Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta – Türchen 11

Willkommen zu Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta. Auch in diesem Advent gibt es wieder eine spannende Gemeinschaftsgeschichte. Was bisher geschah (in kursiv):

Und da war es, das erste Türchen. Für das hatte sie sich als Ideengeberin natürlich verantwortlich gefühlt. So ein Anfangstürchen gibt die Richtung vor. Zack, da ist sie!  Zumindest für den ersten Raum, den die Menschen betreten, wenn sie mit den ersten Worten mitten hineingeführt werden. Sie bekommen vielleicht ein Gefühl dafür, was das für ein Raum ist, in dem sie sich befinden.

„Es duftet nach Kakao“, sagt Monsta und folgt dieser süßen Spur. „Da, ein Tannenbaum mit geschnitzten Holzfiguren!“, ruft Max und läuft dorthin. Roland malt ein Bild von dem Raum, Scrabbie hängt ihren Boxsack in die Ecke, Gustav gibt ihr Klugscheißer-Ratschläge und Lysander unterhält sich mit Otte.

Viele weitere Türchen werden sich bestimmt öffnen. Nicht immer an dem Tag, an dem wir sie brauchen. Das ist dann wie im Leben. Manchmal sehen wir zu lange auf eine geschlossene Tür, bis wir merken, dass eine andere längst geöffnet ist. „Du kannst ja einfach das Fenster nehmen!“, grinst Monsta und zeigt mir, wie das geht.ch rüttelte ihn unsanft wach. Er hatte es schließlich versprochen, hoch und heilig hatte er es versprochen. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich versuchte ihm den Teebeutel unter dem Arm wegzuziehen.

„Hey, du bist dran!“, rief ich noch einmal. „Was, was ist los?“, fragte er, noch völlig verschlafen und von nix eine Ahnung. „Du bist dran mit dem 2. Türchen und das schon seit Stunden!“, schimpfte ich. „Aber, ich entspanne doch gerade so schön mit meinem Teebeutel!“, beschwerte sich Monsta und gähnte. „O.k., ich bin ja gar nicht so. Also, ich öffne jetzt das 2. Türchen und dann kann es endlich losgehen mit der Geschichte, oder?“ Er ließ seinen Teebeutel in der Tasse, stieg teenass aus der Tasse und kletterte, kleine Pfützen hinterlassend, durch das Fenster. „Ich mache das Türchen von der anderen Seite auf!“, rief er und rüttelte an dem 2. Türchen, Nichts. Er rüttelte weiter. „Es klemmt!“ Rütteln. Nichts. Rütteln. Nichts.

„Vorsicht, ich nehme Anschwung. Geh lieber zur Seite!“ Ein lauter Knall und Monsta flog mit dem zweiten Türchen herüber zu mir. „So, das Türchen wäre soweit!“, grinste er und schüttelte sich. Ich lachte. Die Geschichte brauchte noch ein wenig, um sich von dem Schreck zu erholen, als sie so plötzlich im Raum stand, aber bis morgen wird sie sich erholt haben.

Wenn eine Tür zu klemmt oder sich nur mit ganz großer Kraftanstrengung öffnen lässt, ist es besser, sie geschlossen zu lassen und eine andere zu öffnen. Das passt doch besonders gut in die Adventszeit. Da entlanggehen wo es leicht ist… stattdessen machen wir uns das Leben oft schwer. Adventszeit heisst doch still werden, das Gute erwarten, behutsam vorangehen. Und was machen wir? Wir kämpfen immer mal wieder gegen das was ist. Nun ja, Monsta wollte nun mal unbedingt dieses Türchen öffnen. Und ja, es war dann ja auch genau richtig. Manchmal lohnt sich ja zu kämpfen. Genau hinter diesem Türchen verbarg sich nämlich eine Wortwolke, die wie geschaffen schien, um daraus eine wunderbare Geschichte für alle Monstas und Mias und alle anderen kleinen und großen Menschen zu erzählen.

Da standen in krakliger Schrift viele gute Zutaten für eine wirkliche Adventskalendergeschichte:

Wünsche, Advent, Weihnachten, Liebe, Frieden, Sehnsucht, Türen, Engel, strahlen, Freundschaft, Mysterium. „Schnee“ und „Winter“ lies sich nur ganz knapp entziffern. Einige weitere Worte waren gänzlich verwischt, man konnte sie nicht entziffern. Auch wenn Monsta sich noch so anstrengte… Aber er hatte ja selbst noch so viele Ideen mehr… 

 Monsta und Mia schauten mit aufgerissenen Augen auf ihren Gast, der sich in einer geschmeidigen Bewegung aus der Teepfütze erhob und nun in Form einer Kartoffel vor ihnen saß. Sein Körper sah aus wie ein durchsichtiger Wackelpudding, in dessen Innern kleine Lichtpünktchen in Grün und Gold aufblinkten, wie bei einer phosphoreszierenden Alge.

„Haaatschiiiii“, machte das Wesen und schoss dabei in die Höhe wie eine Gurke und blinkte hellgrün auf. Dann sackte es wieder in sich zusammen und sah jetzt wie eine zitternde Birne aus. „Entschuldigung, dass ich hier so mit dem Türchen ins Haus gefallen bin. Darf ich mich vorstellen: Ich bin das Mysterium“, sagte das Mysterium. „Ah, bist du unsere Adventsgeschichte?“, wollte Monsta wissen und grinste verschmitzt mit allen seinen fünf Zähnen. „Ich bin die Pointe der Geschichte“, sagte das Mysterium und leuchtete golden auf. „Aber ich habe mich leider in der Tür geirrt und bin viel zu früh dran. Ihr hattet es so eilig.“ „Was machen wir nun mit dir?“, fragte Mia.

„Ihr könnt mir helfen, die anderen Figuren der Geschichte suchen zu gehen. Sie sind beim schwungvollen Türchen öffnen von der Fensterbank nach unten in den Schnee gefallen.“  „Nach wem sollen wir denn Ausschau halten?“, fragte Monsta und strubbelte sich voller Tatendrang mit seinen kleinen Händen im Zottelhaar. „Der Prolog hatte schon seinen Auftritt, den müsst ihr nicht mehr suchen. Haltet die Augen auf nach Fräulein Freundschaft und Kammersängerin Sehnsucht. Herr Winter hat ziemlich frostige Manieren, aber vielleicht findet ihr noch heraus, was man tun muss, damit er auftaut.“

„Bin schon unterwegs“, rief Monsta und wollte losfliegen … „Halt!“, rief das Mysterium aufgeregt. „Eile mit Weile, liebes Monsta. Und überlege, in welcher Reihenfolge ihr die Figuren suchen müsst, derweil ich mich wieder in das letzte Türchen quetsche und meinen wohlverdienten Adventsschlaf weiterführe.“ „Wie? Du willst Mia und mir gar nicht helfen? Was ist denn, wenn wir nicht weiterkommen oder etwas falsch machen?“

„Papperlapp. Ihr habt Angst, nicht weiterzukommen, da lachen ja die Rentiere. Ich glaube, ihr seid umgeben von Menschen und Traumgestalten, die nur darauf warten, euch zu unterstützen. Manchmal müsst ihr einfach fragen. Mehr Mut zum Wort, sage ich!“  Monsta schüttelte seine strubbeligen Haare und guckte das Mysterium verständnislos an. Dann wandte es sich lieber an Mia. „Ach Mia, wäre das nicht schön, wenn …“ „Die Sehnsucht! Monsta, das ist es, du hast dich doch gerade nach etwas gesehnt. Nach was ist jetzt ganz egal. Du kannst es mir später erzählen. Ich möchte es auch unbedingt wissen, aber ich glaube, die Sehnsucht, die Kammersängerin Sehnsucht ist die Erste, die wir suchen müssen.“  Monsta sprang vor Freude in die Höhe und das Mysterium lächelte still vor sich hin, bereit in sein Schlafgemach zu klettern. „Zieh dir die Schneeschuhe an Mia, es geht los. Wenn du dich an mir festhältst, können wir sogar durch verschlossene Türen gehen.“ „Jetzt echt?“ Mia tippte sich verstohlen an die Stirn. Sie musste doch gleich mal an Monstas Teebeutel schnuppern. 

