Zum ersten Mal Berliner Luft in der Waldbühne geatmet – Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker am 24. Juni 2023

An diesem sonnigen Samstag pilger ich zum ersten Mal zur legendären Waldbühne, um das Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker zu erleben. Nachdem es am Vortag wie aus Kübeln geschüttet hat, sind die Wettergötter heute günstig gestimmt und es herrscht ideales Picknickwetter. So wandere ich mit meiner Decke und Proviant im Rucksack von der S-Bahnstation Richtung Eingang. Meinen Wegplan auf dem Handy benötige ich nicht, denn ich kann einfach dem gutgelaunten Menschenstrom folgen, der mich in die richtige Richtung trägt.

Haupteingang zur Waldbühne

Schnell hole ich meine Pressekarte ab und schon brandet zwischen den Bäumen Applaus auf – ich bin ein bisschen knapp dran und offenbar kommen die Musiker schon auf die Bühne, in fünf Minuten soll das Konzert beginnen.

Als ich aus dem hinteren Halbkreis mit den Imbissbuden an den oberen Rand des steinernen Rundes trete, verschlägt es mir glatt den Atem. Steil wie Felsenhänge fallen die Sitzränge fast hundert Meter in die Tiefe, mir wird beinahe schwindelig.

Noch beeindruckender ist, dass diese unzähligen Sitzreihen mit 20.000 Menschen gefüllt sind, ein buntes Meer von Köpfen und ein erwartungsvolles Murmeln liegt in der warmen Abendluft. Eilends steige ich die lange Felsentreppe am Rand hinab und finde meinen Sitzplatz auf einer Bank im Block B direkt hinter dem Golden Circle in der Mitte direkt vor der Bühne, wo es sich die Besuchenden auf ihren Picknickdecken bequem gemacht haben.

Ich finde es wunderbar, dass dieses Klassikevent offensichtlich so beliebt ist, dass die Waldbühne komplett ausverkauft ist – eine Ausnahmeerscheinung in den Post-Corona-Zeiten, in denen viele Konzerte vor halb leeren Rängen gespielt werden oder ganz abgesagt werden müssen.

Unter Applaus betritt der Dirigent Andris Nelsons die Bühne und die Philharmoniker lassen die Ouvertüre aus Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ erklingen, ein Stück aus der Romantik, das Naturliebe und Aberglaube beschwört. Der umgebende Wald bietet hier die perfekte Kulisse, für Gespenstergrusel ist es aber noch zu hell.

Mit ausgreifenden Schritten kommt der Startenor Klaus Florian Vogt auf die Bühne, der große Norddeutsche mit blonder Wallemähne und blauen Augen (die auf den großen Leinwänden auf beiden Seiten der Bühne besonders auffallend leuchten) ist auf den bedeutendsten Bühnen der Welt zuhause und vor allem ein gefragter Wagner-Sänger bei den Bayreuther Festspielen.

Heute gibt er sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Er singt die Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ (ebenfalls aus “Der Freischütz”), wobei seine schlanke klare Stimme, die knabenhaft klingt, gut die jugendliche Frische des Stückes einfängt. Allerdings scheint der Tenor von der monumentalen Kulisse und den Menschenmasse so sehr beeindruckt zu sein, dass er auffällig oft nach Luft schnappt und sein Gesang mitunter ein wenig atemlos wirkt. Vielleicht ist es wirklich ein bisschen Nervosität, was ich sehr sympathisch finde, er ist offenbar kein abgebrühter Star. Das Publikum spendet dem Tenor jedenfalls freundlichen Beifall.

Als nächstes bringen die Philharmoniker die Klänge von Richard Wagner zu Gehör. In der Arie „Mein lieber Schwan“ aus Lohengrin fühlt sich der Tenor hörbar angekommen und zeigt in einer gefühlvollen und schönen Interpretation, warum der Gralsritter seine Paraderolle ist.

Dann ist Pause. Ein allgemeines Gewusel bricht aus, die hausgemachten Stullen werden ausgepackt und die Zigaretten angezündet. Ich beobachte vergnügte Familien mit ihren Kindern. Ein kleines Mädchen im goldenen Rock und mit güldenen Sandalen hat sich für das Event wie eine Prinzessin in Schale geworfen und albert mit ihrem Bruder herum.

