Die Welt auf einer Seite

Ich habe genau eine Seite, um die Autorin Katja Lange-Müller davon zu überzeugen, mich in ihre Prosa-Meisterklasse aufzunehmen. Auch dieses Jahr möchte ich wieder beim Schwäbischen Kunstsommer mit dabei sein – diesmal aber nicht mit Lyrik.

Das kann doch nicht so schwer sein, eine Seite bekomme ich locker hin – denke ich optimistisch. Ich schaue mir die Vorgaben in der Ausschreibung genauer an. Die Meisterin verlangt „eine Figuren- oder Tierbeschreibung oder Beschreibung einer Szene, die sich zwischen zwei, drei Menschen oder zwischen Mensch und Tier abspielt“. Es gehe ihr um eine literarische Skizze „nach der Natur“, es soll etwas „Lebendes“ abgebildet werden.

Als Musterbeispiel nennt sieDas Fliegenpapier“ von Robert Musil. Hier beschreibt er parabelhaft den Todeskampf von Fliegen auf dem klebrigen Papier und spannt dabei den Bogen um die gesamte menschliche und gesellschaftliche Existenz.

Nachdem ich Musils Text gelesen habe, erscheint mir die vor mir liegende Aufgabe doch um einiges schwieriger. In wenigen Worten gilt es, eine tiefgründig Botschaft zu vermitteln, symbolhaft und verschlüsselt. Auf der Inhaltsebenen muss ich Interesse für die Figuren wecken, Spannung erzeugen, vielleicht sogar mit Humor garnieren?

Im Kopf krame ich tagelang nach Gegenständen, die eine Geschichte erzählen. Brautschuhe vielleicht? Schachfiguren (die schwarze Dame alleine auf dem Spielfeld mit einem weißen Springer)? Dann denke ich an Fundgegenstände bei der Versteigerung der DB. Ein kaputter Regenschirm wünscht sich einen neuen Besitzer…

Dann schweifen meine Gedanken zu fantastischen Tieren (bitte kein drolliger Mops oder verspielte Miezekatze, ermahnt Frau Lange-Müller in der Ausschreibung). Mir kommt die Idee zu einem Vogel mit Flugangst oder Singvogel mit Lampenfieber, einem Igel, der sich anstelle seiner Stacheln eine weiche Haut wünscht, ein vergessliches Eichhörnchen. Wie wäre es mit einem Bücherwurm, der keine Buchstaben mag?

Am Samstag schreibe ich meine Geschichte über den Regenschirm – die sich beim Schreiben doch ganz anders entwickelt. Am Sonntag wende ich mich den Bücherwürmern in der Bibliothek von Sir Henry zu. Da meine Abreise am heutigen Montag nach London bevorsteht, zieht sich das britische Flair ein wenig durch meine Geschichten. Auch thematisch gibt es eine gewisse Verwandtschaft unter den Geschichten.

Hier also meine zwei Texte. Was haltet ihr davon? Welchen soll ich einsenden (ich muss mich für einen entscheiden)?

Text 1:

Aufgespannt

Bis zu jenem Tag im April war Mr. Chapmann niemals ohne seinen Regenschirm aus dem Haus gegangen. Seinen Weggefährten aus Kirschholz und rotem Nylon trug er stets ohne Rücksicht auf das Wetter mit sich. Vor dem Öffnen der Haustür richtete er seine blauen Augen unter buschig weißen Brauen im stummen Gruß auf den schlanken Eintänzer im Schirmständer. Dort stand der Schirm bereit, mit stolz hochgerecktem Hals, auf dessen Ende ein Löwenkopf aus Elfenbein thronte. Mr. Chapmans linke Hand fand den Knauf mit der Sicherheit eines Tänzers in einer gut geprobten Choreografie. Die Wellen der Löwenmähne schmiegten sich in die weichen Falten seiner linken Handinnenfläche. Seine runden Finger umschlossen den Kopf des Löwen, die Kuppe des Mittelfingers legte sich zwischen die Wölbungen von Nase und Stirn des Wüstenkönigs. So gerüstet ging Mr. Chapman auf die Straße, immer mit dem Hut auf dem Kopf, den Mantel zugeknöpft. Der Regenschirm schwang im Takt seiner Schritte, die Spitze setzte gleichzeitig mit dem linken Fuß auf. Der Klang, mit dem die messingumhüllte Schirmspitze auf den Boden stieß, offenbarte klopfend oder knirschend die Beschaffenheit des Untergrunds. Ob Asphalt, Steinplatte oder Sandweg – die Schirmspitze war seine Kompassnadel. Der Schirm ließ ihn aufrecht voran schreiten, mit dem Gang eines Mannes mit Ziel und Bestimmung. Es gab keine Ablenkungen für ihn am Wegesrand, keine Verwicklungen oder Verwirrungen. Diesen Zweck erfüllte der Schirm jedoch am besten, wenn er geschlossen blieb. Aufgespannt würde er der Willkür des Windes ausgesetzt sein. Nein, der Schirm blieb zu. Kein Wind würde jemals an den zarten Metallspeichen rütteln und ihre Gelenke brechen. Weder Wasser, noch Sonne würden an der saftigen Röte des Stoffes lecken. Nur in seiner Geschlossenheit konnte der Schirm seine Vollendung erreichen und seinen Träger sicher tragen.