 „Fast. Du musst nur ganz fest an deine größte Sehnsucht denken.“

Mia schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Es war so Gott verdammt lange her, dass sie an ihre Sehnsucht gedacht hatte. Sehnsucht hatte irgendwas mit Träumen zu tun, daran erinnerte sie sich vage und Träume hatte sie längst aus ihrem Leben gestrichen. Wären Monsta & Co. nicht ihre Kumpels und Kumpelinen hätte sie sie wahrscheinlich komplett vergessen, aber so? Keine Chance und schon stupste Monsta sie ungeduldig von hinten an: „Auf geht´s, ab geht die wilde Fahrt! Scrabbie hat mir vorhin noch zugerufen, wo wir die Kammersängerin Sehnsucht finden können.“ „ Jaaaaa, totenhunderprozentigseelensicher… sie wohnt dort, wo der Osten auf einmal zum Westen wird, an jener feinen Grenze passt sie auf, dass ja keine Sehnsüchte die Welt verlassen können. Und wenn eine doch herunterzupurzeln droht, hilft ihr Max Erfindung des Sehnsuchtsfangnetzes (übrigens in sattem Magenta!) sie doch hier auf Erden zu behalten.”

Zisch, plitsch, braus, – Monsta und Mia waren nun nicht mehr aufzuhalten und sausten im Dunkel der Nacht davon…

Durch die Nacht also, flogen Monsta, Mia, Max, Scrabbie und Roland, auf der Suche nach Kammersängerin Sehnsucht, landeten sanft aufgefangen vom Sehnsuchtsfangnetz am Hain und sahen vor sich eine schier endlose Schlange Wartender. „Das wird ewig dauern“, seufzte Monsta, „wenn wir überhaupt reinkommen…“  „Ist Max nicht viel zu jung, Mia?“  „Keine Sorge, Scrabbie hat uns noch an jedem Türsteher der Stadt vorbeigebracht!“ „Ich will endlich tanzen!“, puffte Roland Nebelwölklein in die Kälte.

Nach drei endlosen Stunden standen sie endlich ganz vorne. Gerade wollte der Zerberus zu einem „Heute nicht…“ und einer abweisenden Geste ausholen, als eine engelsgleiche Stimme erklang, fanfarenbegleitet, und in güldenem Licht die Kammersängerin Sehnsucht herniederfuhr, den Türsteher umarmte und so lange küsste, bis die Sehnsüchtigen endlich begriffen, dass sie in den Tempel der Unschuld schlüpfen konnten, huschhusch, raschrasch.

Kaum drin, standen sie schon ungeduldig in der nächsten Schlange, vor den Klos, zwischen leichtbekleideten Tätowierten, wenigstens war es hier feuchtwarm und nicht feuchtkalt. „Worauf habt ihr den Lust?“, fragte Scrabbie in die Runde. „Tee!“, verlangte Monsta. „Lebkuchen!“, forderte Roland. „Zimtsterne!“, wünschte Mia. „Stollen!“, wollte Max. „Eierpunsch!“, orderte Scrabbie.

„Es gibt Puderzucker für alle!“,

zwitscherte Madame Sehnsucht und zwängte sich mit der Ziehgruppe in die enge Kabine. Roland versuchte sich in eine Ecke der Kabine zu drücken und so wenig Körperkontakt zu den anderen zuzulassen wie möglich. Scrabbies Blick hing an den langen Wimpern von Madame Sehnsucht. ‚Ob die wohl echt waren?‘ Monsta verstrubbelte sich mal wieder seine Haare. Das war ihm jetzt eigentlich alles ein bisschen zu viel Gewusel. Mia, die Praktische, fragte: „Frau Kammersängerin, was machen wir hier?“ Samantha Sehnsucht lachte glockenhell auf: „Wir üben für den Weihnachtschor der himmlischen Heerscharen. Der braucht für das Weihnachtskonzert noch Verstärkung und ich sehne mich nach Eurer Unterstützung.“ Monsta plusterte sich auf: „Da brauche ich vorher nicht nur einen Tee, sondern ein ordentliches Käsebrot, sonst geht gar nix.“ Scrabbie quietschte: „Ich kann nicht singen, ich bin im Stimmbruch“. Roland sagte nichts, aber sein Gesicht lief rot an. Mia dagegen blickte strahlend in die Runde: „So lasst es uns doch wenigstens einmal versuchen. Ich wollte schon immer mal singen.

„Vielleicht schlummern in uns verborgene Talente.“

Samantha Sehnsucht freute sich sichtlich: „Das ist die richtige Haltung.“ Sie trat an das Schränkchen in einer der Ecken der Kabine und öffnete die beiden Flügeltüren … Auf dem Weg sahen sie ihn, den dicken Herrn Wunsch, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, ob der wohl hinter dem nächsten Türchen steckte?

Ja, es stimmte, Herr Wunsch steckte hinter dem nächsten Türchen. Aber er wollte einfach seine Ruhe haben, er war so müde und konnte sich wirklich kaum mehr auf den Beinen halten. Er hatte genug. Alle hatten sie Wünsche über Wünsche, wollten dies und wollten das oder doch lieber was anderes. Das ganze Jahr ging es so, Geburtstagsgeschenke, Ostergeschenke, Valentinsgeschenke und was es nicht noch für Gelegenheiten, um etwas zu schenken und sich etwas zu wünschen. Es wurde jedes Jahr schlimmer und im Advent war es ganz, ganz furchtbar. Es quietschte und pfiff in seinen Ohren. Das waren die Stimmen und Gedanken der Menschen, die sich gerade etwas wünschten. Herr Wunsch stemmte sich von innen gegen die Tür, damit ja niemand hereinkam. Auch wenn er wusste, dass ihm das nichts nützen würde. Sich selbst konnte er keinen Wunsch erfüllen, sonst hätte er sich schon lange mindestens ein Jahr Pause vom Wunsch erfüllen gewünscht.

Da hörte er das Jauchzen von Scrabbie und irgendwie schien es ihm, dass damit auch das Quietschen in seinen Ohren etwas weniger wurde. Er lächelte in sich hinein und fühlte sich gleich nicht mehr gar so verzagt. Vielleicht würde ja doch noch ein Wunder geschehen und irgendwer sich etwas wünschen, das von Herzen kam, allen Menschen diente und nichts mit Materiellem zu tun hatte.

