Schmerz, bring mich zum Lachen! Ist die Schadenfreude in Kindergeschichten pädagogisch wertvoll?

Gerade in Zeiten von geschlossenen Schulen und Kitas sind die Eltern verstärkt gefordert, ihren Kindern Unterhaltung zu bieten und greifen ins heimische Bücherregal, wo noch Klassiker aus alten Tagen schlummern. Dort begegnen uns der Struwwelpeter und seine Leidensgenossen Daumenlutscher und Suppenkaspar. Die bösen Buben Max und Moritz dürfen auch nicht fehlen. In diesen Klassikern der Kinderliteratur ist der Schmerz ein zentrales Motiv. Aber ist solche Quälerei pädagogisch wertvoll und darf man sie heutigen Kindern überhaupt noch zumuten?

Aktuell ist eine Fortsetzung des Heinrich Hoffmann’schen Klassikers aus dem Jahr 1845 erschienen: „Struwwelpeter – Die Abrechnung. Das Kinderbuch für Erwachsene“ von den Brüdern Niklas und Johannes Kizler.

Was gibt es 175 Jahre nach Erscheinen des illustrierten Originals Neues zu entdecken? Mit moderner Sichtweise statten die Autoren die Kinderfiguren mit Hintergrundgeschichten aus – ihre Unglücksgeschichten sind nach Kizlers Deutung die Quittung für das Versagen der Eltern. So lässt sich der pubertierende Struwwelpeter seine Haare und Fingernägel als Ausdruck seiner Individualität wild wachsen und rebelliert damit gegen seine streng konformen Eltern.

Der Struwwelpeter als rebellischer Teenager – illustriert von Christina Mäckelburg

Der Suppenkaspar leidet nicht an Magersucht, wie in der literarischen Diagnose des Arztes und Psychiaters Hoffmann, sondern unter den schlechten Kochkünsten seiner Mutter.

Die 2020er-Version schockiert nicht, sondern wirbt um Verständnis und Mitgefühl für das leidende Kind. Aber mal ehrlich: Wer ist nicht fasziniert vom grausigen Schicksal der klassischen Kinderfiguren? Warum funktionieren diese alten Geschichten immer noch so gut?

„Schmerz, erzieh mich!“

„Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Dieser Satz ist noch heute präsent, obwohl er einer Pädagogik aus dem 19. Jahrhundert entspringt. Der Schmerz hat eine erzieherische Funktion: Das unartige Kind wird für seine Fehler grausam mit Schmerz oder Tod betraft. Die Palette der Qualen ist groß: Das Kind wird entweder verspottet, verstümmelt, verbrannt oder verspeist. Kinder, die über diese grausigen Schicksale lesen, sollen vor Angst in ihrem eigenen Leben gehorsam den Regeln der Eltern und der Gesellschaft folgen.

Besonders drastisch ist der Schmerz als Erziehungsmaßnahme in der Sammlung von Kindergeschichten im „Struwwelpeter“. In der „Geschichte vom Daumenlutscher“ lässt die Mutter das Kind alleine und es tröstet sich mit Daumenlutschen. Zur Strafe werden ihm beide Daumen mit einer Schere abgeschnitten.

In „Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug“ spielt Paulinchen trotz des Verbots der Eltern und der wiederholten Warnungen der zwei Katzen (die als Stimmen von Vater und Mutter fungieren) mit Streichhölzern. Es kommt, wie es kommen muss: das Kind verbrennt qualvoll.

Vergleichsweise milde kommt der Struwwelpeter davon, der sich weigert, sich die Fingernägel schneiden und die Haare kämmen zu lassen. „Pfui! ruft da ein jeder: Garst’ger Struwwelpeter.“

Diese Verspottungen lassen das Kind seelisch leiden. Hier wirken die Mittel der Demütigung und gesellschaftlichen Ausgrenzung auf das Kind ein. Das psychische Leid erscheint zunächst gegenüber körperlichen Schmerzen weniger grausam. Allerdings wissen wir nach heutigen Erkenntnissen in der Psychologie, dass Mobbing tiefgehende Verletzungen in der Psyche eines jungen Menschen anrichtet.

