Muss ich fürchten, als Schriftstellerin von ChatGPT ersetzt zu werden?

Vor kurzem ist das neuste Produkt aus Silicon Valley auf den Weltmarkt entlassen worden: ChatGPT („Generative Pre-trained Transformer“). Diese künstliche Intelligenz (KI) soll Medienberichten zufolge Unheimliches leisten und sogar so manche Zunft, u.a. schreibende Menschen, ersetzen können.

Muss ich um meine Zukunft als Autorin bangen?

Ich habe mir diesen Chatbot am Wochenende mal vorgeknöpft und ihn einigen schonungslosen (har har teuflisches Lachen) Experimenten unterzogen. Hier mein unparteiisches Protokoll:

ICH: Kannst du auch Geschichten schreiben? Bist du ein Schriftsteller?

ANTWORT KI: Als Sprachmodell bin ich in der Lage, Texte in verschiedenen Stilen und Genres zu generieren, einschließlich Kurzgeschichten. Ich kann eine Vielzahl von Geschichten erzählen, die auf verschiedenen Themen und Stimmungen basieren.

Allerdings bin ich kein Schriftsteller im traditionellen Sinne, da ich keine eigenen Ideen entwickle oder persönliche Erfahrungen oder Emotionen in meine Texte einfließen lassen kann. Meine Fähigkeit beruht auf statistischen Mustern, die ich aus großen Textmengen gelernt habe, und ich kann daher nur auf Basis von vorgegebenen Informationen und Anweisungen schreiben.

Nun denn, das sollte er mir beweisen. Ich habe ihn aufgefordert, eine Liebesgeschichte zu schreiben. Hierbei habe ich ihm ein lebensechtes Szenario vorgegeben (ich reise nämlich selbst in 3 Wochen zu den besagten DELIA-Liebesromantagen):

Die verheiratete Liebesromanautorin Imelda reist zur DELIA-Tagung nach Quedlinburg und trifft im Hotel auf den charmanten Kellner Ricardo und gerät in Versuchung, mit ihm eine Affäre zu beginnen.

Hier das Dokument mit meinen Vorgaben und allen Textantworten:

2023-02-26_Liebesgeschichte von ChatGPT_Arabella Meran

DAS SCHREIBT CHAT-GPT (innerhalb weniger Sekunden nach Eingabe der obigen Vorgaben):

Imelda Stern war eine Schriftstellerin, die seit Jahren in einer Ehe mit Torsten, einem langweiligen Beamten, gefangen war. Sie hatte schon lange keinen Sex mehr gehabt und fühlte sich oft vernachlässigt. Als sie die Einladung zu den Liebesromantagen von DELIA in Quedlinburg im Hartz erhielt, beschloss sie, alleine zu gehen und ihre Mann und ihre Tochter Laura zu Hause in Hamburg zu lassen.

Im Hotel Schlossmühle angekommen, traf Imelda ihre Kolleginnen und bekam ihr Zimmer zugewiesen. Schon bei ihrer Ankunft im Hotel fiel ihr der attraktive Oberkellner Ricardo auf, der sie mit seinen nussbraunen Augen und seinem strahlenden Lächeln begrüßte. Imelda spürte eine sofortige Anziehungskraft und fühlte sich von ihm magisch angezogen.

Während des Abendessens verschüttete Ricardo versehentlich die Suppe auf Imeldas Schoß. Sie lachten darüber und begannen sich näher kennenzulernen. Imelda war hin und her gerissen, ob sie eine Affäre mit Ricardo beginnen sollte. Sie hatte Gewissensbisse, aber sie konnte nicht leugnen, dass sie von ihm angezogen war und von erotischen Erlebnissen und großen romantischen Gefühlen träumte. (…)

Während des Experiments habe ich die Handlung der Geschichte vorangetrieben (der Bot stoppt nämlich immer nach 500 Wörtern), indem ich wiederholt weitere Vorgaben zu Plot und Dialog gegeben habe.

ICH: Schreibe weiter. Wie entscheidet sich Imelda?