Da klopfte es an seine Tür. Sollte er öffnen? Oder sollte er sich einfach hinter das 24. Türchen schleichen und sich dort bis Weihnachten verstecken? Mhmm, das war nun die Frage. Nein, das konnte Herr Wunsch niemanden antun, er war ja gewissenhaft und pflichtbewusst. So richtet er seinen Anzug, fuhr sich nochmals durch sein Haar, öffnete die Tür einen Spalt und stand Scrabbie gegenüber.

Türchen 11:

“Sind Sie Herr Wunsch?”, fragte Scrabbie und blinzelte. Vor ihr stand ein rundlicher Herr in einem Anzug aus Lametta. Das einzige an ihm, was nicht silbrig, golden, rot und blau glitzerte, waren seine riesigen rosa Elefantenohren.

“Ja, der bin ich”, sagte er und schlackerte mit seinen Ohren, als wolle er lästige Fliegen vertreiben.

“Dieses Wunschgesumme macht mich noch wahnsinnig”, murmelte er.

“Aber auch dir werde ich mein Ohr leihen, mein Kind. Flüstere nur deinen Wunsch hinein”, sagte er mit tiefer Bauchstimme. Scrabbie beugte sich vor bis ihre Lippen fast sein linkes Ohr berührten, das aus der Nähe wie ein platter Marshmellow aussah. Sie flüsterte ihren Wunsch in dieses rosa Ohr. Herr Wunsch verzog keine Miene, aber sein Ohr wedelte – vielleicht vor Freude.

“Die Zeit ist um, ihr müsst gehen, die nächsten Wunsch-Besteller sind an der Reihe”, drang plötzlich eine scharfe Stimme durch die Kabine. Scrabbie drehte sich erschrocken um und da stand eine Frau mit der Figur einer Sanduhr. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, ihre Brust war eine Glasvitrine und im Innern sah man anstelle des Herzens das runde Ziffernblatt einer Uhr, deren Zeiger sich so schnell wie eine Karussell drehten.

“Aber meine anderen Freunde haben ihre Wünsche noch gar nicht sagen können”, protestierte Mia.

“Wer sind Sie überhaupt?”

“Ich bin Helga Hektik. Ich sorge für die Wunsch-Optimierung”, sagte die Uhrenfrau.

“Mir wird ganz schlecht von dem Minutenzeiger, der hat sich schon 7 Mal um sich selbst gedreht”, jammerte Monsta und raufte sich sein strubbeliges Bauchhaar. Herr Wunsch legte seine Ohren an und verkroch sich wieder hinter seinem Türchen Nr. 10.

“Ihr hättet ein Online-Ticket für die Wunschsprechstunde lösen müssen”, sagte Helga Hektik mit Automatenstimme.

“Wenn ihr euch für den Newsletter vom Advents-Adventure-Land registriert hättet, würdet ihr sogar einen Extra-Wunsch (ohne Umtauschrecht) bekommen. Aber hier einfach so herein zu platzen…”

“Wir sind für das Weihnachtkonzert eingeladen” verteidigte Scrabbie ihre Freunde. Sie blickte sich suchend um, aber wo zuvor Kammersängerin Sehnsucht geschwebt hatte, hing nur noch eine Puderzuckerwolke in der Luft.

“Hinaus mit euch! Schnell schnell, die Zeit hält nicht für euch an”,

“Deine Uhr läuft zu schnell”, plärrte Monsta während die Uhrenfrau ihn unsanft aus der Kabine drängte und die Tür zuknallte.

Die Freunde fanden sich in einer dämmrigen Eingangshalle mit zerbrochenen Fensterscheiben wieder, durch die der Wind einige Schneeflocken herein blies.

“Wo ist Roland?”, rief Scrabbie. Die Freunde blickten sich um, aber Roland war nirgends zu sehen.

Und hier, bei Anneliese – öffnet sich morgen das 12. Türchen.

 

Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta – Türchen 4

Willkommen zu Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta. Auch in diesem Advent gibt es wieder eine spannende Gemeinschaftsgeschichte. Was bisher geschah (in kursiv):

Ich rüttelte ihn unsanft wach. Er hatte es schließlich versprochen, hoch und heilig hatte er es versprochen. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich versuchte ihm den Teebeutel unter dem Arm wegzuziehen.
„Hey, du bist dran!“, rief ich noch einmal.
„Was, was ist los?“, fragte er, noch völlig verschlafen und von nix eine Ahnung.
„Du bist dran mit dem 2. Türchen und das schon seit Stunden!“, schimpfte ich.
„Aber, ich entspanne doch gerade so schön mit meinem Teebeutel!“, beschwerte sich Monsta und gähnte. „O.k., ich bin ja gar nicht so. Also, ich öffne jetzt das 2. Türchen und dann kann es endlich losgehen mit der Geschichte, oder?“ Er ließ seinen Teebeutel in der Tasse, stieg teenass aus der Tasse und kletterte, kleine Pfützen hinterlassend, durch das Fenster.
„Ich mache das Türchen von der anderen Seite auf!“, rief er und rüttelte an dem 2. Türchen, Nichts. Er rüttelte weiter.
„Es klemmt!“ Rütteln. Nichts. Rütteln. Nichts.
„Vorsicht, ich nehme Anschwung. Geh lieber zur Seite!“ Ein lauter Knall und Monsta flog mit dem zweiten Türchen herüber zu mir. „So, das Türchen wäre soweit!“, grinste er und schüttelte sich.
Ich lachte. Die Geschichte brauchte noch ein wenig, um sich von dem Schreck zu erholen, als sie so plötzlich im Raum stand, aber bis morgen wird sie sich erholt haben.

Wenn eine Tür zu klemmt oder sich nur mit ganz großer Kraftanstrengung öffnen lässt, ist es besser, sie geschlossen zu lassen und eine andere zu öffnen. Das passt doch besonders gut in die Adventszeit. Da entlanggehen wo es leicht ist… statt dessen machen wir uns das Leben oft schwer. Adventszeit heisst doch still werden, das Gute erwarten, behutsam vorangehen. Und was machen wir? Wir kämpfen immer mal wieder gegen das was ist. Nun ja, Monsta wollte nun mal unbedingt dieses Türchen öffnen. Und ja, es war dann ja auch genau richtig. Manchmal lohnt sich ja zu kämpfen. Genau hinter diesem Türchen verbarg sich nämlich eine Wortwolke, die wie geschaffen schien, um daraus eine wunderbare Geschichte für alle Monstas und Mias und alle anderen kleinen und großen Menschen zu erzählen. Da standen in krakliger Schrift viele gute Zutaten für eine wirkliche Adventskalendergeschichte: Wünsche, Advent, Weihnachten, Liebe, Frieden, Sehnsucht, Türen, Engel, strahlen, Freundschaft, Mysterium. „Schnee“ und „Winter“ lies sich nur ganz knapp entziffern. Einige weitere Worte waren gänzlich verwischt, man konnte sie nicht entziffern. Auch wenn Monsta sich noch so anstrengte… Aber er hatte ja selbst noch so viele Ideen mehr…

Türchen 4:

Monsta und Mia schauten mit aufgerissenen Augen auf ihren Gast, der sich in einer geschmeidigen Bewegung aus der Teepfütze erhob und nun in Form einer Kartoffeln vor ihnen saß. Sein Körper sah aus wie ein durchsichtiger Wackelpudding, in dessen Innern kleine Lichtpünktchen in Grün und Gold aufblinkten, wie bei einer phosphoreszierenden Alge.