An jenem Morgen im April jedoch, als Mr. Chapman erstmalig ohne Schirm aus dem Haus lief, flogen seine Haare hutlos im Wind, seine Mantelschöße flatterten. Seine langen Schritte trugen ihn unsicher zum Bahnhof – dem Sohn entgegen, den er seit 30 Jahren nicht gesehen hatte – ohne Schirm und mit geöffneten Armen.

Text 2:

Zwischen den Zeilen

„Zutritt privat“ steht auf dem Messingschild der hölzernen Flügeltür zur „Jedermann-Bibliothek“ von Sir Henry. Hier gibt es Bücher für jeden Geschmack. Im Kabinett reichen die Regale bis zur Decke. Die Luft steht still und schwer im Dämmerlicht. Die ledrigen Buchrücken sind von jahrelangem Stillstehen gebeugt und rissig. Würde endlich ein lesehungriger Besucher eintreten und eines der Bücher hervor ziehen, würde er große Augen machen: Auf fast allen Seiten der Bücher fehlen Buchstaben. Denn seit einiger Zeit lebt hier eine Familie von Bücherwürmern. Wotan und Wilma Wurm emigrierten in die Bibliothek mit der Encyclopaedia Britannica aus dem Jahr 1887. Sir Henry stellte seine Neuerwerbung neben die Brockhaus-Reihe, schnalzte zufrieden mit der Zunge und überließ die Bücherkammer wieder ihrem Eigenleben. Wilma und Wotan wurmten sich zuerst quer durch die britische Kunst und Wissenschaft und futterten sich alsbald durch exotischere Werke. Während Wilma eine Vorliebe für die geschmackvoll ausgereiften Sätze von Dostojewski entwickelte, fand Wotan seine Lieblingsbuchstaben in den französischen Klassikern. Besonders das blumige Aroma der Akzente über den Buchstaben waren ihm ein Genuss. Es dauerte nicht lange und sie bekamen eine Schar bücherbegieriger Kinder. Die Jüngste jedoch machte ihren Eltern Sorge: Lola kroch mit ihrem hellen schlanken Leib durch die gesammelten Werke von Thomas Mann und hatte dabei keinen einzigen Buchstaben verzehrt. Sie knabberte nur am unbedruckten Papier zwischen den Zeilen.

„Ich mag keine Wörter, sie schmecken so eindeutig“, jammerte Lola.

„Die Wörter sind die Essenz des Buches“, rief Mutter Wilma und rollte sich auf.

„Wörter weisen dir den Weg“, sagte Léa, eine ältere Schwester, die sich seit Monaten durch Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ biss.

„In den Wörtern liegt die Wahrheit“, murmelte Bruder Ben.

„Wie kannst du den Sinn der Sprache auskosten, wenn du ihre Wörter nicht in dich aufnimmst?“, fragte der Vater.

„Der Geschmack ergibt sich aus den fehlenden Wörtern“, beharrte Lola und nahm einen weiteren Happen von zwischen den Zeilen.

Bin gespannt auf euer Feedback. Bis zum 19. April habe ich noch Zeit für die Auswahl des Texts und ggf. Feinschliff. Vielleicht möchte sich jemand von euch auch beim Schwäbischen Kunstsommer bewerben… Würde mich total freuen, liebe kreative Gefährt*innen dabei zu haben.

Update 29. Mai 2019:

Heute habe ich Post bekommen: Ich bin in die Prosa-Meisterklasse aufgenommen worden. Freue mich riesig! Wer möchte, kann den finalen Text meiner Bewerbung nachlesen – einfach den folgenden Link aktivieren: Bewerbung Kunstsommer_Prosa_final