Auch die Kamerateams vom rbb, der das Konzert live übertragen, sind fleißig im Einsatz, interviewen den Tenor und mischen sich unter das Publikum, um Impressionen und O-Töne zu sammeln.

Gegen 21 Uhr geht das Konzert weiter. Nun steht die Musik des Klangmagiers Richard Strauss auf dem Programm. Die Philharmoniker spielen mit großer Plastizität „Till Eulenspiegels lustigen Streichen“. Die Musik trägt mich wie auf wogenden Wellen in weite Ferne. Dann singt Klaus Florian Vogt drei Strauß-Lieder mit großer Stimmschönheit.

Das grandiose Finale bildet die Suite op. 59 aus „Der Rosenkavalier“, was eine Art Best-of aus Strauss’ berühmtester Oper ist – ich erkenne die süße Walzermelodie „Nur mit dir“ wieder (amouröse Fantasien von Baron Ochs) und es geht auch dramatisch zu. Diese berauschende Musik ist so voller Farben, dass geradezu cineastische Bilder vor meinen Augen entstehen – sie würde sich auch gut als Filmmusik eignen. Die Philharmoniker spielen mitreißend und dabei differenziert, sie sind einfach erste Sahne.

Als erste Zugabe interpretiert der Tenor das Lied „Morgen“ (ebenfalls von Strauss) sehr gefühlvoll – im Lied geht es um Abschied und Wiedersehen (vielleicht im Jenseits) – ich bin total bewegt und gerührt.

Dann kommt die Zugabe, auf die sich das Stammpublikum die ganze Zeit gefreut zu haben scheint, für mich jedoch ein überraschendes Erlebnis ist: Zum flotten Marsch „Berliner Luft“ (Operettenlied von Paul Lincke, komponiert 1904, wurde bald zum Gassenhauer) werden die Handylichter geschwenkt und hier und dort glitzern Wunderkerzen (inzwischen ist es dunkel und die Sichel des Mondes steht silbrig am Himmel) und im Refrain wird freudvoll mit gepfiffen – das ist wirklich ansteckend. Ich kann gut verstehen, dass diese inoffizielle Hymne der Stadt eine liebgewordene Tradition als Abschlussstück des Konzerts der Philharmoniker in der Waldbühne ist.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem Pfeifen auf den Lippen folge ich schließlich wieder dem Strom der Menschen zur S-Bahnstation.

Es war magischer Konzertabend mit herrlicher Musik und der besonderen Stimmung unter freiem Himmel.

Bis zum nächsten Mal – in der Waldbühne lässt sich die Berliner Luft doch am besten schnuppern.

Jonas Kaufmann begeistert mit großen Gefühlen und italienischer Gesangskultur in der Alten Oper Frankfurt

Startenor Jonas Kaufmann präsentierte am Sonntag bestens disponierte ein vielseitiges und mitreißendes Arien-Programm aus Opern von Giuseppe Verdi und aus dem italienischen Verismo

Schon mit seiner Auftrittsarie „Celeste Aida“ aus Verdis Nil-Oper „Aida“ zeigt Kaufmann (53) seine langjährige Erfahrung im italienischen Fach und zaubert mit warmen Stimmfarben und langen Legatobögen ein verführerisches Klangerlebnis und beweist mit seinem leise an- und abschwellenden letzten Ton, wie perfekt er sein Instrument beherrscht. Aber der Tenor stellt seine Stimme immer in den Dienst der Musik und vor allem der Emotion, die er mit seinem Gesang seelenvoll zu transportieren versteht.

Tenor Jonas Kaufmann – Foto: Ansgar Klostermann/Pro Arte © Ansgar Klostermann

Anrührend und mit zarten Tönen bis hin zu dramatischen Ausbrüchen gestaltet er die Arie des Rodolfo aus „Luisa Miller“ und die des Riccardo aus „Un ballo in maschera“ – Figuren, die er bisher noch nie auf der Bühne verkörpert hat. Doch in seiner Interpretation werden die darzustellenden Männer mit ihren Liebesnöten sofort lebendig.

