Die verkleidete Angst

Dies wird keine Erfolgsmeldung. Aller Anfang ist schwer? Nein! Alles Ende ist schwer! Seit mehr als einer Woche hat sich der Innere Kritiker in mir breit gemacht, unter dessen Gewand sich die nackte Angst verbirgt.

Mein Romanabenteuer, das ich am 1. November 2017 mit spielerischem Eifer begonnen habe, hat seine Leichtigkeit völlig verloren. Stattdessen hat sich ein Mantel von drückendem Ernst darüber ausbreitet. Wo ist bloß meine Unbeschwertheit im Schreiben geblieben?

Wenn ich meinen Blog-Eintrag von letzter Woche lese, überkommt mich eine Beklemmung – mit Leistungsdruck und Abgabefrist habe ich versucht, meine inneren Warnsysteme zu übertönen.

Ich wollte mein Traumprojekt so gerne bis zum Jahresende abschließen. Mein Pflichtgefühl und das schlechte Gewissen haben schon in Dezember mächtig an mir genagt, weil ich alle meine Energie für das Romanschreiben eingesetzt und meine Arbeiten für das Studium ziemlich vernachlässigt habe. Ab Januar – so mein Deal mit mir selbst – werde ich dann richtig Gas geben und alles nachholen.

Jetzt ist es Januar, mein Roman ist noch nicht fertig und Panik steigt in mir auf. Nachts liege ich wach und in meinem Kopf kreist die Liste von überwältigenden Aufgaben, die ich irgendwie in eine Reihenfolge bringen muss, um sie frist- und anforderungsgerecht abzuarbeiten. So wie vor nicht allzu langer Zeit in meinem letzten Job, wo meine ersten Gedanken morgens beim Aufwachen und die letzten Abends vor dem (Nicht-) Einschlafen (und fast alle Gedanken zwischendurch) der schier erdrückenden Last von Arbeitsaufträgen galten. Aus diesem Teufelskreis hatte ich mich doch eigentlich befreit.

Die Leichtfüßigkeit hat mich auch im Studium verlassen. In die spielerische Entdeckungsfreude vom Anfang hat sich nun im 3. Semester etwas Schweres eingeschlichen: Der Zweifel. Der Zweifel, ob ich den vielfältigen Anforderungen gewachsen bin. Bald schon sollen wir uns ein Thema für unsere Masterarbeit aussuchen und ich habe noch nicht den Hauch eines Ansatzes von einer Ahnung, was das für mich sein soll. Auch mein Praxisvorhaben bereitet mir Sorge, denn für mein theoretisches Konzept der Schreibspaziergänge habe ich noch keine Umsetzungsmöglichkeit gefunden – bei den Volkshochschulen bin ich an verschlossenen Türen abgeprallt und wie ich sonst eine Gruppe schreibwilliger Menschen in Berlin finden soll, steht wie eine Steilwand vor mir und mir fehlt die Kletterausrüstung. Vielleicht muss ich auf die schreibpädagogische Betreuung einer Einzelperson zurückgreifen – das erscheint mir eher möglich.

Aber zurück zu meinem Roman – meinem Traumprojekt und meiner Zukunftsperspektive. Was ist in den letzten Wochen passiert? Warum hat sich der Innere Kritiker lautstark zu Wort gemeldet?

Passenderweise ist es eine Studiumsaufgabe für den Januar, einen schriftlichen Dialog mit meinem „Inneren Zensor“ zu führen (oder „Erlauber“, wie ich gerade beim Blick in den Modulübungsplan sehe, aber diese Variante habe ich offenbar ausgeblendet). Ich hätte nicht gedacht, dass mich dieser Dialog nicht nur akademisch, sondern mit akuter Dringlichkeit erfassen wird. Es ist höchste Zeit, dass ich meinen Dämon zum Gespräch bitte. Ich hoffe, bei näherem Kennenlernen verliere ich meine Furcht vor ihm.