„Schmerz, bring mich zum Lachen!“

In manchen Geschichten ist das Kind nicht Opfer von Quälerei, sondern Täter. In „Max und Moritz“ (1865 von Wilhelm Busch) traktieren die beiden Spitzbuben die braven Spießbürger und deren Tiere mit schmerzhaften Streichen. Der Text wird von schonungslosen Illustrationen begleitet. Der ironisch-spöttische Ton sorgt für Distanz und gibt dem komischen Element Raum. Ja, beim Lesen entsteht ein unwiderstehlicher Lachreiz. Hier zeigt sich ein unerwartetes und doch willkommenes Produkt des Schmerzes: die Schadenfreude. Wer wünscht den Buben nicht Erfolg bei ihren Streichen? Wer hält nicht gespannt den Atem an und möchte sehen, wie die Witwe Bolte den unschuldigen Hund prügelt, wie der Bauch vom Meister Böck mit einem heißen Bügeleisen malträtiert wird, wie dem Lehrer Lämpel das Schwarzpulver in der Pfeife explodiert? Wir wollen diese Leute leiden sehen und lachen voller Schadenfreude über ihre Misere.

Wenn Max und Moritz am Ende von Bauer Mäcke in der Getreidemühle geschrotet und in Einzelstücken vom Federvieh gefressen werden, empfinden wir genauso wenig Trauer um die Buben, wie die Dorfgemeinschaft – nicht weil wir ihren grausamen Tod als gerecht empfinden, sondern weil der Schmerz jemand anderen getroffen hat.

Innere Entlastung und Befreiung durch Schadenfreude

Was lässt den Schmerz so herrlich freudvoll sein? Wir erleben den in Kindergeschichten dargestellten Schmerz aus einer sicheren Distanz, so dass kein Nähegefühl entsteht. Auch die sprachliche Ironie entlässt uns aus dem Mitleid. Anstelle von Mitgefühl empfinden wir Schadenfreude als Gefühl einer „Reinigung“. Unsere eigenen Ängste werden auflöst und wir werden von unterdrückten Gefühlen befreit. Oft sind es soziale Ungerechtigkeiten, die zu unterdrückten Aggressionen führen. Vergleicht man sich mit anderen, kann ein Gefühl von Ohnmacht und Neid entstehen. Dies ist in der heutigen Gesellschaft, die von Konkurrenzkampf und Konsumbildern geprägt ist, aktueller denn je. Aber durch das Unglück wird die Konkurrentin oder der Konkurrent „einen Kopf kürzer“ gemacht. Die Schadenfreude hat damit eine entlastende Wirkung auf die Psyche und löst im Gehirn ähnlich Reaktionen aus, wie bei einer Belohnung.

Was ist also pädagogisch wertvoll an grausamen Kindergeschichten? Es ist nicht der mahnende Zeigefinger und das abschreckende Beispiel. Vielmehr erlaubt die Schadenfreude, die beim Lesen der schmerzvollen Lehrstücke entsteht, einen befreienden Ausbruch aus genau den rigiden Erziehungsmustern, die in diesen Geschichten für schmerzhafte Bestrafung sorgen.

Eine Fassung dieses Artikels ist am 23.04.2020 in der Rheinpfalz (Zweibrücken) erschienen. Hier als pdf, wer es sich anschauen möchte: Lachen mit Max und Moritz_DIE RHEINPFALZ

Woche 6: Deutsches Technikmuseum – Rendezvous mit Roboter Tim

Warum hier:

Normalerweise würde es mindestens 11 Pferde brauchen, um mich ins Technikmuseum zu schleppen. Aber eine besondere Attraktion lockt mich an: Der Museumsroboter Tim.

Schon seit der Antike hat der Mensch immer wieder versucht, eine künstliche Figur nach seinem Ebenbild zu erschaffen – einen künstlichen Menschen, der mit den Mitteln der Mechanik, der Elektronik und manchmal auch der Magie seinem Schöpfer nicht nur an Intelligenz gleicht, sondern auch über das Unbegreifliche verfügen soll: eine Seele.

In der Literatur und auch in anderen Kunstformen ist diese Hybris des Menschen (Mannes) und sein tragisches Scheitern immer wieder beschrieben. Heute will ich den Berliner Roboter kennenlernen und bin gespannt, ob er mich zum Schreiben inspirieren kann.