“Haaatschiiiii”, machte das Wesen und schoss dabei in die Höhe wie eine Gurke und blinkte hellgrün auf. Dann sackte es wieder in sich zusammen und sah jetzt wie eine zitternde Birne aus.

“Entschuldigung, dass ich hier so mit dem Türchen ins Haus gefallen bin. Darf ich mich vorstellen: Ich bin das Mysterium”, sagte das Mysterium.

“Ah, bist du unsere Adventsgeschichte?”, wollte Monsta wissen und grinste verschmitzt mit allen seinen fünf Zähnen.

“Ich bin die Pointe der Geschichte”, sagte das Mysterium und leuchtete golden auf.

“Aber ich habe mich leider in der Tür geirrt und bin viel zu früh dran. Ihr hattet es so eilig.”

“Was machen wir nun mit dir?”, fragte Mia.

“Ihr könnt mir helfen, die anderen Figuren der Geschichte suchen zu gehen. Sie sind beim schwungvollen Türchen öffnen von der Fensterbank nach unten in den Schnee gefallen.”

“Nach wem sollen wir denn Ausschau halten?”, fragte Monsta und strubbelte sich voller Tatendrang mit seinen kleinen Händen im Zottelhaar.

“Der Prolog hatte schon seinen Auftritt, den müsst ihr nicht mehr suchen. Haltet die Augen auf nach Fräulein Freundschaft und Kammersängerin Sehnsucht. Herr Winter hat ziemlich frostige Manieren, aber vielleicht findet ihr noch heraus, was man tun muss, damit er auftaut.”

“Bin schon unterwegs”, rief Monsta und wollte losfliegen…

Und hier, bei Sonja, öffnet sich morgen das 5. Türchen.

Am Tag 26 im National Novel Writing Month – Auf einer Kitschwelle ins Ziel

Heute ist Tag 26 und ich bin auf der Zielgeraden! Gestern kurz vor Mitternacht habe ich die 45.992 Wörter voll geschrieben. Also nur noch 4.008 Wörter (sagt mein treuer Freund der Taschenrechner) bis ins Ziel am Freitag. Zum Glück bin ich seit meinem letzten Blogeintrag vor zwei Wochen besser in den Schreibfluss gekommen und musste mich nicht mehr ganz so stark antreiben – obwohl das Wörterpensum jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung ist.

Alle Höhepunkte meiner Geschichte sind erzählt. Natasha und Robert haben sich aus dem Aufzug befreit, in dem sie zusammen feststeckten – dabei gab es Wortduelle und körperliche Annäherung (okay, “Räuberleiter” ist jetzt nicht der Inbegriff von Erotik, aber immerhin). In ihren Szenen sind die Widersacher – der unsympathische Personaler Waidemann und Roberts diktatorischer Chef Herr von Auerstedt zwar aufgetreten – aber eher als zahnlose Tiger. Hollywood Bösewichter gehen anders…

Die Millionärsgattin Gabriele, die den Stromausfall genutzt hat, um ein Dessous zu stehlen, wurde im Parkhaus vom 17-jährigen Fahrradkurier Yul (und Gelegenheitsdrogendealer) gestellt und erpresst. Später sind sie sich im Rothschildpark schicksalhaft ein zweites Mal begegnet – dieses Mal in umgedrehtem Machtverhältnis – Blut und Tränen sind gelaufen.

Jetzt bleibt mir nur noch, das rührselige Finale für mein Liebespaar zu schreiben – Kitsch-Alarm!

Eigentlich ist Jane Austen mein großes Vorbild in romantischer Romanliebe, aber ich fürchte, mein Paar hatte zu wenige Hindernisse auf dem Weg zum Happy End. Ich habe den Verdacht, bei mir klingt es mehr nach Rosamunde Pilcher, wo man schon von der ersten Sekunde an weiß, wer zusammen kommt. Aber da Millionen von Leserinnen zu Pilcher geseufzt haben, ist das Strickmuster vielleicht nicht das Schlechteste.

Bei Gabriele und Yul schwebt mir für den Ausklang vor, dass sie durch ihre Begegnung verändert und geläutert sind. Noch mehr gefühliges Pathos.

Meine größte Sorge ist, dass ich nicht mehr genug Stoff habe und spätesten am Mittwoch alles überdeutlich ausgewalzt und nichts mehr zu erzählen habe. Wie fülle ich bloß die Seiten? Immerhin bleibt mir noch meine Nebenfigur, der Wiener Herr im weißen Anzug, der Briefe an seine “Geliebte Claudette” schreibt. Den hatte ich in letzter Zeit links liegen bzw. in der U-Bahn feststecken lassen, kurz vor dem Zoo – vielleicht kann ich noch einen Raubtierangriff einbauen für ein bisschen mehr Spannung oder wenigstens ein possierliches Tierchen durch die Szenerie hüpfen lassen. Ihm kann ich noch einen Schreibtag widmen.

Außerdem habe ich eine Rubrik “Aus dem Äther” – Mikrogeschichten aus den Nachrichten, die sich die Leute schicken. Diese habe ich immer mal zwischen den Kapiteln geschrieben, wenn ich einen “Kater” von einer dramatischen Szene hatte und mich zu nichts Neuem aufraffen konnte.

Heute Abend tippe ich also weiter auf der Tränendrüse herum.

 

 

 

Am Tag 12 im National Novel Writing Month – Wörter wo seid ihr? Blackout im Zwang der Zahlen

Ein Drittel des Weges auf meinem NaNoWriMo-Schreibabenteuer habe ich bewältigt – mit Hängen und Würfen! Noch nie waren 1.667 Wörter (das durchschnittlich zu erringende Tagespensum, damit ich in 30 Tagen auf die Romanlänge von 50.000 Wörtern komme – so ist die Challenge dieses Wettbewerbes mit mir selbst) so schwer zu finden. Wo seid ihr Wörterwellen und Schreibrausch?

Ich frage mich, wie ich das im letzten Jahr so locker geschafft habe, mit Überschuss jeden Tag und leichtem Fluss (zumindest im November – meine Schreibreise ging ja dann noch drei Monate weiter, da wurde der Weg noch steinig).

In der ersten Woche musste ich mich oft mit Stoppuhr (10 Minuten schaffst du, dann Pause) von Etappe zu Etappe hecheln. Auch der Extras-Button (zum Wörter zählen) und mein Taschenrechner sind im Dauereinsatz: “Oh mein Gott, wie viel noch, habe ich es endlich geschafft???”

Liegt es am vielleicht Stoff?

Blackout” nenne ich meinen Roman. Ich fürchte, dieser Titel ist in meinen Schreibprozess durchgesickert und zieht dort schwarze Fäden in meinen Gedanken.