Warum hat erst das Roman-Finale meinen Peiniger auf den Plan gerufen? Zu Beginn meines Schreibprojekts im Rahmen des „NaNoWriMo2017“ ging es darum, jeden Tag eine bestimmte Wörteranzahl zu Papier zu bringen. Das hat mich große Disziplin und auch einige Anstrengung gekostet – und trotzdem habe ich beim Schreiben eine rauschhafte Erfüllung erlebt. Denn die Quantitatsvorgabe war für mich gleichzeitig eine Freistellung von Qualitätsansprüchen. Eine Erlaubnis, einfach drauflos zu schreiben – nach Lust und Laune ohne festes Inhaltsziel. Die innere kritische Stimme („sei perfekt“ ist ihr Credo) hatte Urlaub. So konnte ich mich genüsslich frei schreiben, gerne auch mal ausschweifend über alle Früchtesorten im Marmeladenvorrat meiner Protagonistin Elise. Auf diese Art habe ich jeden Tag ein Kapitel geschrieben, mit dem ich rundum zufrieden war, und habe meine Figuren und Handlungsstränge leichthändig entwickelt. Daraus ist eine lebendige und farbenfrohe Fülle entstanden.

Dann kam der Dezember. Meinen Vorsatz, nur jeden zweiten Tag zu schreiben, habe ich nach Erledigung meiner Pflichtaufgabe (Entwurf von Philosophie-Essay) schnell aufgegeben und wieder täglich geschrieben – wenn auch mit weniger Worten, dafür mit Korrekturschleifen. Das war die Zeit für das große und verfrühte Comeback meines Inneren Kritikers. Nun sitzt er auf meiner Schulter und raunt mir unaufhörlich ins Ohr. Die Handlung ist komplex, die Figuren buhlen in großer Zahl um meine Aufmerksamkeit. Mein Plot-Planungsdokument wird täglich detaillierter. Der Countdown zum Jahresende tickte mit jedem Tag lauter.

Nach meinem ersten Strauchler am letzten Donnerstag habe ich mich am Freitag mit großer Kraftanstrengung noch zu 2.500 Worten gezwungen – wobei jetzt jedes Wort vom Kritikermeister abgewogen und mit einem Qualitätsurteil versehen wird. Dann hat mich am Samstag eine Schmerzwelle überspült und untergetaucht – was mich jedoch nicht davon abgehalten hat, an diesem Tag und am Silvesterabend noch jeweils über 1.000 Wörter zu Papier zu bringen. Die Silvesternacht mit der Böller-Hölle in Berlin bis 5 Uhr in die Früh hat mir dann den Rest gegeben und am 1. Januar habe ich endlich den Widerstand gegen meine mentale und körperliche Erschöpfung aufgegeben. Ich habe mir einen außerplanmäßigen Ruhetag zugebilligt.

Welcher peitscheschwingende Sklaventreiber bringt mich soweit? Wo früher im Berufsleben ein Vorgesetzter und Kollegen Leistungsdruck auf mich ausgeübt haben, habe ich diese Rolle nun freiwillig dem Inneren Kritiker übergeben.

Ganz planmäßig habe ich mir dann am 2. und 3. Januar 2018 einen Belohnungsausflug nach Dresden gegönnt. Zum Glück schon fest gebucht, denn eine penible Stimme in meinem Kopf hat mir vorgehalten, dass ich mir ohne Romanfinale die Belohnung eigentlich gar nicht verdient hätte. Auf den Schwingen der berauschenden Musik von Korngolds „Die Tote Stadt“ konnte ich für kurze Zeit in andere Sphären entschweben.

Zurück in Berlin. Der Innere Kritiker entdeckt eine Staubschicht auf meinem Laptop und dem Stapel der Uni-Lehrbriefe.

Eine schlimme Nacht wartet auf mich. Der Sturm rüttelt an meinen Rollläden (nicht nur metaphorisch) und noch heftiger stürmen die Gedanken in meinem Kopf. Endlos und auswegslos sortiere ich meine Arbeitsaufträge wie Bauklötze, versuche die wackligen Türme vor dem Einsturz zu bewahren, indem ich sie umsortiere, in eine andere Form oder Konstruktion zu bringen versuche. Es werden nicht weniger. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Schlaf. Ein Bewusstseins-Vakuum. Wenn es doch nur eine Aus-Taste für meinen Kopf gäbe!

