Woche 5: Verlassenes Institut für Anatomie – die Anatomie der Fantasie

Warum hier:

Seit ich Bilder vom verlassenen Institut für Anatomie der Freien Universität Berlin gesehen habe, möchte ich diesen Ort entdecken. Es ist einer der top Berliner Pilgerorte für Fotografen, die „lost places“ aufsuchen. Mich reizen der geisterhafte Hörsaal und der gruselige Keller mit den Leichenkühlfächern. Und mich reizt auch, dass es ein verbotener Ort ist.

Zur Einstimmung:

Der Ort:

Bei herrlichem Sonnenschein spaziere ich die Peter-Lenné-Straße in Dahlem entlang, vorbei an prächtigen Villen mit umzäunten Gärten. Nichts kann diese heile Welt trüben. Doch da liegt es – das Eckgrundstück mit wilden Sträuchern und verrottetem Herbstlaub im struppigen Gras. Darauf steht trotzig ein Gebäude mit zerbrochenen Scheiben und Graffiti an der bröckelnden Fassade. Ein stabiler Bauzaun umkreist das Objekt. Hier scheint es kein Hineinkommen zu geben.

Doch was ist das? Direkt vor dem Hauptportal gibt es einen kleinen Durchschlupf unter dem Zaun. Also nichts wie hinunter auf den Boden, meine Haare fegen beim Durchrollen über den erdigen Untergrund – und ich bin drinnen. Übrigens habe ich für mein heutiges Abenteuer einen Komplizen (Olli) dabei – für den Fall, dass es böse Geister im Haus gibt.

Wir klettern durch die scheibenlosen Öffnungen der doppelten Holztüren und jetzt sind wir im Haus.

Vom Foyer gehen Türen in alle Richtungen ab. Auf meinem Erkundungsweg durch das Erdgeschoss knirschen bei jedem Schritt Glasscherben unter meinen Sohlen. Alle Fenster sind ohne Gläser und lassen die Frühlingsbrise herein. Ich komme durch große Säle mit kathedralenhafter Andächtigkeit. Überall sehe ich bunte Bilder und Schriftzeichen an den Wänden – die lebendigen Zeugnisse meiner Vorgänger.

Ich gehe durch lange Flure, kleine Bürozimmer, breite Laborräume mit gemauerten Tischen vor den Fenstern, die den Blick freigeben in einen lauschigen Innenhof mit Tannengrün und gelb blühenden Osterblumen.

Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist aufgehoben.

Dort ein „Operationstheater“.

Wo geht es nun in den Keller? Tatsächlich finden wir kurz vor der Treppe einige rote Tropfen auf dem Fliesenboden – bei denen es sich nach unserer forensischen Fachmeinung eindeutig um Blutspuren handelt. Im dunklen Keller ist es sofort um einige Grad kälter, die Flure sind enger und die Decken niedriger. Unvermittelt stoße ich in einem Zimmerchen auf einen stählernen Seziertisch – der mit roten Blütenblättern fotogen dekoriert ist.

Und schließlich finden wir sie – die langen Reihen von Metallfächern, die in steriler Funktionalität der Aufbewahrung von Leichen dienten. Heute können die bunt bemalten Klappen der Fantasie als Gerüst für eine Schauergeschichte dienen. Die Geister sind aber schon ausgeflogen. Auf eine Kühlkammer hat jemand geschrieben: „Ganz schön tot hier“.

Den Eindruck habe ich gar nicht. Der Ort ist voll von der Präsenz anderer Menschen, die hier ihre kreativen Spuren hinterlassen und sich den Raum gestalterisch zueigen gemacht haben.

Wieder im Tageslicht und einige Flure weiter komme ich endlich in den Hörsaal – ein würdevolles Amphitheater. In einer Ecke steigt mir beißender Brandgeruch in die Nase, ein paar verkohlte Überreste zeugen davon.

Standhaft reihen sich die unzähligen Holztische und Bänke vor mir auf, als könnte hier jeden Augenblick eine Verwandlung stattfinden und der Saal sich mit wissbegierigen Studierenden füllen.

