Woche 2: Rathaus Köpenick – der Hauptmann stahl die Stadtkasse, ich einen Schreibplatz

Warum hier:

Amerika hat Bonnie und Clyde, Preußen hat den Hauptmann von Köpenick.

Ich kenne das Gaunerstück bisher nur aus der Verfilmung mit Heinz Rühmann von 1956, die ich als Kind einmal gesehen habe.

Nun ist es an der Zeit, mir selbst ein Bild vom Ort der legendären Köpenickiade zu verschaffen.

Zur Einstimmung:

Aus dem Film mit Heinz Rühmann ist mir vor allem eine Szene in Erinnerung geblieben: Der geläuterte Ex-Sträfling ist auf der Suche nach Arbeit und wird überall wegen fehlender Aufenthaltserlaubnis abgewiesen, schließlich kommt er in eine Polizeistation und bittet um Ausstellung der Aufenthaltserlaubnis. Der Uniformierte sitzt hinter seinem Holzschreibtisch und stopft sich während des Gesprächs Brot und Käse in den Mund, fleddert mit seinen fettigen Fingern in den Unterlagen des Bittstellers herum und sagt ihm mit vollem Mund, dass er ohne Arbeitsnachweis keine Aufenthaltserlaubnis bekommt. Siehe im Film ab Minute 6.

Der Ort:

Zwar ohne Uniform, aber wie der Hauptmann selbst fahre ich mit der Straßenbahn vor dem prächtigen Rathaus vor. Neben dem Portal hält der Hauptmann eisern seine Stellung und schaut ein wenig müde drein. Wahrscheinlich ist er es leid, ständig fotografiert zu werden.

Durch die schwere Holztür gelange ich ins Innere. Eine prunkvolle Treppe, bunte Glasfenster und weite Flure wirken herrschaftlich. Die Pförtnerin ignoriert mich, weit und breit ist kein anderer Mensch zu sehen (es ist kurz nach 15 Uhr).

Wo ich hinblicke, schaut mir der Hauptmann von Köpenick entgegen: Live-Kabarett im Ratskeller, ein Musical, ein Ausstellungsraum mit Uniform und Tresor, dazu Texttafeln. In den Fluren im Erdgeschoss hängen eingerahmte Theater- und Filmplakate. Ich komme mir vor wie in einem Museum.

Dann erkunde ich die weiteren 3 Etagen. Endlose Flure mit langen Reihen leerer Stühle. Die 3. Etage mit dem Standesamt ist festlich dekoriert, Werbeflyer und Brautmagazine inklusive.

   

Andere Gänge sind hässlich mit PVC-Boden und niedrigen Türen. Einmal begegne ich zwei Männern von der Putzkolonne, sonst regt sich niemand. Auf jeder Etage hängt an der gleichen Stelle ein riesiger roter Löschkanister, der außer Betrieb ist. Auf einem Gang liegt ein Monstrum unter einer blauen Plastikfolie.

Unter dem Dach ist die Abteilung Denkmalschutz. Hier stehen alte Fensterrahmen und Türen auf dem Gang wie Requisiten. Ob die Bürotüren auch nur eine Bühnenfassade sind?

Ich verlaufe mich im Labyrinth von Schildern. Auf einem steht „Klärungsstelle“ und deutet in eine Sackgasse. Überall herrscht gespenstische Stille.

Ich komme an einer Tür vorbei, auf der „Staatsangehörigkeitsstelle“ steht – das wäre wohl das richtige Büro für den Schuster Voigt gewesen. Geschlossen. Ein paar Türen weiter entdecke ich einen bunten Kreisel mit Zimmernummern. Er soll zeigen, wer wann zuständig ist. Der rote Pfeil deutet auf “Heute ist niemand mehr im Hause”. Von diesem Karussell kann der Hauptmann von Köpenick ein Liedchen singen – tut er in seinem Musical wahrscheinlich auch.

Ich überlege, wo ich mich zum Schreiben hinsetzen könnte. Wieder im Erdgeschoss begegne ich einem Beamten, der mich anmotzt, der Bürgerwarteraum sei schon zu, die Kantine ebenso.

Wenn sie mir keinen Ort geben, werde ich einfach einen Streibort annektieren! Auch ganz ohne Uniform.

Mir fällt der abgeschiedene Vorraum des Sitzungssaals wieder ein. Ja, da steht sogar ein Tisch. Ich hole mir verstohlen einen Stuhl aus der langen Reihe vor der Tür des Bürgermeisters, hänge meine Jacke auf und richte mich in meinem improvisierten Schreibbüro ein.

Meine Finger liegen auf der Tastatur, vor meinen Augen die grün bemalte Wand, die eine Tapete imitiert, Dielenboden, ein einfach verglastes Holzfenster zeigt mir eine beschauliche Flussansicht. Eigentlich könnte ich mich ganz wohl fühlen in meiner Amtsstube.

Doch plötzlich scheint das ganze Haus zu erwachen. Da brummt ein Putzgerät, Schritte und Stimmen hallen durch die Flure. Gleich kommt bestimmt jemand um die Ecke und ertappt mich. Ich werde nervös. Eigentlich tue ich ja gar nichts Verbotenes. Vielleicht ist es ein bisschen gegen die Regeln, ich weiß es nicht so genau. Warum fällt mir Ungehorsam so schwer?

Ich muss zugeben, dass ich es nicht lange dort ausgehalten habe.

Ich frage mich, ob ich mit einem selbstgebastelten Besucherausweis oder einer anderen Art von “Aufenthaltserlaubnis” mehr Mut gehabt hätte.

Das gewisse Extra:

Wer das Theaterstück in komprimierter Fassung kennenlernen möchte, dem empfehle ich diese witzige Playmobilinszenierung. Mehr Hintergrundinfos zum Nachlesen.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★☆☆☆☆

Inspiration

★★★★★

Lerneffekt

★★★★☆

Freundlichkeit

★☆☆☆☆