Es war einmal ein Königreich, in dem ein König und eine Königin voller Selbstsucht regierten. Sie bauten sich ein riesiges Schloss ganz aus Glas, damit alle Welt ihren Reichtum bestaunen konnte.
Die Gemächer des Schlosses waren mit den feinsten Möbeln aus purem Gold ausgestattet, die Sitzkissen und Bettlaken aus bestickter Seide. Sie feierten rauschende Feste von den Steuergeldern des schwer arbeitenden Volkes. Sie hatten eine einzige Tochter, die sie verwöhnten. Am 13. Geburtstag der Prinzessin fand wieder ein überschwängliches Fest statt. Als eine Gruppe armer Leute vor die Königsfamilie trat und dem Geburtstagskind ein Geschenk überreichte – es war ein Pferdchen aus Stroh gebunden – lachten der König und die Königin aus vollem Halse und machten sich über das bescheidene Geschenk und die zerrissene Kleidung der armen Leute lustig, auch die Prinzessin stimmte in das Lachen ihrer Eltern ein.
Da trat eine alte Magierin aus den Reihen der Gäste und sprach einen Zauberspruch. Augenblicklich krümmte sich die lachende Prinzessin vor Schmerzen auf dem Boden und die Eltern erstarrten zu Glasfiguren. Voller Entsetzten flohen die Gäste aus dem gläsernen Schloss.
Die Prinzessin lebte fortan alleine im Kristallpalast. Die Glasfiguren ihrer Eltern standen gekrümmt vor Lachen mitten im Ballsaal. Auch das Schloss selbst hatte die Magierin mit einem Zauber belegt. Auf jedem Stockwerk herrschte ein anderes Jahrzehnt. Die Magierin selbst stieg sieben Etagen hinab bis in den Keller und als sie unten ankam, war sie in ein einjähriges Kleinkind zurück verwandelt. Die Prinzessin fürchtete sich, in die Vergangenheit hinab zu steigen, deshalb blieb sie in ihrem Zimmer im Turm. Nur noch drei treue Diener lebten im Schloss und verrichteten ihre Arbeit schweigend. Die Bevölkerung fühlte sich mehr denn je vom Schloss aus Glas angezogen und zu jeder Tages- und Nachtzeit schlichen Leute um den Palast und reckten ihre Hälse, um einen Blick auf die Prinzessin im Turm zu werfen.
Der Fluch der Magierin lastete schwer auf der Prinzessin. Jedes Mal, wenn sie lachte, spürte sie Schmerzen, als würden tausend Dolche in ihren Körper gestoßen. Deshalb gewöhnte sie sich das Lachen ab.
In ihrer Einsamkeit langweilte sie sich. Regelmäßig lud sie Theatertruppen, Zirkusleute, dressierte Tiere, Geschichtenerzähler und Dichter zur Unterhaltung ins Schloss ein. Allerdings mussten die Schausteller das Verbot beachten: Niemand durfte die Prinzessin zum Lachen bringen! Deshalb spezialisierten sich alle Künstler auf Dramen und Trauerspiele. Selbst die dressierten Tiere durften nicht drollig sein, sondern waren alt und krank.
Die Darbietungen fanden im Innenhof des Glaspalastes statt. Die Prinzessin blickte von oben zu ihnen hinunter. Wenn sie mit einem roten Taschentüchlein winkte, war das ein Zeichen, dass ihr die Vorführung nicht gefiel und die Schausteller wurden ohne Gage vom Hof gejagt. Wenn ihr die Vorstellung gefiel, winkt sie mit einem grünen Tuch. Dann gab es ein Säcklein Gold als Gage. Und wenn die Prinzessin zu Tränen gerührt war, dann wischte sie sich mit einem weißen Spitzentaschentuch die Augen. Das war das höchste Lob.
Dann durften die Darsteller hinauf in den Turm und der Prinzessin die Hand küssen. Sie bekamen den Orden der Traurigkeit verliehen, den die Prinzessin mit einer Träne benetzte. Danach wurde drei Tage lang ein Fest mit üppigem Mahl für Jedermann gefeiert, bei dem jedoch niemand lachen durfte.
So vergingen 7 Jahre und das ganze Volk wurde immer leiser, langsamer und trauriger. Das Lachen verschwand aus dem ganzen Königreich.
Als die Prinzessin 20 Jahre alt wurde, erkannte sie, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie musste etwas unternehmen, um sich und das Volk vom Zauber zu befreien. Also raffte sie all ihren Mut zusammen und stieg die gläsernen Stufen hinab in den Keller, um die alte Magierin zu suchen. Bei jedem Schritt hallte ein schrilles, gespenstisches Lachen durch das Schloss, das die Glaswände zum Zittern brachte, so dass überall Risse und Sprünge entstanden.
Im Innern der Prinzessin fühlte es sich an, als würden all diese Glassplitter sie stechen und schneiden. Trotz dieser Schmerzen stieg die Prinzessin weiter hinab. Als sie in den Keller kam, fand sie ein Kleinkind auf dem Strohpferdchen sitzen, das ihr einst die armen Leute geschenkt hatten. Das Kind brabbelte, sabberte und lachte vergnügt, aber seine Augen schauten die Prinzessin aufmerksam an, denn die Seele der Magierin war alt und weise geblieben, nur ihr Körper hatte sich verjüngt.