Zur Einstimmung:

Der Ort:

Im Hauptgebäude des Deutschen Technikmuseums nähere ich mich ein wenig widerstrebend der Computer-Abteilung. Hier stehe ich dem ersten elektromagnetischen Computer von Konrad Zuse (Z3) von 1941 gegenüber. Metallschalter und Kabel in raumfüllender Größe. Wie hierin mit Nullen und Einsen künstliche Intelligenz erzeugt wird, bleibt für mich ein Rätsel.

Um den Roboter Tim zu finden, gehe ich über das stimmungsvolle Gelände zwischen Tempelhofer Ufer und Park am Gleisdreieck zum langgestreckten Ladegebäude.

Drinnen führt mich mein Weg an einiger Pferdestärke vorbei, bis ich in die Ausstellung „Das Netz“ gelange.

Hier wird die Wirkungsweise von Computer und Internet in verschiedenen Lebensbereichen (z.B. Wissen, Nachrichten, Shopping, Haus, Spiele) gestern und heute anschaulich dargestellt. Viele Kinder mit ihren Eltern tummeln sich hier – und schon höre ich ein kleines Mädchen neben mir sagen: „Wo ist denn Tim?“. Das Kind und ihre Freunde laufen durch die Ausstellung auf der Suche nach dem Roboter – und ich hinterher.

Und bald finden wir ihn – der vielbeschäftigte Museumsführer ist von Kindern umringt. Auf seinem Touchscreen sind Bilder von Ausstellungsobjekten. Eine Berührung und schon verkündet Tim mit monotoner Stimme: „Okay, ich bringe dich jetzt zu deinem Ziel.“

Dann saust er auf seinem kreisrunden Standbein los, dreht dabei animierend seinen durchsichtigen Plexiglaskopf um 360 Grad (ob er wohl zur Physio muss, um seine verspannten Kabelstränge im Nacken zu lockern?), als wolle er sehen, ob ihm seine Gäste auch folgen. Dabei sagt er in regelmäßigen Abständen: „Hier lang“ und „Alle noch da?“

Wenn seine Schar zurück fällt, rollt er unbeirrt weiter. Als Babysitter würde ich ihn jedenfalls nicht engagieren. Dann schon lieber den Terminator – der opfert sich für seinen Schützling auf und lernt sogar ein paar menschliche Werte (man darf nicht einfach jeden töten) und coole Sprüche („Hasta la vista, baby“) vom Menschenkind.

Manchmal dreht Tim eine Pirouette, wenn ein Hindernis auftaucht, ansonsten ist er sehr zielstrebig. Konversation ist nicht seine Stärke. Fragen ignoriert er. Ein schlechter Gastgeber ist er aber nicht – immerhin kommen die menschlichen Besucher untereinander ins Gespräch.

Am Ziel angekommen, referiert es über den Ausstellungsgegenstand – das wollen die Kinder aber gar nicht hören, sondern schicken ihn gleich wieder los und rennen ihm nach.

Ein Mädchen versucht, ihn zu umarmen oder aufzuhalten – was Tim völlig kalt lässt. Nur wenn man ihm seinen Fuß in den Weg stellt, bleibt er stehen und sagt: „Kannst du bitte deinen Fuß wegnehmen?“

Irgendwann habe ich Tim mal für mich alleine und er erzählt mir etwas zur Wortherkunft von „SPAM“ (Dosenfleisch) – dabei schaue ich in seine großen blauen Kameraaugen in seinem runden Riesenkopf – er verwirklicht das Kindchenschema und erinnert mich auch ein wenig an E.T. Hin und wieder klimpert er mit den Augen: mit mechanischem Geräusch schiebt ein Bügel seine Augenlider über die Linse. Das ist so tölpelhaft, dass ich es arglos und irgendwie rührend finde. Er kann ja nichts dafür, dass sein Schöpfer ihn nicht mit mehr Fähigkeiten ausgestattet hat.