Ich gehe durch die Reihen. Auf dem Boden liegen Chipstüten, süße Knabbereien, Getränkeverpackungen – vielleicht von der Party der letzten Nacht. #aboutlastnight

Ich suche mir einen Platz – die meisten Klapptische verharren unbeweglich in halb aufrechter Lage, aber einige laden doch mit (staubiger) Tischfläche zum Schreiben ein. Die hölzerne Sitzfläche ist schon ein bisschen aufgesplittert, aber wie ich hier so mit Schreibbuch und Stift sitze, fühle ich mich sofort am richtigen Ort.

Rundherum lassen die großen Fensterrahmen die Luft und die Sonnenstrahlen ungehindert in den Raum schweifen, ich höre Vogelgezwitscher und manchmal ferne Stimmen und Motoren von draußen. Das Haus und dieser Raum gehören im Moment mir alleine, ich bin nicht abgeschnitten, aber doch abgeschirmt vom Rest der Welt. Ich befinde mich außerhalb der Zeit, auf einer Insel der Fantasie – und der Freiheit.

Jetzt kommt mir nochmal der Leichenkeller in den Sinn und ich muss an Mary Shelleys „Frankenstein“ denken – wie dort ein Mensch versucht, gottgleich mit den Mitteln der Medizin einen neuen Menschen anatomisch zu rekonstruieren und ihn zum Leben zu bringen (“It’s alive“- herrliches Pathos im Film von 1931 ).

Als Schriftsteller benötige ich jedoch nur meine Fantasie, um einen Menschen zu erschaffen. Dieser schöpferische Akt des Schreibens ist grenzenlos. Manchmal frage ich mich, ob meine Figuren ein Eigenleben haben und was sie so treiben, wenn ich ihnen den Rücken kehre. Und was ist mit all den Charakteren in den Büchern, die ich gelesen habe? Hören sie auf zu existieren, sobald ich das Buch zuklappe? Ich glaube nicht…

Das gewisse Extra:

Das verlassene Gebäude ist für viele ein (Frei-) Raum, um ihre Kreativität auszuleben. Hier hat jemand eine kleine Ausstellung kuratiert.

Hier ein surrealistisches Wort-Bild: „Das ist noch nicht das Ende. Das ist noch nicht mal der Anfang vom Ende. Aber das hier ist vielleicht das Ende vom Anfang“.

Was wohl hinter dieser Tür liegt? Hier sind auch eurer Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort

Produktivität („wordcount“)

★★★☆☆

Inspiration

★★★★★

Vorstrafenregistererweiterungs-Faktor

★★★★★

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24 Antworten auf „Woche 5: Verlassenes Institut für Anatomie – die Anatomie der Fantasie“

  1. Wie spannend! Diese “Insel der Fantasie” ist wirklich eine tolle Entdeckung (da lohnt es sich, beim Einklettern die Haare durch den Staub schleifen zu lassen :-)). Die Blutstropfen, die ihr forensisch analysiert habt ;-), sind gruselig.
    Die Stimmung hast du so lebendig beschrieben (unterstützt durch die starken Fotos!), dass man dich als Leserin begleitet und die Gerüche und Farben miterlebt. Die kreativen Spuren der anderen sind sehr interessant, dadurch ist das eigentlich leere Gebäude ein Kommunikationsort, die Vorgänger sind quasi Dialogpartner. Hast du denn auch irgendwelche physischen Spuren dort hinterlassen? Im virtuellen Raum (hier im Blog) hast du auf jeden Fall deine Fährte gesetzt.
    Die Idee, dass man als Schriftsteller/in lebendige Charaktere – mit Eigenleben – erschafft, mag ich. Dabei denke ich auch an die “Die Unendliche Geschichte” – hier sind ja die Fantasiewesen in Gefahr, wenn sie vergessen werden.