 

Zwischen den Arien des Tenors sorgen die aus den jeweiligen Opern stammenden Preludios für eine musikalische Einstimmung. Die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Jochen Rieder spielt wohlklingend auf. Mit dem Dirigenten verbindet Kaufmann eine langjährige Zusammenarbeit, er ist sein Stammdirigent auf allen Tourneen. In den Arien merkt man, dass die beiden Musiker bestens harmonieren und Rieder den Orchesterklang einfühlsam den Bedürfnissen des Tenors anpasst.

Foto: Ansgar Klostermann/Pro Arte © Ansgar Klostermann

Einen grandiosen Höhepunkt vor der Pause liefert der Monolog des Otello aus der gleichnamigen Verdi-Oper. Wenn Kaufmann „Dio! mi potevi scagliar tutti i mali“ flüstert, so lastet hier die tiefe Verzweiflung des Otello auf jeder Silbe, jedem gehauchten Vokal, und man vergisst, dass ein Tenor im Frack auf der Bühne steht und wird hineingetragen in eine zutiefst ergreifende Seelenschau.

 

Beim Otello kann Kaufmann bereits auf drei Bühnenproduktionen zurückblicken (sein umjubeltes Rollendebüt gab er im Sommer 2017 am Royal Opera House in London), in denen er in die Haut dieses von Eifersucht Getriebenen geschlüpft ist und diesen eindringlich verkörpert hat – der gebürtige Münchner ist auch darstellerisch ein Ausnahmetalent. All diese Emotionen kann der Tenor innerhalb weniger Sekunden aus dem luftleeren Raum in sich heraufbeschwören und in der Alten Oper auf die Konzertbühne bringen. Das Publikum im fast ausverkauften Haus ist vollkommen mitgerissen und applaudiert enthusiastisch.

Jonas Kaufmann und Jochen Rieder – Foto: Ansgar Klostermann/Pro Arte © Ansgar Klostermann

Nach der Pause präsentiert der Sänger Glanzstücke aus dem Verismo. Ähnlich intensiv wie der Otello gelingt ihm das „Vesti la giubba“ des gebrochenen Clowns Canio aus „I Pagliacci“.

 

Eine erstaunliche Wandlung der Stimmung und auch der Stimmfarbe vollführt Kaufmann im darauffolgenden Stück, dem „Lamento des Federico“ aus der Oper „L’ Arlesiana“ von Francesco Cilea. Dieser Federico ist das italienische Pendant zum französischen Werther (nach Goethes literarischer Vorlage), beide sind junge Männer, die sich aus Kummer über die unerfüllte Liebe zu einer Frau das Leben nehmen. Hier gelingt es Kaufmann, die Reife vieler Jahre von seiner Stimme abzuwerfen und klingt mit lyrischen Tönen tatsächlich wie ein Jüngling. Mit fast liedhafter Stimmführung zeichnet er die Pein des Verliebten nach, die erst zum Ende hin seinen stimmgewaltigen Ausbruch findet. Hier kann Kaufmann mit kraftvollen Spitzentönen aufwarten.

 

Vor dem letzten Stück auf dem Programmzettel, dem bekannten und schon oft von ihm dargebotenen „Mamma! Quel vino è generoso“ des Turridu aus „Cavalleria rusticana“ (von Pietro Mascani), gibt es einen auflockernden Moment, als Kaufmann mit gelöster weißer Fliege und offenem Hemdkragen die Bühne betritt, dann lachend seinen derangierten Aufzug bemerkt und sich schnell wieder adrett herrichtet – hier springt auch der menschliche Funke ins Publikum über und der Startenor wird nahbar, der zuvor ein wenig reserviert und eher in sich gekehrt gewirkt hatte.

Foto: Ansgar Klostermann/Pro Arte © Ansgar Klostermann

Das Publikum zeigt sich von der Arie begeistert und gibt stehende Ovationen, die der bescheiden lächelnde Kaufmann mit vier Zugaben belohnt, darunter zwei italienische Canzonen, ein sehr sanftes und inniges „Ombra di Nube“ (Licinio Refice) und „Amor ti vieta“ aus Fedora (Umberto Giordano).

 

So verlassen die Musikbegeisterten das Opernhaus bewegt und mit einem Lächeln auf den Lippen und werden draußen von einer mild-mediterranen Frankfurter Frühlingsnacht empfangen, in der die Italianità noch eine Weile in ihnen nachklingen kann.