Imelda war hin und her gerissen, ob sie eine Affäre mit Ricardo beginnen sollte oder nicht. Einerseits war sie von ihm fasziniert und angezogen, andererseits hatte sie Gewissensbisse, da sie verheiratet war und eine Tochter hatte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und die Entscheidung fiel ihr immer schwerer.

Zunächst einmal hat mich die rasende Geschwindigkeit erstaunt. Ich konnte kaum so schnell lesen, wie die Geschichte vor meinen Augen entstanden ist – und ich musste zwischendurch schallend lachen – über einige Ungereimtheiten, aber auch vor Überraschung über eine kleine Pointe im Dialog zwischen den Rivalen:

Ricardo (der Lover): „Ich denke, es ist besser, wenn wir auflegen. Ich wünsche euch alles Gute.“

Torsten (der betrogene Ehemann): „Das kannst du dir sparen.“

Eine fast unheimliche Überraschung war, was der Nachtwächter während der Führung sagt.

ICH: schreibe weiter. Wie läuft die Nachtwächterführung?

Imelda lauschte gebannt den Worten des Nachtwächters, der mit tiefer Stimme von längst vergangenen Zeiten erzählte. Als sie an einem besonders alten Gebäude vorbeikamen, erzählte er, dass hier einst eine berühmte Schriftstellerin gelebt hatte. Imelda spitzte die Ohren und fragte neugierig, wer diese Schriftstellerin denn war. Der Nachtwächter zog eine kleine Schriftrolle hervor und las vor: “Imelda Stern – eine begnadete Erzählerin, die es verstand, ihre Leserinnen und Leser mit ihren Romanen zu verzaubern.”

Imelda fühlte sich geschmeichelt und gleichzeitig unbehaglich. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie später selbst einmal so berühmt sein würde, dass man sie auf Nachtwächterführungen erwähnte?

Mein erstes Erstaunen ist jedoch schnell einiger Unzufriedenheit gewichen.

Zunächst: Die KI schreibt als auktorialer Erzähler. Sie springt mal hier und mal da in die Innensicht, aber die Figuren bleiben mir emotional fremd.

Im ersten Versuch bestand die Geschichte aus reinem “Telling” (und endete auch mitten im Satz und ohne Sinn). Erst auf meine Aufforderung hin hat die KI Dialoge eingebaut. Allerdings gibt es hier nur „Talking Heads“. Nur an zwei Stellen kommt mal was Körperliches vor (über die Wange oder den Kopf streicheln).

Auch die Umgebung wird nicht eingebunden. Obwohl ich mit Quedlinburg einen Schauplatz vorgegeben habe, hat die KI keine spezifischen Straßen oder Häuser eingebaut, sondern nur Allgemeinplätze wie „idyllische Gassen und Fachwerkhäuser“ verwendet.

Sprachlich gibt es viele Wiederholungen und der Wortschatz ist begrenzt und ziemlich alltäglich (keine Individualität, keine eigene Stimme, keine Poesie).

Was die KI überhaupt nicht kann, ist Humor oder gar ein Flirt.

“Hey, du!”, sagte Ricardo und umarmte sie herzlich, als er sie sah. “Ich habe dich vermisst.”

Der Konflikt im Dialog mit Rede und Widerrede gelingt dagegen besser.

In weiteren Versuchen habe ich die KI eine Kussszene schreiben lassen (fand ich ganz nett, aber klischeehaft) .

In einem 4. Versuch sollte die KI eine Liebesgeschichte mit ganz wenigen Vorgaben schreiben.

ICH: Schreibe mir eine romantische Liebesgeschichte von einer Frau, die sich zwischen zwei Männern entscheiden muss. Mit Dialog. Und es soll Humor vorkommen.

Es war ein sonniger Frühlingstag, als Samantha zum ersten Mal auf den charmanten Anwalt Mark traf. Sie hatte ihn auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt, und obwohl sie zuerst unsicher war, ob sie ihn wiedersehen wollte, wurde sie von seiner bezaubernden Persönlichkeit und seinem Sinn für Humor angezogen.