    1. Vielen Dank. Ja, an “Die Unendliche Geschichte” habe ich auch gedacht – es ist nach wie vor eines meiner absoluten Lieblingsbücher! Nein, sichtbare Spuren vor Ort haben wir nicht hinterlassen – eigentlich hätte ich ja ein Gedicht an eine Wand schreiben können. Bei der nächsten Gelegenheit…

  2. Liebe Ulrike,
    das ist beachtlich wo Du Dich so überall “rumtreibst”. Ich habe diesen Beitrag mit Gruselgenuss gelesen, wobei mich der Gedanke beruhigt hat, dass Olli bei Dir war. Du hast den Ort so plastisch verlassen und gleichzeitig anziehend beschrieben, das die magische Wirkung gut rüber kam. Ich musste an das Institut für Rechtsmedizin hier in der Kennedyalle in Frankfurt denken.. Das ist, wenn auch noch in Betrieb, ebenfalls ein Gruselort, weil es in einer eigentlich sehr schönen alten Villa untergebracht ist, aber die Leichen natürlich im Keller liegen. So einen wunderbaren Hörsaal, der auf Deinen Bildern trotz seiner Verwahrlosung immer noch Würde ausstrahlt ,hat es dort nicht. Es fand damals alles in halbdunklen engen Räumen statt. Die Teilnahme an einer Obduktion, die auf dem Lehrplan der Vorlesung stand wurde mir am Kellereingang mit dem Hinweis verwehrt, ich sei ja jetzt schon grün um die Nase. Ich war nicht bös drum, an die frische Luft geschickt zu werden. Die Schilderungen der Komilitonen später haben mir völlig gereicht.

    Liebe Grüße
    Anne

    1. Vielen Dank. Mit der Obduktion ging es mir genau wie dir – nur dass ich nichtmal in die Nähe des Leichenkellers gegangen bin. Bei der Staatsanwaltschaft im Referendariat wurde es uns angeboten, aber ich wusste schon, dass ich dann umkippen würde. Und diese Bilder bekommt man sicher nie wieder aus dem Kopf. Nein Danke. Die Rechtsmedizin in Frankfurt kenne ich gar nicht. Sieht ja von außen ganz harmlos aus (google streetview). 🙂

  3. Die meisten Berliner würden staunen, was eine Neuberlinerin kennt und aufspürt. Viele kennen grad noch die Mall im Kiez. Ob das in disem unfreiwilligen Denkmal alles Kunst ist, was farbig ist, müsste genau angeschaut werden. Gut dass du Begleitung hattest. Deine Erzählung ist so farbig wie die Werke vor Ort. Neulich wollte mich ein Arzt überreden, in die Charite zu kommen, wo er im Hörsaal seziert. Da würde ich mich lieber in der Freien Universität gruseln.

      1. Hey Ulrike 🙂

        vielen Dank für den so ausführlichen Artikel.
        Wie war es damals bzw. hast du aktuelle Infos ob man da so einfach aufs Gebiet und ins Gebäude kann oder gibt es dort einen Wachdienst?
        Und welche weiteren spannenden Orte kannst du mir empfehlen?

        Vielen besten Dank im Voraus und mit freundlichen Grüßen,
        Kian

        1. Hi Kian, freut mich, dass dir mein Artikel gefallen hat. Als ich dort war, gab es im Anatomischen Institut keinen Wachdient – wie das jedoch heute ist, weiß ich nicht. Im Berliner Raum gibt die verlassenen Heilstätten Belitz (ich war schon dort, sehr eindrucksvoll), dort kann man verschiedene Gebäude im Rahmen von Führungen besichtigen.

  4. Liebe Ulrike,
    was für ein gruselig, genialer Ort,
    mit einem unverwechselbaren und einmaligen Vorstrafenregistererweiterungsfaktor,
    der unter den Baunzaun hindurch
    noch lange nicht an das Ende,
    sondern unweigerlich an den Anfang zurück führt,
    denn überall haben Menschen in Wort und Bild ihre Spuren hinterlassen und sorgen dafür, dasss die Grenze zwischen drinnen und draußen aufgehoben sind …
    Danke fürs Mitnehmen,
    viele Grüße,
    Sabine

  5. Liebe Ulrike,
    du machst ja coole Sachen! Leider komme ich erst jetzt dazu, dein Blog zu lesen (und mein eigenes zu beginnen). Der Beitrag aus der Anatomie gefällt mir am besten, wahrscheinlich weil der Ort so verboten und gruselig ist, im Kopf viel abgeht. Und wie ich sehe, kommst du inzwischen auch prima mit WordPress klar, während ich heute und gestern verzweifelte.
    Ich nehme dein Blog gerne in meine Blogroll auf!