 

Wer Jonas Kaufmann bei nächster Gelegenheit (wieder oder zum ersten Mal) live auf der Bühne erleben möchte, der kann sich im Terminkalender auf dessen Homepage über alle Auftrittsdaten und Orte informieren: Kalender

Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin begrüßen das neue Jahr 2023 mit Beethovens Neunter

Staatsoper Unter den Linden, 1. Januar 2023

Kein Stück der Musikgeschichte ist so sehr aufgeladen mit Mythos und Tradition wie die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Kein Wunder also, dass Daniel Barenboim dieses Stück für das Konzert zum Jahreswechsel ausgewählt hat – es ist Begrüßung und vielleicht auch Abschied zugleich. Man hat den Eindruck, als schließe sich ein Kreis.

So gab der Generalmusikdirektor vor 30 Jahren, als er 1992 die musikalischen Geschicke der Staatsoper Unter den Linden in die Hand nahm, mit genau dieser Sinfonie seinen Einstand. Seither hat Maestro Barenboim dieses Stück mehr als 50 Mal mit der Staatskapelle zum Erklingen gebracht, unter anderem bei besonderen Anlässen.

So beschwor die musikalische Ode an die Freude im Jahr 2009 in einem Open-Air-Konzert vor dem Brandenburger Tor (u.a. mit Jonas Kaufmann und René Pape) mit seiner Botschaft von Humanität und Versöhnung aller Menschen den Geist der deutschen Demokratie zur Feier des 60. Geburtstag der BRD .

Auch bei der Premiere des publikumswirksamen Formats „Staatsoper für alle“ auf dem Bebelplatz im Jahr 2008 und erneut im Jahr 2017 zur Feier des Wiedereinzugs des Spielbetriebs in das grundsanierte Haus Unter den Linden begeisterte diese universelle Sinfonie die Zuhörenden.

Doch die Verbindung von Beethovens 9. Sinfonie mit Berlin reicht noch viel weiter zurück. Nach seiner Uraufführung am 7. Mai 1824 im Wiener Kärntnertortheater unter der Leitung von Beethoven persönlich erklang seine revolutionäre Sinfonie zwei Jahre später, am 27. November 1826 in der preußischen Hauptstadt im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Das außergewöhnliche Werk mit seiner expressiven Fülle und dem Chorfinale sorgte beim damaligen Publikum für Erstaunen und auch für eine gewisse Irritation.

Wer übrigens die Originalpartitur dieses Ausnahmewerks bestaunen möchte, findet diese heute in der Berliner Staatsbibliothek verwahrt vor, da Beethoven diese Komposition seinerzeit König Friedrich Wilhelm III. von Preußen gewidmet hat.

Das Publikum besteht aus Berlinern und Klassikfans, die in Reisebussen von weither angereist sind.

Heutzutage gehört die 9. Sinfonie zu den meistgespielten und auch einem breiten Publikum bestens bekannten Musikstücken, vor allem natürlich der IV. Satz mit dem monumentalen Chor und den vier Solistenstimmen in der Vertonung von Friedrich Schillers (1759-1805) Ode „An die Freude“.

Um diese weltumspannende Hymne an die Menschlichkeit, Liebe und Hoffnung zu erleben, sind auch an diesem Sonntagnachmittag tausende von Menschen in die Staatsoper geströmt, das Haus ist ausverkauft.

Pünktlich um 16 Uhr nehmen die Orchestermusiker ihre Plätze auf dem Podium ein und stimmen sich ein. Dann wird es still und alle warten auf ihren Dirigenten. Doch der kommt nicht. Es vergehen einige Minuten des gespannten Stillsitzens, allmählich wispert es unruhig im Publikum. Nach etwa fünf Minuten erhebt sich Intendant Matthias Schulz von seinem Sitzplatz im ersten Rang, wo er eigentlich als Hausherr dem Konzert lauschen möchte, und eilt hinaus. Das Raunen nimmt zu. Was ist mit Daniel Barenboim?

Die allgemeine Sorge ist verständlich, denn der Generalmusikdirektor musste in den letzten Monaten einige Konzerte wegen seiner „schweren neurologischen Erkrankung“ absagen. Im November 2022 beging der argentinisch-israelische Pianist und Dirigent seinen 80. Geburtstag – ohne die geplanten Galakonzerte zu seinen Ehren selbst leiten zu können. Umso erstaunlicher ist es, dass er für die beiden Konzerte zum Jahreswechsel wieder vor das Dirigentenpult treten will.

