Eine literarische Agentur finden – der erste Schritt zur Veröffentlichung in einem Publikumsverlag

Ist nun endlich der Moment gekommen, an dem du dein Manuskript in die Welt hinaus schicken kannst – dein „Baby“, an dem du Monate, ja Jahre lang gebrütet, geschrieben und gefeilt hast?

Dann musst du zunächst eine grundsätzliche Frage für dich klären: In welchem Verlag soll dein Roman erscheinen? Hier sollten Wunsch und Wirklichkeit nicht zu weit auseinander klaffen. Eine realistische Einschätzung ist für diese wichtige Weichenstellung nötig.

Die erste Weichenstellung: In welchen Verlag passt dein Manuskript

Handelt es sich bei deinem Roman um Unterhaltungsliteratur (Belletristik)? In welchem Genre ist es anzusiedeln? Eine Übersicht der gängigen Genres findest du hier.

Die großen Publikumsverlage bedienen meist die gängigen Genres wie Krimi, Thriller, Science-Fiction, Historischer Roman und Liebesroman, manchmal auch Fantasy.

Diese „Big Player“ sind PENGUIN RANDOM HOUSE VERLAGSGRUPPE (dazu gehören u.a.: GOLDMANN, HEYNE, BLANVALET, DIANA), HARPERCOLLINS, ULLSTEIN, DROEMER, FISCHER, ROWOHLT, AUFBAU, PIPER, LÜBBE, PENGUIN, DTV. Diese Verlage haben meist noch diverse Imprints, d.h. Unterverlage mit eigenem Namen und oft spezifischer Zielgruppe (z.B. „Eichborn“ gehört zu Lübbe und steht für eher Anspruchsvolles).

Fantasy-Romane findet man z.B. auch bei RAVENSBURGER (Fantasy und Science-Fiction, Jugendbücher) und CARLSEN (Kinder- und Jugendbuch). Eine gute Verlags-Übersicht findest du hier.

Am besten du schaust mal bei deinen Lieblingsromanen und literarischen Vorbildern nach, in welchen Verlagen diese Bücher erscheinen. Wenn dein Manuskript vom Inhalt und Stil vergleichbar ist, dann könnten diese Verlage die richtige Adresse für dich sein.

Oder handelt es sich bei deiner Geschichte um ein (literarisches) Werk, das in keine Schublade passt und eher eine Nische braucht? Also „Arthouse“ anstelle von „Blockbuster“? Kaviar statt Popcorn?

Dann sind wahrscheinlich kleine Independent-Verlage die Richtigen für dich. Wie du dein Manuskript bei einem Indi-Verlag am besten vorstellst, erfährst du in meinem nächsten Blogbeitrag.

Wenn du zum Ergebnis kommst, dass dein Roman ein „Blockbuster“ ist und am besten in einen der großen Publikumsverlage passt, dann führt der einzige realistische Weg dorthin über eine literarische Agentur.

Ohne eine Agentur landet dein Werk in den Stapeln unverlangt eingesandter Manuskripte, die sich bei den großen Verlagen türmen und die von Praktikanten im Eiltempo abgearbeitet werden, wenn überhaupt.

Die Agenturen jedoch sind die Türsteherinnen ins gelobte Bücherland, sie kennen die magische Kombination (bestehend aus Insiderwissen, Connections und cleverer Verkaufsstrategie), die die Tresortür des Verlags öffnen kann.

Wenn dein Romanprojekt (in Form von Exposé und Leseprobe) von einer Agentur beim Verlagslektorat vorgestellt und angepriesen wird, steigen die Chancen, dass es gelesen und in Betracht gezogen wird. Eine Garantie gibt es natürlich nicht, aber du hast auch nichts zu verlieren, denn eine seriösen Agentur geht für dich in Vorleistung und die Provision fällt nur dann an, wenn ein Verlagsvertrag zustande kommt.

Einen Agenturvertrag zu bekommen ist also die erste Hürde, die allerdings auch schon ziemlich hoch liegt. Auch hier musst du dich gegenüber von hunderten anderen Einsendungen durchsetzen. Nicht nur die Qualität deines Textes muss überzeugen, sondern auch die professionelle Präsentation (hierzu später mehr).