Als sie jedoch den charmanten Arzt Alex traf, der im selben Krankenhaus wie sie arbeitete, wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte. Alex hatte ein Lächeln, das sie schmelzen ließ, und eine ruhige Art, die sie beruhigte, wenn sie gestresst war.

Samantha war verwirrt, und als Mark sie zu einem romantischen Abendessen einlud, wusste sie, dass sie ihm ihre Gefühle gestehen musste. “Mark, ich muss dir etwas sagen”, begann sie. “Ich habe Gefühle für dich, aber es gibt auch jemand anderen, den ich sehr mag.”

Mark war überrascht, aber nicht entmutigt. “Ich verstehe”, sagte er. “Und ich möchte, dass du weißt, dass ich bereit bin, um dich zu kämpfen.” (…)

Hier hat die KI selbständig Figuren und Namen eingebracht: den Anwalt Mark (schlank und schön) und den Arzt Alex (auch schlank und schön). Na, sind das nicht total die Träummänner? Oder eher voller Klischees und ohne Individualität.

ICH: Beschreibe mehr, wie die Leute aussehen. Was für einen Charakter haben sie?

Entschuldigung, dass ich diese Details in meiner vorherigen Antwort ausgelassen habe. Hier ist eine Überarbeitung der Geschichte mit mehr Beschreibungen der Charaktere:

Es war ein sonniger Frühlingstag, als Samantha zum ersten Mal auf den charmanten Anwalt Mark traf. Mark war groß und schlank, mit dunklen Haaren und braunen Augen, die sie in ihren Bann zogen. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der seine eleganten Züge unterstrich, aber er hatte auch eine entspannte Art, die sie sofort beruhigte. Mark hatte einen cleveren Sinn für Humor, der Samantha zum Lachen brachte, und sie fand ihn unglaublich charismatisch.

Als sie jedoch den charmanten Arzt Alex traf, der im selben Krankenhaus wie sie arbeitete, wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte. Alex war groß und gut gebaut, mit dunklen Locken und strahlend blauen Augen, die jedes Mädchen zum Schmelzen brachten. Er hatte eine ruhige, aber bestimmte Art, die sie beruhigte, wenn sie gestresst war, und er hatte ein Lachen, das sie immer wieder hören wollte. Alex war ein leidenschaftlicher Arzt, der sich um seine Patienten kümmerte und sich für das Wohlergehen der Menschen einsetzte. (Text geht weiter wie oben)

Hier habe ich mich bei der KI beschwert und mir mehr Unterscheidbarkeit und Diversity bei den beiden Männerfiguren gewünscht.

ICH: Die beiden Männer sind sich viel zu ähnlich. Ich kann sie nicht unterscheiden.

Es tut mir leid, dass die Charakterbeschreibungen nicht ausreichend waren, um die beiden Männer unterscheidbar zu machen. Ich werde versuchen, sie genauer zu beschreiben:

Mark war ein erfolgreicher Anwalt, der gerne seine Zeit mit Freunden verbrachte. Er war der extrovertierte Typ, der auf Partys gerne im Mittelpunkt stand und sich gerne mit Menschen unterhielt. Sein Selbstbewusstsein war manchmal ein wenig überwältigend, aber er hatte auch ein großes Herz und war sehr aufmerksam gegenüber den Bedürfnissen anderer. Er hatte eine Vorliebe für schnelle Autos und teure Kleidung, aber er war auch ein Mann, der wusste, wie man einer Frau ein Kompliment machte und wie man sie zum Lachen brachte.

Alex war ein leidenschaftlicher Arzt, der viel Zeit damit verbrachte, seine Fähigkeiten zu verbessern und für seine Patienten da zu sein. Er war ruhig und zurückhaltend, aber wenn man ihn besser kennenlernte, zeigte er eine tiefe Intelligenz und einen Sinn für Humor, der unter seiner ruhigen Fassade zum Vorschein kam. Er war ein Mann mit einem großen Herzen und einer starken Verbindung zu seinen Freunden und seiner Familie. Alex hatte ein Faible für das Lesen von Klassikern und das Spielen von Klavier in seiner Freizeit.