Matthias Schulz kommt auf die Bühne, begrüßt das besorgte Publikum und bittet um ein wenig Geduld: „Daniel Barenboim ist im Haus. Es dauert noch 2 bis 3 Minuten.“

Tatsächlich betritt der Maestro kurz darauf unter herzlichem Applaus die Bühne und aberhunderte von Augenpaaren verfolgen, wie er vorsichtig mit kleinen Schritten zum Podest tippelt und unter offensichtlicher Mühe auf seinen Stuhl klettert. Daniel Barenboim ist von seiner Krankheit gezeichnet, legt dabei jedoch große Würde und Entschlossenheit an den Tag, seinem Orchester an diesem Nachmittag wieder die magischen Klänge der legendären Sinfonie zu entlocken.

Sobald der Dirigent seinen Platz eingenommen hat, scheint die körperliche Unsicherheit von ihm zu weichen und mit Taktstock und sparsamer Gestik leitet er die Staatskapelle routiniert durch die ersten Sätze der Sinfonie. Das Orchester zeigt einen harmonischen Klang und legt sich für seinen geschwächten Maestro besonders ins Zeug.

Chor und Solist:innen: Sopran Camilla Nylund, Mezzosopran Marina Prudenskaya, Tenor Saimir Pirgu und Bass René Pape.

Schließlich kommt der Moment, auf den alle gewartet haben: Der Chor und die Solisten auf der hinteren Bühne erheben sich und René Papes voller Bass tönt durch den Saal in seinem Solo:

„O Freunde, nicht diese Töne!

Sondern lasst uns angenehmere

anstimmen, und freudenvollere!”

Der altgediente Kammersänger singt und verkörpert diesen Hoffnungsträger auf ideale Weise und man möchte ihn am liebsten sogleich zum Anführer einer Friedensbewegung machen. Der Chor stimmt ein und der „Freude schöner Götterfunke“ springt auf das Publikum über.

Die Stimmen von Sopran Camilla Nylund und Mezzosopran Marina Prudenskaya vereinen sich harmonisch. Tenor Saimir Pirgu schleudert seine Solopassage

„Laufet, Brüder, euer Bahn,

Freudig, wie ein Held zum Siegen!“

ein wenig abgehackt hervor, hier wäre mehr Legato wünschenswert gewesen.

Der Staatsopernchor (geleitet von Martin Wright) bietet ein wundervoll sphärisches Klangerlebnis.

„Seid umschlungen, Millionen!

Diesen Kuss der ganzen Welt“

verströmt das Gefühl universeller Verbundenheit und Nächstenliebe.

Nachdem der letzte Ton verhallt ist, brandet Jubel im Auditorium auf und das ergriffene Publikum feiert das musikalische Erlebnis und vor allem Daniel Barenboim mit stehenden Ovationen.

Standing Ovations für Daniel Barenboim und die Mitwirkenden

Der Generalmusikdirektor nimmt diese Bekundung von jahrelang gewachsener Zuneigung mit einem sanften Lächeln entgegen. Ein Hauch von Wehmut und Abschied liegt in der Luft.

Daniel Barenboim bedankt sich bei seinen Solist:innen.
Ein begeistertes und dankbares Publikum huldigt Maestro Barenboim.

Tenor Rolando Villazón verzaubert sein Publikum mit einer musikalischen Weltreise im Kuppelsaal in Hannover

Am Sonntagabend begrüßte der vielseitige Tenor Rolando Villazón sein Publikum im gut gefüllten Kuppelsaal ungewohnt mit Mikrofon, denn Moderator Holger Wemhoff war kurzfristig erkrankt, so dass der Sänger selbst spontan durch sein Programm führte – mit Ernsthaftigkeit und Charme.

So schwelgte die golden-warme Stimme des Tenors in den ersten drei Liedern von Mozart, Schubert und Strauss von der melancholischen Abendstimmung, über die Kunst bis zum Abschied der Seelen. Er interpretierte die deutschen Verse mit sehr guter Textverständlichkeit und großer Ausdruckskraft.