Welche Agentur passt zu dir?

Der erste Schritt ist, die Agenturen auszuwählen, die zu deinem Manuskript und dir als Autor:in passen. Hier findest du eine Liste aller Agenturen in Deutschland. Alternativ kannst du dir auch auf dieser Seite von Petra Schier einen Überblick verschaffen.

Diese große Auswahl ist zugleich tröstlich wie erschlagend. Welche Agentur sollst du am besten zuerst anschreiben? Die in deiner Nähe? Vielleicht auf Empfehlung von anderen Autor:innen?

Auch bei den Agenturen gibt es große Unterschiede: Es gibt solche mit langer Tradition & Einfluss, die nur Preisträger:innen aufnehmen (z.B. Graf & Graf in Berlin), als Debütautor:in kannst du dir das gleich sparen, du hast dort keine Chance.

Groß und geschäftstüchtig sind auch Agenturen, die mehr als einen Sitz haben, z.B. die Agentur Thomas Schlück (Hannover und München). Der Nachteil solcher Agenturen ist, dass du als Autor:in dort evtl. nicht so individuell betreut wirst, wie bei einer kleinen Agentur, und dass deren Fokus ausschließlich auf den „Big Playern“ liegt und sie nicht für dich bei den kleinen Verlagen anklopfen gehen (weil dort der Vorschuss und somit auch die Provision zu gering für sie ist).

Dann gibt es die ganz kleinen „Dynamischen“, die angeblich auch Neulingen eine Chance geben, dafür ist ihre Provision höher (20 %; obwohl auch die „Großen“, die früher 15 % genommen haben, wegen Corona-Flaute auf diesen Prozentsatz aufgestockt haben) und ihre Vermittlungsquote (vermutlich) geringer.

Jede Agentur hat jedoch eine bestimmte Ausrichtung und auch bestimmte Verlage (Lektor:innen), mit denen sie besonders gut zusammenarbeiten. Das erfährst du, wenn du dich durch die jeweilige Homepage klickst und dir anschaust, welche Sorte Romane sie an welche Verlage vermittelt haben. Das ist Fleißarbeit, aber sehr erhellend.

Ich rate dir an dieser Stelle, eine Tabelle anzulegen, in der du jede Agentur einträgst, die du dir angesehen hast und dir Notizen machst: Welche Romane ähneln dem deinen, an welche Verlage vermitteln sie, wie groß ist die Agentur und wie zusammengesetzt – oft stellen sie sich mit ihrem Team vor. Wenn du z.B. einen Frauenroman geschrieben hast, ist natürlich eine Agentur mit vielen Frauen im Team (und in der Leitung) zu bevorzugen, anstelle von einem reinen Herrenclub.

Du kannst aber auch sprichwörtlich „Das Pferd von hinten aufzäumen“ und von deinem Wunschverlag die Spur rückwärts verfolgen über eine Autorin zur Agentur.

Wenn du zum Beispiel Young-Adult-Fantasy schreibst und im Fischer Verlag landen willst, dann stößt du dort auf die Silber-Trilogie von Kirsten Gier und findest auf deren Homepage ihre Agentur: Die Buchagenten Petra Hermanns und Christiane Düring in Frankfurt.

Nun hast du einige passende Agenturen gefunden. Ich empfehle nun, deine drei Favoriten auszuwählen und diese anzuschreiben. Wenn eine Agentur Interesse hat, meldet sie sich in der Regel innerhalb von 2-4 Wochen bei dir (manchmal dauert die Prüfung auch länger) und fordert das Gesamtmanuskript an. Damit sich deine Suche nicht über Jahre hinzieht, solltest du dir viele Chancen schaffen, z.B. jeden Monat drei „Bewerbungen“ verschicken.

Was erwartet die anzuschreibende Agentur von dir

Schau dir die Homepage der Agentur genau an und finde die Angaben zur Manuskripteinsendung: Meist gibt es einen eigenen Reiter oder du findest Angaben unter „Kontakt“. Hier steht, welche Unterlagen du an welche Stelle senden sollst: Meist per E-Mail, manchmal gibt es ein Online-Formular, manchmal in Papierform (lose Seiten) per Post.