Ein paar Sätze mehr hätten Tim gut getan. Im Androiden-Roman „L’Eve de future“ (1886) vom Dichter Auguste Philippe Villiers de l’Isle Adam lässt sich der Protagonist Lord Ewald eine Automatenfrau namens Hadaly konstruieren, die seiner Freundin Alicia nachempfunden, jedoch nach seinen Wünschen ins Vollkommene gesteigert ist. Diese Idealfrau kann zum Beispiel dank eines Goldphonographens 7 Stunden lang tiefsinnige Texte großer Dichter rezitieren.

Schließlich verabschiede ich mich von Tim (was er leider nicht erwidert) und lasse im Museumscafé Tor Eins meine Eindrücke nachklingen.

Worin besteht die Faszination eines künstlichen Menschen? Selbst der recht simple Mechanismus vom Roboter Tim hat Klein und Groß angezogen.

Ist es die Beherrschbarkeit des Maschinenmenschen?

Die Roboter der Antike waren Diener der Menschen – bewegliche Statuen zur Bedienung der Götter beim Essen oder Riesen aus Eisen zur Bewachung einer Stadt.

Ist es der Wunsch, eine Kreatur zu schaffen, die einzig und alleine der Erfüllung eines menschlichen Bedürfnisses dient? Fast immer ist es die Liebe.

In E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann verliebt sich der Jüngling Nathanael unter dem Einfluss einer magischen Brille in die Puppe Olimpia, die mechanisch sprechen (ihr einziges Wort lautet: „Ach“), singen und tanzen kann.

„Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. (…) Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hochentflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte einmal übers andere: »Ach – Ach – Ach!« – worauf denn Nathanael also sprach: »O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« und noch mehr dergleichen, aber Olimpia seufzte bloß immer wieder: »Ach, Ach!«“

Hier wird deutlich, dass diese Liebe eine reine Wunschprojektion ist. Seine Idealfrau ist ein Spiegel seiner selbst, die ihm Bestätigung gibt. Eine ziemlich narzisstische Form der Liebe.

Die Metamorphose des Narziss von Salvador Dalí (1937), Tate Modern London

Aber macht nicht gerade auch das Unvorhersehbare, nicht Beherrschbare des Gegenübers seine menschliche Qualität aus?

In Liebesdingen würde Oscar Wilde dem auf jeden Fall zustimmen. „The very essence of romance is uncertainty“ (aus: „The Importance of Being Earnest“).

Auch beim Roboter ist die Faszination glaube ich weniger die Beherrschbarkeit, sondern vielmehr die Suche nach dem magischen Etwas, was wir Seele nennen – und manchmal in einem guten Menschen-Immitat zu erkennen glauben.

Allerdings gibt es Roboter, die einem Menschen zum Verwechseln ähnlich sind, bisher nur im Film.

In Filmen wie Metropolis, Blade Runner und A.I. – Künstliche Intelligenz entwickeln Maschinen / Androide / Replikanten ein eigenes Bewusstsein. Sie lösen sich aus ihrer Knechtschaft und wenden sich gegen ihren Schöpfer. Oder sie lernen zu träumen und zu lieben – wie der Roboter-Junge David aus A.I., der durch einen Zauber menschlich werden möchte, damit seine Menschenmutter ihn liebt.

Die Kreatur sehnt sich genauso nach Liebe, wie ihr Schöpfer. Diese Sehnsucht bleibt aber für beide Seiten unerfüllbar.

Zurück im Café. Ich unterbreche meinen Gedankenfluss, um den Ort für meinen Blog auch fotografisch festzuhalten. In dem Moment kommt die Bedienung (ein Mann mit Hipster-Bart) an meinen Tisch, stellt das Stück Ziegenkäse-Himbeertorte vor mich hin und sagt:

„Hier ist noch was zum fotografieren“.

Da fällt mir noch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Maschinenmensch ein: Der Humor.

Das gewisse Extra:

Ich kann meinen Namen nun mit Bits schreiben:

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Eine wunderbare musikalische Umsetzung der Geschichte von E.T.A. Hoffmann kann man an der Komischen Oper Berlin erleben „Les Contes d’Hoffmann“ von Jacques Offenbach (Mo, 17. April).

Wer möchte mitkommen?

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★☆☆☆

Inspiration

★★★★☆

(T)1010100(I)1001001(M)1001101 -Faktor

★★★★★

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