Meine Geschichte baut auf den 15 Romanseiten auf, die ich im August in der Romanwerkstatt im Studium geschrieben habe. Die Handlung spielt an einem heißen Julitag – am Freitag, den 13. (den gab es wirklich dieses Jahr) in Frankfurt am Main – kurz nach 14 Uhr fällt in der ganzen Stadt der Strom aus (für mehrere Stunden). Der neue EZB-Wolkenkratzer ist einer der dramatischen Handlungsorte.

Inspiriert zu diesem Romansetting hat mich der große Stromausfall am 13. Juli 1977 in New York City – eine der dunkelsten Stunden der Stadt mit Plünderei und Gewaltausbrüchen. Ich finde es sehr reizvoll, Figuren unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Temperamente in dieser menschlichen und zivilisatorischen Extremsituation aufeinander prallen zu lassen. Wer handelt heldenhaft, wer schurkenhaft?

In meiner Geschichte wird zwar auch Blut fließen, aber im Zentrum steht die Romantik. Im Moment des Stromausfalls führt das Schicksal (ich) die schlagfertige Putzfrau Natasha und den zurückhaltenden Banker Robert im Fahrstuhl zusammen. Sie müssen sich aus der Falle befreien und kommen sich dabei näher.

Außerdem gibt es noch die Milionärsgattin Gabriele von Auerstedt, die im Moment des Stromausfalls in einer Umkleidekabine steht und spontan zur Dessous-Diebin wird. Dabei wird sie vom Fahrradkurier Yul beobachtet, ein 17-jähriger lebenshungriger Junge aus dem Rotlichtmilieu, der von einem besseren Leben träumt.

Dann gibt es noch den älteren Herrn aus Wien im weißen Anzug (bankrott und bigott), der die Asche seiner toten Frau in einer Lebkuchendose mit sich herum trägt und einen fatalen Plan verfolgt. Soweit, so gut.

Als ich am  1. November mit dem Schreiben begonnen habe, wollte ich nicht dort fortsetzen, wo meine Romanseiten endeten (im Moment des Stromausfalls), sondern noch eine wenig zurück gehen und mir mehr Zeit zur Einführung meiner Figuren geben. Die fertigen Seiten (die ich nicht in meinen NaNoWriMo-Wordcount mit einrechne – das ist Ehrensache) sind wie der Rohbau – dort habe ich sehr konzentriert auf wenig Raum die Charaktere aufgebaut – den ich in den letzten 11 Tagen von innen ausgestattet habe – zuweilen mit viel Detailliebe und überflüssigem Stuck.

Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Figuren erst noch in ihrem Alltag zeigen möchte, bevor ich sie in die Ausnahmesituation des Stromausfalls stürze.

Also habe ich mich ausschweifend jeder Figur zugewandt: Natasha beim abendlichen Putzen (u.a. tauscht sie versteckte romantische Zettelbotschaften mit dem Inhaber eines der Büros aus, beide wissen nicht, wer der geheimnisvolle Schreiber ist – Spoiler Alert: es ist Robert), Robert beim Frühstücken und mit dem Fahrrad zur Arbeit fahrend, dem Wiener anreisend und Gabriele im Schönheitssalon.

Das klingt so, als wäre mir das leicht von der Hand gegangen. Fehlanzeige. Ständig ermahne ich mich beim Schreiben “show, dont’t tell”. Diese goldene Regel habe ich tausendmal gebrochen. Ich bin eine echte Plaudertasche und erkläre ständig die Gedanken und Motivationen meiner Figuren, auch wenn ich versuche, sie wenigstens in Dialogen (wenn schon nicht mit Handlungen) zu zeigen.

Als Erzählperspektive habe ich den Personalen Erzähler gewählt und wechsele zwischen der Sicht von Natasha, Robert, Yul und Gabriele. Ich drifte gefährlich nahe an den Allwissenden Erzähler, was ich vermeiden möchte.

Für den Wiener im weißen Anzug (der in den Action-Szenen aus der Sicht Dritter gezeigt wird und eher unsympathisch rüber kommt) habe ich mir den Trick überlegt, dass ich seine Innenwelt in Briefform sichtbar mache. Wieder ganz und gar “telling” – er sitzt im Zug und schreibt einen langen Brief an “Meine geliebte Claudette” – das habe ich an Tag 3 geschrieben, als ich um jedes Wort gerungen habe, um meinen Wordcount zu schaffen (habe nach 557 Wörter kapituliert).

Ja, die Statistik sitzt mir im Nacken. Die Disziplin ist das oberste Gebot. Ich zwinge mich, an jedem Tag zu schreiben (meistens zwischen 21 Uhr und Mitternacht, wenn es kein “später” mehr gibt). Ich lasse keine Ausreden gelten. “Heute lasse ich es sein, dann schreibe ich morgen eben das Doppelte”, gibt es nicht. Die Aufholjagt ist Stress pur – selbst, wenn mir nur ein paar hundert Wörter fehlen. An Tag 3 und Tag 7 habe ich mich zu 557 und 432 Wörtern gequält (immerhin), dafür an anderen Tagen 2.400 Wörter geschafft. Ich versuche jedoch, den Durchschnittslevel zu halten (1.700 pro Tag wären ideal, mit Mini-Polster).

Hier meine aktuelle Statistik. In der Zeile “At This Rate You Will Finish On” steht nun endlich der 30. November. Bis vor 2 Tagen war es der 3. Dezember – too late! – Panikaufwallung.

Genug der Worte? Mein obiges Lamento hat 899 Wörter (das wäre schon über die Hälfte meines heutigen Tagespensums) – ach, ich glaube, ich leide an einer word-count-compulsion – einem Schriftstellerzwangsstörungszahlensyndrom…

Jetzt möchte ich euch noch eine Leseprobe gönnen. Ich hatte letzte Woche ein intensives Vorstellungsgespräch und habe daraus jede Menge Tintensaft gesogen. Die Fragen des Interviewers sind mir echt so gestellt worden – ihr werdet sehen, wie meine Romanheldin Natasha damit klar kommt.

Übrigens neben dem Briefschreiben eine weitere Selbstaustricksung: Wenn ich meiner Erzählerstimme schon das Schwafeln verbiete (show show show), dann lasse ich meine Figur im Job Interview einfach ihre Lebensgeschichte erzählen. Mein innerer Kritiker soll sich halt bei Natasha beschweren.

 

 

Gespenstersolitüde

Winde heulen

eine Diele knarrt

eine Tür schlägt zu

im Schloss von Tudory

 

Eine Uhr schlägt Zwölf

ein Vorhang bläht sich

ein Gespenst erwacht

im Schloss von Tudory

 

Seine Kunst ist ausgefeilt

griffbereit sind seine Requisiten

es senkt den Schauerschleier das

Gespenst von Tudory

 

Es klappern gelbe Zähne

ohne Lippen ohne Blut

Bühne frei für das

Gespenst von Tudory

 

Im Mondschein glitzert Staub

auf geheimen Gängen

geht mit Kettenrasseln das

Gespenst von Tudory

 

Es lässt die Kerzen flackern

mit seinem kalten Hauch

wer spürt es voller Furcht

im Schloss von Tudory

 

Versteinerte Gesichter

zeigen keine Regung

auf der Ahnengalerie

im Schloss von Tudory

 

Grausig tut es seine Pflicht

geistert Nacht um Nacht

doch niemand sieht es das

Gespenst von Tudory

 

Längst verhallt sind

schrille Schreckensschreie

der Marquise von Albury

im Schloss von Tudory

 

Längst verblichen sind

Grimassen des Entsetzens

vom Gesicht des Grafen Ginsbury

im Schloss von Tudory

 

Sehnend lauschend schleppend

zieht es durch leere Gemäuer

sein Kostüm in Fetzen das

einsame Gespenst von Tudory

Hans im Glück – eine Aussteigergeschichte über heitere Besitzlosigkeit

Hans im Glück ist kein typischer Märchenheld, denn er sammelt weder Schätze noch Ruhm an und gewinnt auch nicht das Herz einer schönen Frau. Nein, er ist ein Trottel, der seinen Verdienst der letzten sieben Jahre in kürzester Zeit durch dumme Tauschgeschäfte verliert und mit leeren Händen zu seiner Mutter zurück kehrt – mittellos, aber glücklich. Ist er gerade deshalb ein Vorbild in unserem Zeitalter des Konsumzwangs und der Erfolgsversessenheit?