Immer gefordert werden ein Exposé (1-3 Seiten), eine Leseprobe (20-50 Seiten) – halte die jeweiligen Seitenvorgaben möglichst genau ein – und eine Autorenvita mit Verzeichnis von Veröffentlichungen.

Bei digitaler Zusendung wird meist das pdf-Format bevorzugt, aber Word oder Open Office gehen auch.

Sende niemals das gesamte Manuskript unverlangt zu.

Wie du dein Romanprojekt am besten bei einer Agentur vorstellst

Hier gelten im Prinzip dieselben formalen Regeln, wie auch bei einer Jobbewerbung: Du brauchst als Erstes ein kurzes und knackiges Anschreiben (1 Seite) mit den wichtigsten Information. Das Anschreiben vermittelt den ersten Eindruck und kann schon das k.o. bedeuten, wenn dieses nicht gut ist.

In formaler Hinsicht ist es ein Geschäftsbrief: Briefkopf mit deiner Adresse, vollständige Anschrift des Empfängers, Ort und Datum. Der Betreff sollte lauten: „Manuskriptangebot: Titel und Genre“

Bei der Anrede ist es besser, du sprichst eine konkrete Person an, als das pauschale „Sehr geehrte Damen und Herren“ zu verwenden. Wenn auf der Homepage der Agentur eine bestimmte Ansprechperson genannt ist, dann schreibe diese namentlich an, sonst den/die Inhaber:in der Agentur.

Erster Absatz: Warum wendest du dich an gerade diese Agentur

„Ich bin auf Ihre Agentur aufmerksam geworden, weil Sie Autorinnen wie XY („Z“ aktuellen Roman nennen) vertreten und sich mein (Genre-) Roman mit (Attribut einfügen: was verbindet meinen Roman mit dem zuvor genannten) gut / bestens dort einreihen könnte.“

Ein Einleitungssatz wie “hiermit möchte ich Ihnen mein Romanprojekt vorstellen” ist eine bloße Floskel und somit verzichtbar. Der Betreff drückt das schon aus.

Zweiter Absatz: Was hast du anzubieten

Stelle dein Romanprojekt vor: Kurzpitch (1-2 Sätze).

Marktvergleich: Mein Roman ist so ähnlich wie… (d.h. passt in den Trend)

USP (unique selling point) / Alleinstellungsmerkmal: aber besonders, weil… (hebt sich von der Masse ab)

Dritter Absatz: Wer bist du

Stelle dich selbst vor: Welche Stipendien (z.B. Stadtschreiber:in) und Preise hast du schon gewonnen. Hast du schon Texte veröffentlicht (hier aber kein Selfpublishing nennen). Wenn du nichts Hochkarätiges vorzuweisen hast, dann lasse diesen Absatz weg. Deine kleinen Schritte Richtung Autor:innenberuf kannst du in deiner Vita darstellen.

Letzter Absatz: „jungfräulicher“ Status und unaufdringlicher Ausklang

„Ich habe das Manuskript gerade fertig gestellt und noch keinem Verlag angeboten. Bei Interesse sende ich Ihnen gerne das vollständige Manuskript zu. Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung.“

Agenturen wollen „frische“ Manuskripte. Wenn du damit schon bei zig Verlagen hausieren gegangen und abgelehnt worden bist, dann ist es aus Sicht einer Agentur „verbrannt“.

Also von der Reihenfolge her: Immer zuerst auf Agentursuche gehen, wenn diese keinen Erfolg hat, dann selbst auf Verlagssuche gehen (wobei hierbei die kleinen Verlage chancenreicher sind).

Nach diesen DO’s hier einige DON’Ts:

Schreibe keinesfalls Dinge wie:

„Sie können sich glücklich schätzen, als Erster meinen Roman lesen zu dürfen.“

„Meine Testleser / meine Deutschlehrerin waren hellauf begeistert von meinem Roman.“

Auch Selbstbeweihräucherung (wie in Jobbewerbungen üblich) sind hier fehl am Platz:

„Der Text überzeugt durch seinen virtuosen Schreibstil.“

„Ein Roman in Stil von XY (berühmte/n Autor:in nennen).“

Einzig das lobende Adverb „gründlich recherchiert“ ist m.E. okay, z.B. bei einem historischen Roman, dieses jedoch auch belegt durch Quellenangaben im Anhang der Leseprobe.

