser Forderungen niemals chronometrisch zu überwachen.

Lang lebe die Zeitlosigkeit!

gez. PRO SOLARIS 366

Die Sprecher der Gruppe 366 beim Verlesen des Manifests. Urs und Ulrike

Diesen Text habe ich heute, am 29. Februar 2020, bei der Lesung “Der geschenkte Tag” in der Lettrétage vorgetragen. Diese Lesung habe ich gemeinsam mit anderen Absolventinnen und Absolventen meines Jahrgangs BKS 11 – Biografisches und Kreatives Schreiben an der ASH Berlin – gestaltet.

In einem weiteren Text habe ich das Thema lyrisch  interpretiert:

SIE

Sie ist die Schönste und die Höchste, die es gibt

seit jeher bist du schon mit ihr zusammen

Du kannst auf sie spielen und ohne sie nicht sein

manchmal würdest du sie am liebsten totschlagen

Du hättest sie so gern für dich allein

doch musst du sie mit allen anderen teilen

 

Du möchtest mit ihr gehen

doch oft rennt sie dir davon

je mehr du mit ihr Schritt zu halten versuchst

desto mehr hinkst du ihr hinterher

doch manchmal steht sie still mit dir

dann bist du ganz versöhnt mit ihr

 

Sie heilt so manche Wunden

und hinterlässt doch tiefe Spuren

an ihrem Zahn möchtest du sein

ihren Nerv treffen und sie reif sein lassen

wenn sie kommt, dann kommt auch Rat

ihr Rad dreht sich ganz ohne Tat

 

Mit ihr kannst du nur voran gehen

sie lässt sich nicht von dir zurück drehen

Für die einen ist sie gleichermaßen Geld

die anderen wollen sie mit vollen Händen verschwenden

Manche sind sehr darauf versessen

sie ganz genau zu messen um sie ja nicht zu vergessen

 

Du kannst nicht von ihr lassen

und sie trotzdem nicht fassen

Sie weilt mit dir lange oder in Eile

Sie teilt mit dir dein Glück und deine Not

Ob traurig oder heiter

mit ihr geht es immer weiter

zusammen seid ihr schon zu zweit

Ach, du liebe ZEIT

Hier könnt ihr euch einen Einruck von meiner Lesung machen:

 

Meinen dritten Text “Schalttag statt Alltag” möchte ich euch zum Anhören präsentieren.

Hier noch ein Video-Auszug aus der Lesung meines Textes “Schalttag statt Alltag”:

Wir haben uns über ein sehr interessiertes Publikum in der Lettretage gefreut. Hier liest gerade Urs seinen Text, der 29 x das Wort 29 enthält.

Wer noch mehr Texte zum geschenkten Tag entdecken möchte, der wird auf den Blogs meiner Mitleserinnen und Mitleser fündig:

Urs Küenzi: Twentynine Palms

Christiane Henkel: Der geschenkte Tag

Sabine Hinterberger: Der geschenkte Tag oder Henni und die Schlagsahne