  6. Liebe Ulrike,

    was für ein cooler Ort! Ich habe es sehr genossen, mit Dir in Gedanken durch die Flure zu schlendern, den Seziersaal zu erforschen und den Keller, der heute “unsere” Kunstwerke beherbergt, so wie er einst “uns” Kunstwerke der Natur beherbergt hat.
    Schöne Gedanken gehen Dir an diesem Ort durch den Kopf: “Als Schriftsteller benötige ich jedoch nur meine Fantasie, um einen Menschen zu erschaffen. […] Manchmal frage ich mich, ob meine Figuren ein Eigenleben haben und was sie so treiben, wenn ich ihnen den Rücken kehre.” Meine Gedanken tragen mich da gleich von Frankenstein weiter zu Tintenherz…

    Ich danke Dir sehr für diesen genialen Einblick!

    lg. mo…

  7. Ulrike auf den Spuren der Sprayer und Toten, toll!
    Ich musste schmunzeln, wie Du da sportlich unter dem Absperrgitter hindurchschwingst!
    Schon wieder ein Ort, den ich ganz oben auf die Liste der Orte setze, die ich besuchen will. Mal schauen, ob ich Deine Spuren finde…

  8. Liebe Ulrike,
    so wie du diesen Ort beschreibst und mit künstlerischen Fotos bebilderst, hat er gar nicht so viel Gruseliges. Du zeigst, wie viel Leben es an einem vermeintlich verlassenen Ort gibt. Das macht Hoffnung: Es geht immer weiter. Es gibt Schönes, wo man nur Schreckliches vermutet. Licht und Farben gibt es überall.

    Danke für das Vergnügen!

  9. Liebe Ulrike, du Wortabenteuerin,

    du scheust wirklich keine Mühen, um uns interessante Orte zu präsentieren. Der morbide Charme des ehemaligen Anatomie-Institutes hat mich natürlich sofort eingefangen. Ich sah die Gläser mit in Formalin eingelegten Missbildungen aus dem Pestturm in Wien vor mir, die Helfer im Seziersaal und hatte sofort wieder den typischen Anatomiegeruch aus dem Studium in der Nase. Ein Ort, den ich unbedingt aufsuchen werde, wenn ich das nächste Mal in Berlin bin …..

    Wagemutige, du, ich folge dir gerne weiter auf deinem Wege !

    Hedda

  10. Ich habe im Wintersemester 73/74 in diesem überfüllten Hörsaal – mit Glück auf einem offiziellen Platz – meist aber auf einer der Stufen, eng gedrängt mit vielen anderen Zuspätkommern, gesessen. Wenn längere Zeit Dias bei Verdunklung mit immerhin elektrisch bewegten Jalousien gezeigt wurden, konnten schon mal die Augendeckel zu klappen.
    Das schaurigste war der Seziersaal in dem immer ein paar superfleissige Kommilitonen an den stillen Körpern herum präparierten und den Eindruck vermittelten sie würden da wohnen. Trotz des beissenden Formalingestanks stellte sich nach einigen Wochen heraus dass da etwas schiefgelaufen war: grüner Schimmel breitete sich auf und in den Leichen aus. Das führte jedoch nicht zur Schliessung des Saales, nein, Weitermachen hiess die Parole!
    Ich verabschiedete mich zwangsläufig aus diesem keimbelasteten Milieu mit einer schwere Lungenentzündung, 10 kg Gewichtsverlust und einem Schleimhusten, den der behandelnde Allgemeinmediziner 6 Wochen mit Hustensaft bekämpfte ehe er sich dann doch zu einer Röntgenaufnaheme durchringen konnte… und zur Belohnung durfte ich noch eine extra mündliche Prüfung absolvieren.
    Soweit die damalige Realität!

    1. Vielen Dank liebe Rita für diesen spannenden Einblick in deine Studienbedingung dort im WS 73/74. Das klingt ja wirklich haarsträubend!

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