Verwende keine Emojis und auch Humoriges ist ein zweischneidiges Schwert (im Zweifel wird deine Ironie nicht verstanden).

Was auch nicht gut ankommt: Ein selbst designetes (oder professionelles) Buchcover mitzuliefern. Die Vermarktung soll dem Verlag überlassen werden.

Die perfekte Autorenvita

Hier hast du Gelegenheit, dich ins rechte Licht zu rücken. Zeige, dass du ein/e Wunschautor:in bist: Fachlich kompetent, eine faszinierende Persönlichkeit und medienwirksam.

In formaler Hinsicht: Die Vita ist in der dritten Person abzufassen (nicht in der Ich-Form).

Inhaltlich: Führe die wichtigsten Stationen deines beruflichen und persönlichen Werdegangs auf. Stelle hierbei einen Zusammenhang zwischen dir und deinem Roman her: Was macht dich zur Expertin auf diesem Gebiet? Entweder durch deinen Beruf oder dein Hobby. Wenn dein Roman in einem bestimmten beruflichen Milieu angesiedelt ist, kommt es gut an, wenn du selbst dort Einblicke hast.

Wo spielt dein Roman? Ist der Schauplatz deine Heimatregion oder hast du diese (exotische) Region schon oft bereist?

Stelle Parallelen zwischen dir und deinen Figuren her. Ist deine Heldin eine Köchin, dann erwähne deine eigene Kochleidenschaft. Spielt z.B. Musik eine Rolle in deiner Geschichte, dann klingt es gut, wenn du selbst ein Instrument spielst oder in einem Chor singst. Natürlich sollst du nichts frei erfinden.

Obwohl es auf dem Buchmarkt gängige Praxis ist, dass Verlage sich die perfekte verkaufsfördernde Autorenfigur mit Pseudonym, Stockfoto und fiktiver Vita komplett neu erschaffen (wie du hier nachlesen kannst). Soweit solltest du bei der Agentursuche jedoch nicht gehen. Aber zeige die Facetten von dir, die zu deinem Roman passen.

Was auch gut ankommt und genannt werden sollte, sofern es zutrifft: Du bist Teil einer Schreibgruppe oder einer Lesebühne, du hast dir als Poetry Slammer:in einen Namen gemacht, du bist auf Social Media aktiv und hast viele Follower.

Schau dir als Vorbild die Vitas auf den Webseiten der Verlage oder auf der Umschlagseite der Bücher in deinem Regal an. Manche klingen (für meinen Geschmack) sehr langweilig (ob eine Autorin drei Katzen hat oder am liebsten mit ihrem Hund spazieren geht, interessiert mich ehrlich gesagt nicht).

Hier einige gelungene Beispiele: Marc-Uwe Kling (ein „Buchstabendurcheinanderbringer“, sein Humor tritt zutage), Doris Cramer (Expertise zum Schauplatz Marokko), Heinrich Steinfest („Nesthocker und preisgekrönter Autor“, interessante Widersprüchlichkeit), Jeanette Limbeck (Debütroman: Expertise zum Schauplatz Russland, in der längeren Fassung der Vita eine originelle Anekdote, die zum Abenteuergeist der Heldinnen des Romans passt: „… zu Fuß den Fluss Amudarja überquert“).

Wenn du ein Foto beifügst, dann nur eines aus dem Fotostudio (z.B. Bewerbungsbild), kein Selfie oder Urlaubsschnappschuss.

Weitere Tipps zur professionellen Autorenvita findest du auch hier.

Ein überzeugendes Exposé und Leseprobe sind natürlich auch essentiell. Hierauf werde ich in einem nächsten Blogbeitrag noch näher eingehen.

Beharrlichkeit, Geduld und Glück

Ich wünsche dir viel Erfolg bei deiner Suche nach der für dich und dein Manuskript passenden Agentur. Lass dich nicht von Absagen entmutigen. Auf dem langen Weg bis zur Veröffentlichung deines Romans brauchst du viel Beharrlichkeit, Geduld und Selbstvertrauen – und eine Portion Glück!

