Hans im Glück – eine Aussteigergeschichte über heitere Besitzlosigkeit

Hans im Glück ist kein typischer Märchenheld, denn er sammelt weder Schätze noch Ruhm an und gewinnt auch nicht das Herz einer schönen Frau. Nein, er ist ein Trottel, der seinen Verdienst der letzten sieben Jahre in kürzester Zeit durch dumme Tauschgeschäfte verliert und mit leeren Händen zu seiner Mutter zurück kehrt – mittellos, aber glücklich. Ist er gerade deshalb ein Vorbild in unserem Zeitalter des Konsumzwangs und der Erfolgsversessenheit?

Seine Geschichte ist schnell erzählt:

Hans war sieben Jahre in der Lehre eines Handwerkers. Zum Abschluss erhält er seinen Lohn in Form eines Goldklumpens von der Größe seines Kopfes. Auf dem Weg nach Hause wird ihm das Tragen beschwerlich und so tauscht er sein goldenes Vermögen gegen ein Pferd ein. Er folgt also einem momentanen Impuls (Bequemlichkeit) und stellt bei diesem Tauschgeschäft keine übergeordnete Wertkalkulation an.

Auf seinem weiteren Weg tauscht er das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen einen Schleifstein. Wir als Leser*innen merken sofort, dass er mit jedem Tauschgeschäft einen herben Verlust macht. Aber Hans ist jedes Mal sehr zufrieden damit.

Wenn Hans selbst seine Geschichte erzählt, klingt sie ganz anders – nämlich so, als seien ihm alle seine Besitztümer geschenkt worden (weil er sie nicht kaufen musste). Das zeigt eindrücklich: Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück – sie sind keine festen Messwerte, sondern Variablen, die alleine von der Perspektive abhängen, aus der man sie betrachtet.

Scherenschleifer: »Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?«

Hans: »Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.« »Und das Schwein?« »Das hab ich für eine Kuh gekriegt.« »Und die Kuh?« »Die hab ich für ein Pferd bekommen.« »Und das Pferd?« »Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.« »Und das Gold?« »Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst. (…) Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, »ich muß in einer Glückshaut geboren sein«, rief er aus, »alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind

Zu Schluss fällt Hans der Schleifstein (der für ihn im Übrigen auch keinen Nutzwert hat, da er dieses Handwerk gar nicht gelernt hat) in einen Brunnen.

»Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihm auf eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte; das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.«

Da kann ich nur Staunen und Schmunzeln. “Frei von aller Last” hallt in mir nach. Ja, das ist ein Wunsch, der wohl in so manchem zeitgenössischen Menschen rumort. Leistungsdruck, Burn-Out, Statussymbole, Konsumterror – das sind die Zeichen unserer Zeit.

Hans ist die Gegenfigur dazu – seine Geschichte die Mutter aller Aussteigerphantasien.

Ja, der naive Hans taugt als Lichtgestalt für alle Menschen, die sich von den Fesseln des Materialismus und der persönlichen Versklavung im Dienste der Karriereleiter befreien möchten.

Geschichten über die menschliche Sinnsuche sind heute allgegenwärtig.

Kürzlich habe ich den Film Into the wild” (2007) gesehen – ein Zivilisationsflucht-Drama, das auf einer wahren Geschichte basiert: Der 22-jährigen Student Christopher McCandless (er nennt sich „Alexander Supertramp“) verlässt nach dem Collegeabschluss 1990 seine Familie, sagt sich von allem Besitz los (spendet sein Vermögen), lässt sein Auto zurück, behält nur die Kleidung auf seinem Körper und einen Rucksack, er wandert und trampt zwei Jahre lang quer durch die USA, dabei begegnet er einigen Menschen, die ihm Formen des Zusammenlebens anbieten, aber für ihn ist die Einsamkeit die erstrebte Lebensform.

Schließlich findet er in der Wildnis von Alaska einen verlassenen Campingbus, in dem er überwintert. Abgeschnitten von der Zivilisation denkt er über den Sinn des Lebens und das Glück nach (braucht man andere Menschen, um glücklich zu sein?). Aber die materiellen Bedürfnisse des Menschen werden ihm zum Verhängnis: Er leidet Hunger und stirbt im Laufe des Winters an Auszehrung und an einer Lebensmittelvergiftung (1992). Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass er kurz vor seinem Tod zu der Erkenntnis gelangt sei, dass man nur glücklich wird, wenn man das Glück mit Anderen teilen kann.

Demnächst kommt der Film “100 Dinge” (von und mit Florian-David Fitz und Matthias Schweighöfer) ins Kino, in dem zwei Männer aufgrund einer Wette alle ihre Besitztümer aufgeben und jeden Tag eines davon zurück bekommen können. In diesem Experiment lernen sie den wahren Wert von Glück kennen. Hier geht es um Besitzlosigkeit, Konsumverweigerung und die Frage, was der Mensch für sein Glück braucht. Die zwei Typen hätten Hans im Glück bestimmt in ihre WG aufgenommen.

Unser Hans jedoch stürzt sich nicht völlig ins materielle Nichts – er kehrt heim an den warmen Ofen seiner Mutter. Diese stelle ich mir als gutmütiges Weiblein vor, die halb blind bei Kerzenschein bis tief in die Nacht Handarbeiten macht, um ihren trotteligen Sohnemann zu ernähren.

“Hans im Glück” lässt uns nachdenken darüber, was du und ich brauchen, um glücklich zu sein. Welche materiellen und immateriellen Dinge sind es? Im Fall von Hans scheint es seine optimistische Weltsicht zu sein, sein Leben im Augenblick und sein Vertrauen in ein liebevolles soziales Umfeld. Er ist frei von Erwartungsdruck. Hans’ Glück entspringt seiner inneren Einstellung.

Wie ihr euch denken könnt, juckt es mir in den Fingern, zu diesem Thema meine eigene Märchen-Interpretation zu schreiben.

Holla – da ist mein Märchen schon fertig: Sieben Seiten gefüllt mit Buchstaben. Puh, dauert das Korrigieren aber lang. Ein komischer Vogel besucht mich und bietet mir an, meinen Text gegen einen Tweet zu tauschen. Super: 140 Zeichen leichtes Leseglück. Dann knurrt mein Magen. Kollege Knorr kommt des Wegs und bietet mir an, den Tweet gegen eine Buchstabensuppe zu tauschen. Ein Handel ganz nach meinem Geschmack: In meiner Suppe schwimmen Dutzende von Buchstaben, ich werde satt davon. Wie schön, dass ich mein Märchen jetzt gestärkt noch mal schreiben darf!

Die Buchstaben bleiben dann hoffentlich in meinem Besitz, so dass ihr sie nächste Woche hier lesen könnt.