Seine Geschichte ist schnell erzählt:

Hans war sieben Jahre in der Lehre eines Handwerkers. Zum Abschluss erhält er seinen Lohn in Form eines Goldklumpens von der Größe seines Kopfes. Auf dem Weg nach Hause wird ihm das Tragen beschwerlich und so tauscht er sein goldenes Vermögen gegen ein Pferd ein. Er folgt also einem momentanen Impuls (Bequemlichkeit) und stellt bei diesem Tauschgeschäft keine übergeordnete Wertkalkulation an.

Auf seinem weiteren Weg tauscht er das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen einen Schleifstein. Wir als Leser*innen merken sofort, dass er mit jedem Tauschgeschäft einen herben Verlust macht. Aber Hans ist jedes Mal sehr zufrieden damit.

Wenn Hans selbst seine Geschichte erzählt, klingt sie ganz anders – nämlich so, als seien ihm alle seine Besitztümer geschenkt worden (weil er sie nicht kaufen musste). Das zeigt eindrücklich: Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück – sie sind keine festen Messwerte, sondern Variablen, die alleine von der Perspektive abhängen, aus der man sie betrachtet.

Scherenschleifer: »Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?«

Hans: »Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.« »Und das Schwein?« »Das hab ich für eine Kuh gekriegt.« »Und die Kuh?« »Die hab ich für ein Pferd bekommen.« »Und das Pferd?« »Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.« »Und das Gold?« »Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst. (…) Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, »ich muß in einer Glückshaut geboren sein«, rief er aus, »alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind

Zu Schluss fällt Hans der Schleifstein (der für ihn im Übrigen auch keinen Nutzwert hat, da er dieses Handwerk gar nicht gelernt hat) in einen Brunnen.

»Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihm auf eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte; das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.«

Da kann ich nur Staunen und Schmunzeln. “Frei von aller Last” hallt in mir nach. Ja, das ist ein Wunsch, der wohl in so manchem zeitgenössischen Menschen rumort. Leistungsdruck, Burn-Out, Statussymbole, Konsumterror – das sind die Zeichen unserer Zeit.

Hans ist die Gegenfigur dazu – seine Geschichte die Mutter aller Aussteigerphantasien.

Ja, der naive Hans taugt als Lichtgestalt für alle Menschen, die sich von den Fesseln des Materialismus und der persönlichen Versklavung im Dienste der Karriereleiter befreien möchten.

Geschichten über die menschliche Sinnsuche sind heute allgegenwärtig.

Kürzlich habe ich den Film Into the wild” (2007) gesehen – ein Zivilisationsflucht-Drama, das auf einer wahren Geschichte basiert: Der 22-jährigen Student Christopher McCandless (er nennt sich „Alexander Supertramp“) verlässt nach dem Collegeabschluss 1990 seine Familie, sagt sich von allem Besitz los (spendet sein Vermögen), lässt sein Auto zurück, behält nur die Kleidung auf seinem Körper und einen Rucksack, er wandert und trampt zwei Jahre lang quer durch die USA, dabei begegnet er einigen Menschen, die ihm Formen des Zusammenlebens anbieten, aber für ihn ist die Einsamkeit die erstrebte Lebensform.

Schließlich findet er in der Wildnis von Alaska einen verlassenen Campingbus, in dem er überwintert. Abgeschnitten von der Zivilisation denkt er über den Sinn des Lebens und das Glück nach (braucht man andere Menschen, um glücklich zu sein?). Aber die materiellen Bedürfnisse des Menschen werden ihm zum Verhängnis: Er leidet Hunger und stirbt im Laufe des Winters an Auszehrung und an einer Lebensmittelvergiftung (1992). Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass er kurz vor seinem Tod zu der Erkenntnis gelangt sei, dass man nur glücklich wird, wenn man das Glück mit Anderen teilen kann.

Demnächst kommt der Film “100 Dinge” (von und mit Florian-David Fitz und Matthias Schweighöfer) ins Kino, in dem zwei Männer aufgrund einer Wette alle ihre Besitztümer aufgeben und jeden Tag eines davon zurück bekommen können. In diesem Experiment lernen sie den wahren Wert von Glück kennen. Hier geht es um Besitzlosigkeit, Konsumverweigerung und die Frage, was der Mensch für sein Glück braucht. Die zwei Typen hätten Hans im Glück bestimmt in ihre WG aufgenommen.

Unser Hans jedoch stürzt sich nicht völlig ins materielle Nichts – er kehrt heim an den warmen Ofen seiner Mutter. Diese stelle ich mir als gutmütiges Weiblein vor, die halb blind bei Kerzenschein bis tief in die Nacht Handarbeiten macht, um ihren trotteligen Sohnemann zu ernähren.

“Hans im Glück” lässt uns nachdenken darüber, was du und ich brauchen, um glücklich zu sein. Welche materiellen und immateriellen Dinge sind es? Im Fall von Hans scheint es seine optimistische Weltsicht zu sein, sein Leben im Augenblick und sein Vertrauen in ein liebevolles soziales Umfeld. Er ist frei von Erwartungsdruck. Hans’ Glück entspringt seiner inneren Einstellung.

Wie ihr euch denken könnt, juckt es mir in den Fingern, zu diesem Thema meine eigene Märchen-Interpretation zu schreiben.

Holla – da ist mein Märchen schon fertig: Sieben Seiten gefüllt mit Buchstaben. Puh, dauert das Korrigieren aber lang. Ein komischer Vogel besucht mich und bietet mir an, meinen Text gegen einen Tweet zu tauschen. Super: 140 Zeichen leichtes Leseglück. Dann knurrt mein Magen. Kollege Knorr kommt des Wegs und bietet mir an, den Tweet gegen eine Buchstabensuppe zu tauschen. Ein Handel ganz nach meinem Geschmack: In meiner Suppe schwimmen Dutzende von Buchstaben, ich werde satt davon. Wie schön, dass ich mein Märchen jetzt gestärkt noch mal schreiben darf!

Die Buchstaben bleiben dann hoffentlich in meinem Besitz, so dass ihr sie nächste Woche hier lesen könnt.