Ich bin diesen Weg auch gegangen und habe nach monatelanger Suche eine tolle Agentur gefunden. Die Empfehlungen in diesem Beitrag gründen sich auf meine eigenen Erfahrungen, auf den kollegialen Austausch mit anderen Autor:innen und auf Recherche zum Thema (Ratgeber u.a.).

Ich hoffe, dieser Beitrag ist hilfreich für dich. Weitere Beiträge rund um das Autor:innenleben und den Buchmarkt findest du auf dieser Übersichtsseite.

Wenn du mehr über die Arbeit einer Literaturagentur erfahren möchtest, kann ich dir diese Interviews empfehlen, die interessante Einblicke geben:

Nina Arrowsmith im Interview 2016

Klaus und Michaela Gröner im Interview von Annika Bühnemann 2016

Schmerz, bring mich zum Lachen! Ist die Schadenfreude in Kindergeschichten pädagogisch wertvoll?

Gerade in Zeiten von geschlossenen Schulen und Kitas sind die Eltern verstärkt gefordert, ihren Kindern Unterhaltung zu bieten und greifen ins heimische Bücherregal, wo noch Klassiker aus alten Tagen schlummern. Dort begegnen uns der Struwwelpeter und seine Leidensgenossen Daumenlutscher und Suppenkaspar. Die bösen Buben Max und Moritz dürfen auch nicht fehlen. In diesen Klassikern der Kinderliteratur ist der Schmerz ein zentrales Motiv. Aber ist solche Quälerei pädagogisch wertvoll und darf man sie heutigen Kindern überhaupt noch zumuten?

Aktuell ist eine Fortsetzung des Heinrich Hoffmann’schen Klassikers aus dem Jahr 1845 erschienen: „Struwwelpeter – Die Abrechnung. Das Kinderbuch für Erwachsene“ von den Brüdern Niklas und Johannes Kizler.

Was gibt es 175 Jahre nach Erscheinen des illustrierten Originals Neues zu entdecken? Mit moderner Sichtweise statten die Autoren die Kinderfiguren mit Hintergrundgeschichten aus – ihre Unglücksgeschichten sind nach Kizlers Deutung die Quittung für das Versagen der Eltern. So lässt sich der pubertierende Struwwelpeter seine Haare und Fingernägel als Ausdruck seiner Individualität wild wachsen und rebelliert damit gegen seine streng konformen Eltern.

Der Struwwelpeter als rebellischer Teenager – illustriert von Christina Mäckelburg

Der Suppenkaspar leidet nicht an Magersucht, wie in der literarischen Diagnose des Arztes und Psychiaters Hoffmann, sondern unter den schlechten Kochkünsten seiner Mutter.

Die 2020er-Version schockiert nicht, sondern wirbt um Verständnis und Mitgefühl für das leidende Kind. Aber mal ehrlich: Wer ist nicht fasziniert vom grausigen Schicksal der klassischen Kinderfiguren? Warum funktionieren diese alten Geschichten immer noch so gut?

„Schmerz, erzieh mich!“

„Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Dieser Satz ist noch heute präsent, obwohl er einer Pädagogik aus dem 19. Jahrhundert entspringt. Der Schmerz hat eine erzieherische Funktion: Das unartige Kind wird für seine Fehler grausam mit Schmerz oder Tod betraft. Die Palette der Qualen ist groß: Das Kind wird entweder verspottet, verstümmelt, verbrannt oder verspeist. Kinder, die über diese grausigen Schicksale lesen, sollen vor Angst in ihrem eigenen Leben gehorsam den Regeln der Eltern und der Gesellschaft folgen.

Besonders drastisch ist der Schmerz als Erziehungsmaßnahme in der Sammlung von Kindergeschichten im „Struwwelpeter“. In der “Geschichte vom Daumenlutscher” lässt die Mutter das Kind alleine und es tröstet sich mit Daumenlutschen. Zur Strafe werden ihm beide Daumen mit einer Schere abgeschnitten.

In “Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug” spielt Paulinchen trotz des Verbots der Eltern und der wiederholten Warnungen der zwei Katzen (die als Stimmen von Vater und Mutter fungieren) mit Streichhölzern. Es kommt, wie es kommen muss: das Kinder verbrennt qualvoll.