Ich hoffe, dass diese Beschreibungen die beiden Männer klarer voneinander unterscheiden und ihre Charaktere besser veranschaulichen.

ICH: Warum sind die Männer immer groß, schlank und gutaussehend? Das ist nicht divers.

Sie haben vollkommen recht. Ich entschuldige mich dafür, dass ich in meiner vorherigen Antwort stereotype Beschreibungen verwendet habe. Es ist wichtig zu betonen, dass das Aussehen und der Körperbau einer Person nicht die einzigen oder entscheidenden Faktoren bei der Beurteilung ihres Charakters und ihrer Persönlichkeit sein sollten. Vielmehr ist es wichtig, Menschen in all ihrer Vielfalt darzustellen, unabhängig von ihrem Aussehen, ihrer Größe oder ihrem Hintergrund. Jeder Mensch hat einzigartige Eigenschaften und Erfahrungen, die sie als Individuen auszeichnen, und es ist wichtig, diese Unterschiede in Geschichten zu berücksichtigen und zu feiern. In Zukunft werde ich mich bemühen, diverse und realistische Charaktere zu erschaffen.

ICH: Dann beschreibe Marc und Alex nun divers.

Natürlich, ich werde gerne versuchen, die beiden Charaktere in einer diverseren Art und Weise zu beschreiben:

Mark war ein erfolgreicher Anwalt mit einem lässigen Kleidungsstil und einem strahlenden Lächeln. Er war ein extrovertierter Mensch, der gerne seine Zeit mit Freunden verbrachte und gute Gespräche führte. Seine Persönlichkeit war sehr zugänglich und er hatte eine Vorliebe für Musik, Kunst und Reisen. Mark war auch ein Mann, der sich für soziale Gerechtigkeit einsetzte und ständig daran arbeitete, die Welt um ihn herum zu einem besseren Ort zu machen. Er war stolz auf seine jüdischen Wurzeln und engagierte sich aktiv in der lokalen jüdischen Gemeinde.

Alex war ein engagierter Arzt, der sich leidenschaftlich für seine Arbeit und seine Patienten einsetzte. Er war ein Mann von durchschnittlicher Größe mit kurzen Locken und einem freundlichen Lächeln. Er war ruhig und introvertiert, aber wenn er sprach, waren seine Worte weise und sorgfältig gewählt. Alex hatte eine Leidenschaft für Musik und spielte gerne Klavier in seiner Freizeit. Er war auch ein Mann, der sich für Umweltschutz und Nachhaltigkeit einsetzte und ständig versuchte, seinen ökologischen Fußabdruck zu verringern.

Ich hoffe, dass diese diverseren Beschreibungen der beiden Charaktere dazu beitragen, ihre Persönlichkeiten und Merkmale besser zu veranschaulichen, und dass sie ein realistischeres und vielfältigeres Bild der Menschen in unserer Welt widerspiegeln.

Ich muss lachen. Die KI verwechselt Diversity wohl mit sozialem Engagement und Umweltbewusstsein. Und Mark hat “jüdische Wurzeln” bekommen.

Wie findest du die Texte und Figuren der KI?

Ich bin nach diesem Experiment jedenfalls völlig beruhigt: Mein Arbeitsplatz als Schriftstellerin wird mir niemals durch eine KI streitig gemacht werden.

Ich werde den ChatBot jedoch in nächster Zeit als Recherchetool testen. Bei meinen Tests hat mir die KI schneller als eine herkömmliche Suchmaschine Antworten auf konkrete Suchanfragen geliefert. Allerdings ohne Quellenangaben, also nicht nachprüfbar. Aber als erste Orientierung könnte das hilfreich sein.

Willst du ChatGPT auch mal als Assistent beim Schreiben oder bei der Recherche ausprobieren?

Oder gibt es andere Bereiche, in denen du die K.I. für dich nutzen kannst?