Der nächste Teil war Komponisten aus dem mediterranen Raum gewidmet. In „Coplas de Curro Dulce“ von Fernando J. Obradors zeigte der Mexikaner sein Temperament.

Unter den melodienreichen Liedern der italienischen Komponisten Verdi, Bellini und Rossini stach besonders Villazóns schmerzlich-sehnsuchtsvolle Interpretation von „Vaga luna che inargenti“ (Bellini) heraus.

Nach der Pause präsentierte der Tenor moderne Musik und spannte mit vier Songs von Kurt Weill den Bogen in die Gegenwart mit dem Thema von Krieg und Verlust. Die Texte stammen aus der Feder von Walt Whitman (“Oh Captain! My Captain! – das Gedicht ist manchem bekannt aus dem Film “Der Club der toten Dichter”).

Auch die folgenden drei Lieder von Iain Bell forderten die Hörgewohnheiten heraus und gingen nicht sofort ins Ohr, wie andere eingängige Klassikhits.

Der Mexikaner scherzte: „Ich singe dieses Konzert noch acht Mal. Wenn Sie jedes Mal hinkommen, können Sie die Lieder am Schluss mitsingen.“

Zum Abschluss holte der Tenor Lieder der Komponistinnen Gisela Hernández, Inés Halimi und María Grever aus dem Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen hervor und bewies, dass diese Kompositionen ihren Platz im Standardrepertoire verdient hätten.

Das Lied „Entre tus manos“ hat Inés Halimi eigens für Villazón komponiert – wie er erzählte als Ergebnis einer Begegnung auf einer Zugfahrt, bei der die beiden ins Gespräch gekommen waren.

Begleitet wurde Rolando Villazón von der kanadischen Pianistin Carrie-Ann Matheson, die es verstand, im musikalischen Dialog die unterschiedlichen Stimmungen der Lieder zu unterstreichen.

Das Publikum dankte dem Tenor den gelungenen Abend mit stehenden Ovationen und wurde mit drei Zugaben belohnt, in denen der Mexikaner wieder den Farbenreichtum seiner Stimme aufblühen ließ und viel Herzenswärme auf den Saal übersprang.

Die Bühne brennt – endlich wieder Oper

Nach monatelanger Darbenszeit ist es am Samstag endlich soweit: Ich gehe in die Oper!

Aber ganz so wie früher ist es noch nicht, denn es gilt, einige Vorkehrungen zu treffen. So wandere ich gegen Mittag in sengender Hitze  zum Tierpark und lass mir in einer miefigen Turnhalle in der Nase herumstochern und halte 20 Minuten später ein Stück Papier mit dem Zauberwort: “NEGATIV” in der Hand.

Am frühen Abend also ziehe ich einen Rock an, der bestens zu meiner Knallbonbon-Feierstimmung passt und mache mich auf den Weg. Die Staatsoper unter den Linden begrüßt mich sanft rosé. Beim Einlass jedoch überkommt mich das typische Flughafen-Unwohlgefühl bei der Kontrolle – ich weiß, ich habe alle Papiere und nichts zu verbergen, aber irgendwie fürchte ich trotzdem, ich würde der Kontrolle nicht standhalten. Der Scanner tut sich auch schwer mit meinem Ticket, aber nach fünf Versuchen und Hellerschalten meines Displays darf ich dann doch in die heiligen Hallen eintreten.

Nun sitze ich auf einem dicken Polster im lückenhaft (gemäß Vorschrift) besetzten Auditorium und die Vorfreude steigt.

Ich sehe “La Fanciulla del West” von Puccini (1910). Der Büffel auf der Bühne soll das Publikum offenbar schon auf den Wilden Westen einstimmen. Das Orchester spielt sich ein und ich entdecke schon Antonio Pappano am Pult – er ist einer meiner Lieblingsdirigenten, den ich schon öfters im Royal Opera House in London erlebt habe, wo er der musikalische Direktor ist.