Vergleichsweise milde kommt der Struwwelpeter davon, der sich weigert, sich die Fingernägel schneiden und die Haare kämmen zu lassen. „Pfui! ruft da ein jeder: Garst’ger Struwwelpeter.“

Diese Verspottungen lassen das Kind seelisch leiden. Hier wirken die Mittel der Demütigung und gesellschaftlichen Ausgrenzung auf das Kind ein. Das psychische Leid erscheint zunächst gegenüber körperlichen Schmerzen weniger grausam. Allerdings wissen wir nach heutigen Erkenntnissen in der Psychologie, dass Mobbing tiefgehende Verletzungen in der Psyche eines jungen Menschen anrichtet.

„Schmerz, bring mich zum Lachen!“

In manchen Geschichten ist das Kind nicht Opfer von Quälerei, sondern Täter. In „Max und Moritz“ (1865 von Wilhelm Busch) traktieren die beiden Spitzbuben die braven Spießbürger und deren Tiere mit schmerzhaften Streichen. Der Text wird von schonungslosen Illustrationen begleitet. Der ironisch-spöttische Ton sorgt für Distanz und gibt dem komischen Element Raum. Ja, beim Lesen entsteht ein unwiderstehlicher Lachreiz. Hier zeigt sich ein unerwartetes und doch willkommenes Produkt des Schmerzes: die Schadenfreude. Wer wünscht den Buben nicht Erfolg bei ihren Streichen? Wer hält nicht gespannt den Atem an und möchte sehen, wie die Witwe Bolte den unschuldigen Hund prügelt, wie der Bauch vom Meister Böck mit einem heißen Bügeleisen malträtiert wird, wie dem Lehrer Lämpel das Schwarzpulver in der Pfeife explodiert? Wir wollen diese Leute leiden sehen und lachen voller Schadenfreude über ihre Misere.

Wenn Max und Moritz am Ende von Bauer Mäcke in der Getreidemühle geschrotet und in Einzelstücken vom Federvieh gefressen werden, empfinden wir genauso wenig Trauer um die Buben, wie die Dorfgemeinschaft – nicht weil wir ihren grausamen Tod als gerecht empfinden, sondern weil der Schmerz jemand anderen getroffen hat.

Innere Entlastung und Befreiung durch Schadenfreude

Was lässt den Schmerz so herrlich freudvoll sein? Wir erleben den in Kindergeschichten dargestellten Schmerz aus einer sicheren Distanz, so dass kein Nähegefühl entsteht. Auch die sprachliche Ironie entlässt uns aus dem Mitleid. Anstelle von Mitgefühl empfinden wir Schadenfreude als Gefühl einer „Reinigung“. Unsere eigenen Ängste werden auflöst und wir werden von unterdrückten Gefühlen befreit. Oft sind es soziale Ungerechtigkeiten, die zu unterdrückten Aggressionen führen. Vergleicht man sich mit anderen, kann ein Gefühl von Ohnmacht und Neid entstehen. Dies ist in der heutigen Gesellschaft, die von Konkurrenzkampf und Konsumbildern geprägt ist, aktueller denn je. Aber durch das Unglück wird die Konkurrentin oder der Konkurrent „einen Kopf kürzer“ gemacht. Die Schadenfreude hat damit eine entlastende Wirkung auf die Psyche und löst im Gehirn ähnlich Reaktionen aus, wie bei einer Belohnung.

Was ist also pädagogisch wertvoll an grausamen Kindergeschichten? Es ist nicht der mahnende Zeigefinger und das abschreckende Beispiel. Vielmehr erlaubt die Schadenfreude, die beim Lesen der schmerzvollen Lehrstücke entsteht, einen befreienden Ausbruch aus genau den rigiden Erziehungsmustern, die in diesen Geschichten für schmerzhafte Bestrafung sorgen.

Eine Fassung dieses Artikels ist am 23.04.2020 in der Rheinpfalz (Zweibrücken) erschienen. Hier als pdf, wer es sich anschauen möchte: Lachen mit Max und Moritz_DIE RHEINPFALZ