Lernwelten 2030: Kapitel 5 – Wege entstehen im Gehen

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 22. Februar 2030, 14 Uhr – Fiona in der Studienberatung bei Birgit Lindenbaum, Professorin für Pädagogik

Fail, ich komme zu spät“, dachte Fiona als sie zum Büro von Professorin Lindenbaum hetzte. Auf ihrem Smartphone blinkte auf, dass ihr Termin zur Studienberatung vor zwei Minuten angefangen hatte. Auch die Lichtanzeige an Lindenbaums Tür leuchtete grün. Aber die Tür war noch geschlossen. „Glück gehabt!“ Fiona wusste, dass die Professorin die Wartenden immer selbst hereinbat, man musste warten, bis sie die schwere Holztür öffnete. Ihr Büro befand sich im ältesten Universitätsgebäude, das kürzlich modernisiert wurde. Fiona hatte gehört, dass Professorin Lindenbaum ihr bewährtes Refugium gegen jegliche Eingriffe verteidigt hatte. Die meisten der anderen Büros wurden gerade in Co-Working-Spaces und Multifunktionsräume umgebaut.

Fiona ließ sich in den Sitzsack fallen und ihr Blick fiel auf die Decke über ihr. Dort schwebte dank einer Animation ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken, der gar nicht zum grauen Winterhimmel draußen passte. „Wie der Himmel wohl gerade in Afrika aussieht?“, fragte sich Fiona. Hoffentlich würde die Professorin sie dabei unterstützen, dass ihr Traum von Kenia Wirklichkeit werden würde. Sie wollte die Schulen dort mit eigenen Augen sehen, in die Gesichter der Menschen blicken, den Geruch der Luft, der Erde und des Essens in sich aufnehmen.

Jetzt vibrierte KIM und zeigte an, dass es schon zehn Minuten nach Terminbeginn waren. Fiona wippte ungeduldig mit dem Fuß und das Granulat im Sitzsack knirschte unter ihrer Bewegung. Um 14:12 Uhr öffnete sich die Tür und die Professorin erschien im Türrahmen. Mit ihrer schmalen hohen Gestalt und den langen, weiß schimmernden Haaren, die offen über die Schultern hinabfielen, erinnerte die Professorin sie an eine Elbenkönigin aus den Fantasyromanen, die Fiona so liebte.

Kommen Sie bitte herein, Fiona“, sagte Birgit Lindenbaum mit ihrer warmen Stimme und lächelte mit kirschrot geschminkten Lippen. Fiona folgte der Professorin in deren Büro. Sofort wurde sie umfangen von diesem Zauber aus Ruhe und Bodenständigkeit. Der Duft von würzigem Tee und das Plätschern eines kleinen Salzsteinbrunnens auf der Fensterbank neben den rankenden Zimmerpflanzen, deren Namen Fiona nicht kannte, ließen ein wohliges Gefühl in ihr aufkommen. Fiona nahm an dem altehrwürdigen Holztisch Platz.

Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte die Gastgeberin und Fiona nickte.

Es ist ein Matcha Tee aus Japan, ich habe ihn zwölf Minuten ziehen lassen“, sagte die Professorin und deutet auf eine kleine Sanduhr, „und dabei meine Teemeditation gemacht.“

Eine Teemeditation?“, fragte Fiona erstaunt.

Während der Tee zieht, schaue ich ihm dabei zu – und keine Terminbimmelei kann mich davon abhalten. Nur wer gute Pausen macht, kann danach produktiv arbeiten. Keine Sorge, ich habe eine ganze Stunde für Sie reserviert, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.“ Die Professorin lächelte sanft und nippte an ihrem Tee. Fiona pustete in die grüne Flüssigkeit, deren Dampf sich warm auf ihre Wangen legte. Ihre Augen wanderten durch das Büro, das mit exotischen Dingen ausgestattet war. Am Boden lagen Wollteppiche mit geheimnisvollen Zeichen, vielleicht Kalligraphie? An den Wänden hingen bemalte Masken. Woher sie wohl stammten? Fionas Blick blieb an einem wunderschönen Foto von einem Baum mit rosafarbenen Blüten hängen.