Ich lasse meinen Blick über die Ränge gleiten und sehe mich gleich mit einer Gewissensfrage konfrontiert: Fast alle Besucher haben ihre Masken abgelegt, sobald sie auf ihrem Platz sitzen. In der E-Mail des Hauses mit Corona-Hinweisen stand doch, man müsse seine Maske auch während der Vorstellung tragen. Aber schließlich ist jeder hier im Saal negativ getestet, wir sitzen alle auf Abstand, die hochleistungsfähige Belüftung ist im Einsatz, die Inzidenzwerte ganz weit unten – in einem Akt bedächtiger Sorglosigkeit streife ich also auch meine Maske ab und hänge sie über den Ellbogen wie es inzwischen zur selbstverständlichen Mode geworden ist.

Das Saallicht geht aus und die bombastischen Klänge von Puccini erfüllen den Raum. Wie wunderbar diese Musik klingt, wie plastisch der Klang im Raum, ich kann  jede Instrumentengruppe einzeln hören – damit kann kein Livestream und keine Opern-DVD mithalten – auf die ich in den letzten Monaten so oft zurückgreifen musste.

Der kräftige Männerchor lässt das raue Leben der Goldgräber in Kalifornien  lebendig werden und schließlich erscheint unter bebendem Blechbläsereinsatz  das “goldene Mädchen” Minni auf dem Dach ihrer Schenke. Die Sopranistin Anja Kampe hat eine klangschöne und volle Stimme und verkörpert das herzliche Mädchen sympathisch und glaubhaft. Der Tenor Marcelo Álvares überzeugt mich leider nicht mit seiner “tenorigen” Darstellung: Seine schauspielerischen Mittel sind sehr begrenzt, er schreitet treuherzig umher und konzentriert sich auf seine Glanztöne, für die er immer in die Knie geht, um sie dann mit ganzem Körpereinsatz in die Höhe zu stemmen – ich sehe einen Tenor bei der Arbeit und keinen charmanten Ganoven Dick Johnson. Immerhin kommen dann im zweiten und dritten Akt die kurzen Arien, auf die ich die ganze Zeit warte (“Ch’ella mi creda” – hier in meiner Lieblingsinterpretation von Jonas Kaufmann).

Leider kann diese Oper musikalisch und von der Dramatik nicht mithalten mit den drei besten Opern von Puccini (La Bohème, Tosca, Madama Butterfly). Aber ich will nicht meckern, sondern freue mich an dem unvergleichlichen Live-Erlebnis.

Auf der Bühne wird im Finale alles abgefeuert, was das Theaterarsenal zu bieten hat: Gewehrsalven, Rauch und sogar zwei Männer in Flammen taumeln über die Bühne – wenn es jetzt noch eine Klopperei geben würde und jemand eine Flasche über den Schädel zerschlagen bekäme, wäre ich wirklich bei den Karl-May-Festspielen angekommen. Die vordergründige Inszenierung stammt übrigens von Lydia Steier.

Das Publikum applaudiert anhaltend voller Dankbarkeit. Ich gehe beschwingt von dem Musikgenuss über die Museumsinsel zur S-Bahn – hier sind Wiesen und Biergärten in dieser warmen Sommernacht voller Menschen, die einem Massenerlebnis anderer Art frönen. So wie diese Leute über ein Tor jubeln, so jubiliere ich, endlich wieder diese Magie im Opernhaus spüren zu dürfen.

Und wie das bei Süchtigen so ist, brauche ich natürlich sofort den nächsten Trip. Am Montag durchlaufe ich erneut das obligatorische Testprogramm und finde mich wieder in meinem zweiten Wohnzimmer ein.

Dieses Mal höre ich Kompositionen von Peter I. Tschaikowsky: Zuerst das KLAVIERKONZERT NR. 2  G-DUR OP. 44 – hier gefallen mir die Soli vom Cello am besten, das Piano ist nicht mein Lieblingsinstrument – und nach der Pause eine sehr lebhafte ORCHESTERSUITE NR. 3 G-DUR OP. 55. Antonio Pappano dirigiert wieder mit viele Esprit und Leidenschaft und ich lasse mich von der wunderbaren Musik in Phantasiewelten tragen.

Zum Abschied bekomme ich eine Goldmünze und einen Aufkleber von meinem Gastgeber überreicht.

Da fühle ich mich doch gleich eingeladen, am Samstag wiederzukommen – zum konzertanten “Freischütz” von Carl Maria von Weber. Ich nehme alles mit, was ich vor der Sommerpause kriegen kann.