Ich fahre das volle Geschütz gegen meinen Gedankenwirbel auf: Japanisches Heilöl brennt kalt auf meiner Stirn, ich lausche auf die Stimmen aus dem CD-Spieler vom Kleinen Prinzen, vom anarchistischen Kling-Känguru, auf die großmütterliche Stimme von Luise Reddemann, die Achtsamkeitsübungen mit mir machen will, mich zum Gepäck ablegen und zu meinem Wohlfühlort einlädt – sie alle können mich nicht retten. Vor dieser Gedanken-Kobra, die mich würgt und zu verschlingen droht!

Was sind das für Gedanken? Sie handeln von Pflicht, Disziplin, Leistung, Ordnung. Sie umklammern mich. Oder umklammere ich sie? Jene Gestalt, die ich oben den „Inneren Kritiker“ genannt habe. Diese Gestalt steckt in einem Korsett, eingeschnürt von den eigenen hohen Ansprüchen. Aber was steckt eigentlich darunter? Was würde passieren, wenn all diese Schnüre und Stricke abfallen würden? Dann würde die nackte Angst vor mir stehen! Aber diese Angst bibbert nicht davor, zu versagen oder nicht gut genug zu sein. Nein, sie schlottert vor dem Verlust des Korsetts, das sie zusammen hält – vor dem Verlust von Halt, von Kontrolle – vor dem Sturz ins Bodenlose. Die Angst ist paradox. Sie ist unlogisch. Sie ist ein Gefühl. Sie ist ein Bild.

Ich versuche, ein Bild zu finden, um meinen Sturzflug irgendwie aufzuhalten. Und dann finde ich es (um 4 Uhr nachts): Das Bild vom Himmel über den Wattewolken. Ich könnte Schweben, anstatt zu stürzen! Ich bin so erleichtert über dieses Bild, dass mir die Tränen kommen. Und mit den Tränen fließt auch ein Teil meiner Anspannung ab und ich kann endlich einschlafen.

Am Morgen beschließe ich, erst mal inne zu halten, anstatt den Düsentrieb für mein Romanfinale anzulassen.

Ich besinne mich darauf, was mein Schreiben für mich bedeutet – nämlich Freiheit. Schweben, statt stürzen. Deshalb hatte ich auch vor Monaten dieses wunderbare Himmel-Wolken-Bild für meinen Blog-Header ausgewählt. Ich hatte es ständig vor Augen und war zuletzt doch blind dafür.

Ich werde meinen Roman zu Ende schreiben. Ob ich das Finale in vier Tagen oder in vier Wochen (oh je, der Innere Kritiker steigt mit rotem Kopf an die Decke) schreibe, darauf soll es mir nicht ankommen. Ich freue mich darauf, meine Fantasie in die Lüfte zu schicken. Um die Handlungskluft kümmere ich mich erst mal nicht, sondern schreibe als nächstes die Szene, auf die ich mich schon seit Wochen freue: Mein Protagonist, der Junge mit der Gitarre, entkommt auf einem weiß-glitzernden Schneevogel von seiner Insel der Restriktionen und fliegt seiner (inneren) Freiheit entgegen.

Sobald ich das letzte Wort vom letzten Kapitel geschrieben habe, werde ich – ohne Korrekturschleife – diese 1. Fassung „ roh“ und ungeschliffen ausdrucken. Damit ich mein Werk physisch in Händen halten und umarmen kann – mit all seinen Imperfektionen, dem Überfluss an Adjektiven, den Tippfehlern.

Jetzt, wo ich das alles aufgeschrieben habe, kommen mir kurz Zweifel, ob ich diese sehr persönlichen Einblicke wirklich auf meinem Blog veröffentlichen soll. In der Welt der sozialen/digitalen Medien zeigen die meisten Menschen nur eine selektierte und retuschierte Seite ihrer Lebenswelt. Auch in meinem bisherigen Berufsleben gehörte es zum Leitbild, keine Schwäche oder Zweifel zu zeigen. Davon habe ich mich jedoch abgekehrt. Auch für die Schattenseiten darf und muss es Raum geben. So erlebe ich es schließlich auch in positiver Weise in meinem jetzigen Studium und im Austausch mit meinen Mitstudierenden.