Haben Sie das selbst fotografiert?“, wollte sie wissen.

Ja“, sagte die Professorin. „Ich war zum O-Hanami – dem Kirschblütenfest – in Japan. Mit einem Foto kann man die ganze Schönheit und den Duft leider nicht einfangen.“

Fiona hätte die Professorin gerne zu jedem dieser Einrichtungsstücke gefragt, wo es herkam und was es bedeutet. Fiona wurde klar, wie wenig sie von der Welt wusste. Ja, sie konnte sich Millionen von Kunstschätzen und Landschaften virtuell anschauen, aber das waren doch nur leblose Nullen und Einsen.

Waren Sie schon mal in Afrika?“, platzte es aus Fiona heraus. Die Professorin schaute sie aufmerksam aus ihren graublauen Augen an.

Nein, in Afrika nicht. Aber ich habe einige Jahre in Japan gelebt. Dort habe ich Bildungskonzepte entwickelt, die sich auf individuelle Lernwege zuschneiden lassen“, sagte Birgit Lindenbaum. „Interessieren Sie sich für Afrika?“

Ja, sehr, aber ich war noch nie dort. Meine Cousine Lena ist gerade als Lehrerin in Kenia. Sie hat mir erzählt, dass man vieles erst richtig versteht, wenn man dort ist. Zum Beispiel hat ein deutscher Sponsor für diese Grundschule iPads und XR-Brillen liefern lassen, aber einige Schulkinder haben noch nicht mal richtige Brillen fürs tägliche Leben! Außerdem können sich die wenigen Lehrerinnen gar nicht um alle Kinder kümmern“, sprudelte Fiona hervor.

Es fehlen auch gute Unterrichtsmaterialien“, fuhr sie fort. „Und der Stoff ist wirklich nur Basiswissen, damit können die jungen Leute im internationalen Wettbewerb nicht mithalten. Und wer kein Geld für ein gute, private High School hat, kann es nur mit besonderem Talent und Ehrgeiz auf eine Uni schaffen. Aber Kenia hat viele Seiten. Mein Lernpartner aus Kenia hat mir von seinem Studium an der Murang’a University erzählt. Ich war erstaunt, wie modern sie dort ausgestattet sind. Aber für sein Stipendium hier in Deutschland war viel Eigeninitiative nötig“, erzählte Fiona.

Ja, das gilt für alle jungen Menschen, egal, wo auf der Welt. In der heutigen Zeit müssen Sie fachlich fit sein, aber auch Ihre Bildungsbiografie aktiv selbst gestalten“, sagte Birgit Lindenbaum.

Ehrlich gesagt fällt mir das mit der Selbststeuerung manchmal schwer. Ich hätte gerne mehr Input von meinen Dozenten. Ich habe das Gefühl, ich gehe gerade in die falsche Richtung…“, gab Fiona zaghaft zu.

Birgit Lindenbaum schwieg. Sie schrieb mit ihrem Füller etwas auf ein dickes Stück Papier und reichte es Fiona.

‘Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen.’ Von Antonio Machado, Gedicht XXIX im Zyklus Kastilianische Landschaften, 1912“, las sie.

Muss ich das kennen? Fiona kramte in ihrem Gedächtnis. Jetzt bloß nichts Falsches sagen.

Äh … schönes Briefpapier“, sagte Fiona.

Das ist von Hand geschöpftes Papier aus Japan“, sagte Lindenbaum lächelnd. Dann reichte sie Fiona aus dem Regal ein Buch, das sehr alt aussah, mit einem Einband aus Leder.

Das hier ist die Übersetzung der „Campos de Castilla“ Gedichte vom Spanischen ins Deutsche von Fritz Vogelsang. Ich habe ein Faible für Lyrik mit etwas Kitsch“, lächelte Lindenbaum. „Sie können ja mal hineinschauen. Wenn Ihnen die Gedichte gefallen, können Sie das Buch behalten … bis es eine neue Leserin findet. Auch Bücher wollen wandern.“

Fiona nahm das wundersame Buch. Beide schwiegen, der Zimmerbrunnen plätscherte.