„Wo ist die Magierin?“, fragte die Prinzessin.
Das Baby kicherte und sabberte. Dann zeigte es mit seinen dicken Fingerchen auf sich selbst.
„Alle Menschen in meinem Land sind traurig. Mir tut das Lachen schrecklich weh. Kannst du uns das unbeschwerte Lachen zurück geben?“, fragte die Prinzessin.
Das Baby schaute ernst und wiegte sein rundes, haarloses Köpfchen. Dann rutschte es vom Strohpferdchen hinab und zeigte darauf. Die Prinzessin wusste nicht, was das bedeuten sollte.
Plötzlich wurde das Pferdchen lebendig. Es scharrte mit seinen Hufen aus Stroh und wieherte mit trockener Stimme. Das weise Baby sabberte und brabbelte. Dann zeigt es nochmal auf das Strohpferdchen. Dieses wurde immer unruhiger und sprang um die Prinzessin herum. Da verstand die Prinzessin. Sie schwang sich auf den Rücken des Pferdchens und schon galoppierte es die Stufen hinauf und ins Freie.
Das Strohpferdchen trug die Prinzessin auf seinem Rücken durch das ganze Land. Als die Leute die Reiterin in ihren feinen Kleidern und mit Krönchen auf dem struppigen Strohpferdchen sahen, brachen sie unwillkürlich in schallendes Gelächter aus. Sie hielten sich die Bäuche vor Lachen und Lachtränen rannen ihnen über die Wangen. Das Lachen klang durch das ganze Land, es sammelte sich und fegte wie ein Sturm über den Glaspalast. Als der Sturm von Gelächter am brüchigen und rissigen Glas rüttelte, zersprangen mit einem hellen Klirren alle Wände, Decken, Treppen und Böden entzwei und das Schloss stürzte in sich zusammen und begrub alle seine Schätze unter sich, ebenso wie den erstarrten König und die Königin, die immer noch in ihren Glashüllen steckten, wie in einem Sarg. Dieses Glas war das einzige, das nicht zersplittert war.
Als das Strohpferdchen nach seinem langen Rundritt zum Schloss zurück kehrte, sah die Prinzessin den gläsernen Scherbenhaufen vor sich. In den zersplitterten Scherben erblickte sie ihr eigenes Spiegelbild, ganz zerstückelt. Ihre Nase saß auf der Stirn und ihr Mund dort, wo ein Ohr sein sollte. Das sah so absurd aus, dass die Prinzessin nun selbst in ein helles Lachen ausbrach – und zum ersten Mal seit 7 Jahren bereitete ihr das Lachen keine Schmerzen mehr. Sie war so froh über das unbeschwerte Lachen, dass sie immer weiter lachte und lachte. Da gab es einen Knall wie eine Explosion – das Lachen der Prinzessin hatte die Glashüllen ihrer Eltern gesprengt. Diese wurden nun wieder lebendig und krochen verwirrt aus den Scherben des Palasts zu ihrer Tochter.
Nun ließ die Königsfamilie ein neues Schloss bauen – dieses Mal aus Stein und nicht mehr so protzig. Das Lachverbot im Land war selbstverständlich aufgehoben. Zur Einweihung des Schlosses lud die Königsfamilie das ganze Volk zu einem siebentägigen Fest ein und jeder durfte etwas vorsingen, vortanzen oder vorspielen – Hauptsache, es war lustig.
Die Magierin im Körper des Babys ward nie wieder gesehen. Das Strohpferdchen blieb bei der Prinzessin und sie ritt jeden Tag mit ihm aus. Jetzt schämte sie sich nicht mehr für die bescheidene Gestalt des Pferdchens und sie lachte auch die armen Leute nie mehr aus.
Dieses Märchen ist im Rahmen meiner Masterarbeit entstanden. In meinem dort entwickelten heilsamen Schreibprogramm habe ich mir zur Aufgabe gesetzt, ein Märchen zu schreiben, in dem der Schmerz eine Rolle spielt. Vielleicht ist es euch auch schon aufgefallen: In vielen Märchen müssen die Protagonisten Schmerzen ertragen – und das nicht ohne Grund. Der Schmerz im Märchen hat eine wichtige Funktion: Er stellt eine Charakterprüfung dar und fordert die Figur zur Selbstüberwindung heraus und ermöglicht eine Verwandlung.
Für das obige Märchen habe ich mir als Schreibimpuls 4 Handlungs-Elemente zugelost (1. Figur, 2. Ereignis/Schicksalsschlag, 3. Schauplatz, 4. Auslöser bzw. Form des Schmerzes – die Losungen habe ich mir selbst ausgedacht) und aufbauend darauf meine Geschichte entwickelt.
Figur: ein Weiser in Babygestalt
Ereignis/Schicksalsschlag: verirrt sich in ein anderes Jahrhundert
Schauplatz: ein Schloss aus Glas
Schmerz: beim Lachen
Mit solchen Schreibimpulsen ein Märchen zu entwerfen macht wirklich Spaß. Versucht es doch auch einmal.