Die Erfolgsgeschichte der Täuschung – gut gelogen ist halb gewonnen

“Lügen haben kurze Beine!” Nicht im Märchen! Dort stecken sie in Stiefeln und bringen den Märchenhelden ganz nach oben. So in »Der gestiefelten Kater«. Dieser gut gekleidete Kater ist ein wahres Marketinggenie und sollte jedem Salesman des 21. Jahrhunderts Modell stehen. Im Handumdrehen bzw. Zungeumdrehen schafft der pelzige Stiefelträger es, seinen Herrn vom armen Schlucker zum Großgrundbesitzer, Schlossherrn und Prinzgemahl zu erheben.

Zur Erinnerung: Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne. Als dieser stirbt, teilen sich die drei Söhne die Erbschaft: der älteste bekommt die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater. Der Kater ist gut im Mäuse fangen, aber damit kann der jüngste Sohn wenig anfangen. Er überlegt, sich vom Fell des Katers ein Paar Pelzhandschuhe machen zu lassen. Der Kater ist klug und hält ein Plädoyer um sein Leben:

»Hör, du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; laß mir nur ein Paar Stiefel machen, daß ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein.«

Der Müllerssohn gibt dem Vorschlag aus einem Impuls heraus nach und bald schon marschiert der Kater aufrecht und gestiefelt in die Welt, um für seinen Herrn Werbung zu machen.

Er kümmert sich bestens um die Public Relations, indem er dem amtierenden König Rebhühner als Geschenk seines Herrn bringt, den er als “Graf” betitelt. Zum Dank sendet der König dem falschen Grafen säckeweise Gold. Aber Zahlungsfähigkeit alleine ist für den Müllersgrafen nur der erste Schritt seines Aufstiegs. Der clevere Kater weiß: Wer ein großer Mann werden will, braucht Statussymbole und eine gesellschaftliche Stellung. “New Money” hat sich schon immer mittels Ehe in den Hochadel eingekauft.

Wie in einer Reality Soap (selbstverständlich mit Drehbuch) lässt der Miezemeister der Illusion den Müllerssohn nackt in einem See baden und versteckt dessen armseligen Kleider. Als der König in seiner Kutsche vorbei gefahren kommt, erzählt der Kater ihm eine Räuberpistole und der König glaubt alles. Er kleidet den ausgeraubten Grafen (den er als Spender der Rebhühner schätzt) in prächtige Gewänder und lässt ihn in sein Luxusgefährt einsteigen, wo just auch die Prinzessin sitzt.

Jetzt zieht der gestiefelte Kater alle Register einer guten Imagekampagne auf.

So wie Donald Trump sich dreist in die Liste der 400 Superreichen des US-Magazins “Forbes” geschummelt hat (indem er das Vermögen seines Vaters als sein eigenes deklariert hat), trägt der Kater die Täuschung wie ein Banner vor sich und seinem Herrn her: Er beeinflusst die öffentliche Meinung mittels einer Flüsterkampagne – in Zeiten von Social Media würden seine “alternativen Fakten” und “fake news” von unzähligen Followern geteilt werden: Der PR-Kater setzt die Lüge in die Welt, die Wiesen, der Wald, das Schloss (die in Wahrheit alle einem Zauberer gehören) stünden im Eigentum seines Grafen. Die leichtgläubigen Leute geben diese Nachricht ungefiltert an den König weiter, der keine Zweifel an der Echtheit dieser Aussagen hegt.

Mit List bringt der Kater den Zauberer um (als jener sich in eine Maus verwandelt, kann der Kater nochmals auf seine Kernkompetenz zurück greifen) und enteignet ihn somit seiner Habe.

Der Müllerssohn tritt nun als Graf in das unrechtmäßig ergaunerte Gut ein und ist prompt der perfekte Heiratskandidat für die Königstochter. Bald schon ist er selbst König und der gestiefelte Kater wird sein erster Minister.

Was für eine Erfolgsgeschichte! Und alles dank Lüge (der PR-Kater würde es “List” nennen) und Täuschung (“aktive Imagepflege”).

In einigen Märchen finden sich noch weitere Lehrstücke, wie unehrliches Verhalten belohnt wird. So zum Beispiel in »Das tapfere Schneiderlein«. Der Schneider erschlägt sieben Fliegen mit einem handelsüblichen Tuchlappen. Diese Alltagstat bauscht er zur Heldentat auf, indem er sich einen Gürtel (man denke an asiatischen Kampfsport) anlegt, den er mit der Aufschrift “Sieben auf einen Streich” bestickt.

Diese Übertreibung im Dienste der Selbstvermarktung wird fortan sein Wahlspruch. Im Verlauf der Geschichte erliegt so mancher Gegner dieser vorgetäuschten Heldentat und prüft sie nicht auf ihre Substanz. Stiftung Tapferkeitstest gab es offenbar noch nicht.

Auch die praktische Täuschung beherrscht das “tapfere” Schneiderlein bestens: Er zerquetscht Käse in seiner Hand, den er für einen Stein ausgibt und er besiegt zwei Riesen, indem er sie gegeneinander aufbringt und sich gegenseitig zerfleischen lässt (so mancher Politiker mag diese Taktik bewundern).

Inspiriert von diesen Lehren gibt es nun mein neustes Märchen:

Der geföhnte Pudel oder Sieben Lügen auf einen Streich

Darin werdet ihr sehen, wie lange die  Lügenbeine tragen und was den Protz zum großen Mann werden lässt…

Ein gewisser Kater schaltet sich ein und übernimmt die Ankündigung:

OUT NOW:  Die sensationelle Neuerscheinung steigt gleich in die TOP 7 der All-time-Märchen-Favoriten ein.

(Räusper) Leider zurzeit nicht lieferbar, da noch nicht geschrieben. Vorbestellung jederzeit möglich.

Coming soon…

Out NOW (really – as of Oct. 7, 2018): 

Der geföhnte Pudel oder Mit Siebenmeilenstiefeln zur wahren Größe

Märchen auf den Kopf gestellt – nicht von guten Eltern

Die Märchenwelt steht Kopf. Marie ist keine schöne Prinzessin, sondern ein ungeliebtes dickes Kind, das mit Vorliebe die Gestalten in ihrem Märchenbuch mit ihren Filzstiften tyrannisiert. Als sie plötzlich selbst in der Märchenwelt landet, wird sie mit ihrer eigenen Not konfrontiert – hierbei sind der hungrige Wolf und der ungeküsste Frosch das kleinste Problem.

“Marie mag keine Märchen” habe ich gestern fertig geschrieben und bei einem Wettbewerb eingereicht. Die Vorgabe lautete, bekannte Märchen neu zu erzählen (“die ganze Wahrheit”).

Bei der Ideensuche für meine Geschichte habe ich die altvertrauten Grimm’schen Märchen wieder gelesen und nach übergreifenden Themen und Verbindungen gesucht. Was treibt die Figuren an und warum kommen sie in Schwierigkeiten?

Es sind Hochmut, Eifersucht, Eitelkeit, Ungehorsam und Übermut, die die Märchenwesen in die Bredouille bringen und die bösen Stiefmütter und Hexen zu ihren Intrigen und Zaubereinen anstacheln.

In “König Drosselbart” ist die Prinzessin hochmütig, indem sie die Prinzen verspottet und abweist, die um sie werben.