Es gehört zum Leben, nicht alle Antworten zu kennen“, sagte Birgit Lindenbaum. „Oft lohnt es sich, einen erfahrenen Menschen zu fragen. Was genau ist heute Ihr Anliegen, Fiona?“

Also es geht um die Entscheidung, welche Seminare ich im kommenden Semester belegen soll“, sagte Fiona. Die Professorin rief auf ihrem Notebook das Studierendenprofil von Fiona auf, dort hatte Fiona aus ihrem My-Path-Portfolio ihre bisherigen Studienleistungen und Kompetenzprofile freigeschaltet.

Wie Sie sehen, habe ich in den letzten drei Semestern Module zu Lernpsychologie und Economy & Strategy im Projektmanagement belegt und auch Kompetenzen für K.I. Education Systems erworben“, erklärte Fiona.

Warum denken Sie denn, dass dieser Weg Sie in die falsche Richtung führt, Fiona?“

Ich möchte etwas mit Bildungsentwicklung in Kenia machen. Und mir wird immer klarer, dass es für gute Bildungskonzepte Planerinnen braucht, die Knowhow in Lerntechnologien haben, sich aber auch mit Pädagogik und Projektmanagement auskennen. Aber wenn ich mir die aktuellen Stellenausschreibungen anschaue, finde ich dieses Profil nicht wieder. Vielleicht stelle ich mir auch etwas Unrealistisches vor?“, sagte Fiona.

Das haben Sie gut erkannt. Die Berufsfelder und Technologien entwickeln sich rasant weiter. Sie müssen sich so qualifizieren, dass Sie gut gerüstet sind für die neuen Berufsprofile, die sich heute abzeichnen. Aus meiner Erfahrung mit Bildungsprojekten kann ich Ihnen sagen, dass Sie als medienpädagogische Bildungsmanagerin auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt gefragt sein werden“, sagte Lindenbaum.

Ja? Giga!“ rief Fiona erleichtert. „Und in einem bin ich mir seit meinem Praktikum an einer Berliner Grundschule sicher: Mir liegt das Arbeiten mit Kindern. Ich denke, dass ich eine gute Lehrerin werden kann. Dafür fehlen mir aber bisher die pädagogischen Qualifikationen.“

Dann sind Sie bei mir doppelt an der richtigen Adresse“, sagte Birgit Lindenbaum, die nicht nur Studienberaterin, sondern auch Pädagogikprofessorin war. „Gibt es denn im Sommersemester ein pädagogisches Modul, das Sie gerne belegen würden?“

Ja, Ihr Kurs zur pädagogischen Anleitung von Peergroup-Learning interessiert mich sehr. Ich habe dazu Ihre Podcasts angehört.“

Da Sie das Einführungsmodul verpasst haben, kann ich Ihnen einen Quereinstieg mit einer Aufnahmeprüfung anbieten. Dafür schalten Sie mir bis zum 15. März eine Portfolio-Präsentation frei. Darin stellen Sie mir Ihre bisherigen Projekte innerhalb und außerhalb der Universität vor. Als Motivationsschreiben hätte ich gerne, dass Sie Ihren Traumberuf beschreiben und welche Kompetenzen Sie dafür weiterentwickeln möchten.“

Ja, das mache ich gerne, vielen Dank!“, strahlte Fiona.

Professorin Lindenbaum nickte und tippte das Besprochene mit flinken Fingern in ihr Notebook ein.

Als Fiona die Studienberatung leichten Schrittes verließ, sah sie ihren zukünftigen Weg in schillernden Farben vor sich liegen.