Hänsel und Gretel sowie Rotkäppchen kommen aus Ungehorsam im wahrsten Sinne des Wortes vom Weg ab und müssen dafür bezahlen.

Die Eitelkeit und die Eifersucht treiben die Stiefmutter von Schneewittchen und die Schwestern von Aschenputtel dazu an, diese guten Mädchen ins Unglück zu stürzen.

Sind die Heldinnen und Helden erst einmal in Schwierigkeiten – entweder wegen ihres schlechten Charakters oder durch ihre Neider – müssen sie sich schweren Prüfungen stellen, sich behaupten, Buße tun und geläutert werden, um zum guten Schluss belohnt zu werden.

Ein gutes Beispiel für die Belohnung einer guten Tat findet sich im “Gestiefelten Kater”, wo der jüngste Sohn seinen geerbten Kater nicht zu Handschuhen verarbeitet, sondern das Tier am Leben lässt, das wiederum mit Witz und Betrug dafür sorgt, dass sein Herr zum reichen Landbesitzer und Prinzgemahl wird.

Aber ist das schon das ganze Rezept? Ich drehe und wende die Geschichten und richte meinen Blick auf die Eltern-Figuren. Sind es nicht die nachlässigen Eltern, die Hänsel und Gretel in den dunklen Wald schicken?

Ist es nicht der grausame Vater in “König Drosselbart”, der die Selbstbestimmung seiner Tochter unterdrückt (hat sie nicht das Recht, einen Brautwerber abzulehnen?) und sie zur Strafe dem nächstbesten Bettler mitgibt?

Warum strengt sich der Vater von Dornröschen nicht mehr an, die 13. Fee zum Fest einzuladen (ein zusätzlicher goldenen Teller ließe sich im Königreich doch wohl auftreiben)? Warum setzt sich der Vater von Aschenputtel nicht mehr für seine Tochter ein? Väter schrecken auch nicht davor zurück, ihre Söhne im Kampf um das Erbe gegeneinander antreten zu lassen (“Die drei Brüder”, “Die drei Federn”). In “Tischlein deck dich, Goldesel, Knüppelausdemsack” glaubt der Vater eher dem Lügengemeckere der Ziege, als den wahren Worten seiner drei Söhne und jagt sie einen nach dem anderen mit Schlägen aus dem Haus.

Ganz evident ist das Versagen der Mutter in Rapunzel (die in der psychologischen Deutung mit der Zauberin, die Rapunzel im Turm gefangen hält, identisch ist). Von grausamen Stiefmüttern brauche ich gar nicht erst anzufangen – in “Schneewittchen” kann man über die fantasievolle Bandbreite an Mordanschlägen auf die Stieftochter staunen (vom Jäger erschießen lassen und Lunge und Leber zum Beweis ausweiden, Erwürgen mit Halskette, mit Apfel vergiften).

Alle Eltern, die in Märchen vorkommen, versagen in ihrer elementaren Aufgabe, ihre Kinder zu beschützen und gut für sie zu sorgen. Oft ist es erst diese Vernachlässigung, die die Kinder in ihre Notsituationen stürzt.

Das bringt mich dazu, die Prämisse des Märchens als Erziehungsstück für Kinder auf den Kopf zu stellen. Wie wäre es, wenn im Märchen mal die Eltern geprüft, geläutert und erzogen würden?

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf lade ich euch nun ein, mein Märchen-Remix von Marie zu lesen. Ihr werdet bestimmt einige bekannte Figuren und Themen wieder erkennen.

Marie mag keine Märchen

C – China – Das Land des überwachten Lächelns

Wie weit weg sind wir noch von der totalen Überwachung? Längst bin ich daran gewöhnt, dass Google, facebook und Co. meine Wünsche besser, als ich selbst voraus sieht, weiß, wen ich kenne und wen ich kennen lernen möchte. Kürzlich habe ich eine neue Bekanntschaft gemacht – natürlich im world wide web – mit einem Artikel über die Gesichtserkennung im Klassenraum in China. In einer Schule in Hangzhou hängen drei Kameras über der Tafel und zeichnen die Mimik der Schüler auf, dabei identifiziert die Software 7 verschiedene Emotionen. Ist ein Kind unaufmerksam, meldet der Computer das der Lehrerin. Diese dystopische Aktualität hat mich zum folgenden Gedicht inspiriert.

Das Land des überwachten Lächelns
(Hangzhou)

Chinesische Kinder sind glücklich

glücklicher, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind traurig

trauriger, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind verärgert

verärgerter, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind abgeneigt

abgeneigter, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind überrascht

überraschter, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind neutral

neutraler, als anderswo

 

Chinesische Kinder haben Gefühle

sieben Arten, so wie anderswo

 

Ihre Gesichter verraten sie

vermessen und ausgewertet, so wie nirgendwo

 

Drei Kameras wachen über Schüler

überwachsamer, als anderswo

 

Die Erkennungssoftware ist klug

klüger, als anderswo

 

Chinesische Schulen sind fortschrittlich

fortschrittlicher, als anderswo

Noch umfassender ist die Überwachung durch das Sozialkreditsystem in China. Hier steht das Sozialverhalten der Menschen unter Bewertung. Für gutes Betragen gibt es Pluspunkte, für Verfehlungen Punktabzüge. Jeder Mensch ist in eine von 4 Klassen eingeteilt (A bis D), je nach Punktestand. Wer nicht in A ist, wird nicht befördert, wer in C abrutscht, wird zusätzlich kontrolliert und wer auf D abgesunken ist, bekommt keine Wohnung, keine Kredite, keinen Job und darf nicht mehr ins Ausland fliegen. Klingt nach George Orwell reloaded?

Ich frage mich, ob wir in Deutschland vor diesem System wirklich sicher sind – wo die meisten Menschen heute schon freiwillig für ein paar Euro ihre Konsumgewohnheiten preisgeben (Payback) und sogar ihre Biodaten per App an ihre Krankenkassen übermitteln würden, damit sie Prämiennachlässe und Boni für gesundheitsförderliches Verhalten (Ernährung, Sport, präventive Zahnreinigung u.a.) bekommen. Vieles, was eigentlich empörend ist, wird mit einem Schulterzucken hingenommen. Macht halt jeder… Solange ich Vorteile davon habe…

Mein folgendes Gedicht trägt den Titel “Rongcheng” – diese Küstenstadt im Osten Chinas gilt als Vorzeigeprojekt des Sozialpunktekreditsystems.

Rongcheng

Sammelst du Sozialpunkte?

an der roten Ampel halten

mit dem Fahrrad fahren

Schulden bezahlen

um die Eltern kümmern

Vater Staat schreibt es dir gut

Steigst auf zur Stufe A

bekommst Kredite

gehörst zur Elite

 

Verlierst du Sozialpunkte?

alleine Auto fahren

öffentliches Ärgernis

Beschwerden einhandeln

demonstrieren

der Staat schreibt es dir an

steigst ab zur Stufe D

bleibst am Boden

Beförderung gestrichen

 

Moral ist unsere Marktwirtschaft

Sozial ist unsere Währung

sei vollkommen

sei willkommen

Abweicher auf’s Abstellgleis

Punkte sind unparteiisch

Belohnung und Bestrafung

so funktioniert

die digitale Diktatur