Foto von Ana Gic, frei nutzbar nach Pixabay License
Foto von Ylanite Koppens, frei nutzbar nach Pixabay License

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Die Autorinnen stellen sich vor

Titelbild:  Foto von Pexels, frei nutzbar nach Pixabay License

Lernwelten 2030: Kapitel 4 – Virtuelle Wörterwelten: Wissenschaft und Magie

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 12. Februar 2030, 11 Uhr – Fiona und Kibe besuchen die Learning Library

Warum werden überhaupt Regale aufgestellt, wenn die Bücher fake sind?“, fragte Kibe. Er stand mit Fiona in der Learning Library und hielt eine Buchattrappe aus Pappe in der Hand. Der große Raum wurde von Holzregalen in Bereiche unterteilt, in denen Studierende an Arbeitstischen saßen und leise an ihren Pads arbeiteten. Viele Finger flogen über die Flüstertastaturen der Notebooks. Manche Studierende machten sich Notizen auf Papier.

Ich finde das gemütlich – in dieser Atmo komme ich in Lesestimmung. Und es ist leise“, sagte Fiona. „Pass auf, was gleich um 11 Uhr passiert.“

Ein leiser Gong durchbrach die Stille, die Lichtstimmung änderte sich und es kam Bewegung in den Raum. Einige Studierende verließen ihre Stillarbeitsplätze, andere kamen herein, suchten sich alleine oder in Tandems Plätze und ein leises Murmeln und Rascheln erfüllte den Raum.

Von 7 bis 11 Uhr ist nämlich Stille-Phase angesagt und zwischen 11 und 17 Uhr ist Dialog-Phase, dann ist leises Reden erlaubt. In den Abendstunden ist es dann wieder stiller. Hörst du jetzt dieses busy buzzing? Das klingt wie lauter Arbeiterinnen in einem Bienenstock, findest du nicht? Wenn ich höre, wie die anderen hier fleißig in allen Nischen arbeiten, krieg ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich hier nur herum sagge!“

Kibe lauschte und nickte. Sie machten einen Rundgang durch die Learning Library. Es gab keinen zentralen Lesesaal, wie Kibe es aus klassischen Bibliotheken kannte, sondern viele verschiedene Zonen, die um die Lichthöfe herum angeordnet waren. Während Kibe sich umschaute, lehnte es sich gegen eines der Bücherregale, das plötzlich nachgab, Kibe strauchelte und fand dann geschickt sein Gleichgewicht wieder.

„Was ist das denn für eine wackelige Fehlkonstruktion?“, fragte er.

„Das ist extra so gemacht. Man kann das Regal auf den Rollen verschieben und sich so eine Nische bauen. Siehst du?“, zeigte Fiona ihm den Kniff. „Das mache ich gerne, da drinnen hab ich meine Ruhe und keiner guckt mir über die Schulter. Außerdem kann ich mir eine mobile Leselampe mit reinnehmen.“

Zusätzlich gab es als Leseräume einige Kaminzimmer, wo ein künstlicher Kamin und weiche Ohrensessel für Gemütlichkeit sorgten. Dort waren die Still- und Dialogphasen genau andersherum geregelt als in den anderen Zonen. Gerade abends saßen die Studierenden hier gerne zum Plaudern beisammen.

Dann gingen Kibe und Fiona zu einem der großen Touchscreens, der ihnen die virtuelle Mediathek „ShowMe“ zeigte. Kibe loggte sich ein und schon stand er im dreidimensionalen Foyer eines futuristischen Wolkenkratzers. Schon oft hatte er diesen Raum über sein Smartphone betreten, hatte das Wegesystem durchschritten und Lernobjekte angeschaut. Wenn ihn etwas interessierte, berührte er das Sternicon, dann fand er das Lernobjekt in seinem persönlichen „My Collection Space“ wieder. Noch nie war er an die Grenzen dieses Raums gestoßen, hinter jeder Flurbiegung, hinter jeder Tür fand er neue Medien.

Immer zur Stelle war der virtuelle Suchhelfer Wizard. Der Avatar dieser Künstlichen Intelligenz sah nach Kibes Look-Anpassung wie Shuri aus, der hilfreichen und schönen Schwester vom Superhelden König T’Challa aus seinem Lieblingsfilm Black Panther. Der Wizard verarbeitete zu den gängigen Forschungsthemen alle wissenschaftlichen Textveröffentlichungen und Lernmedien in den meistgesprochenen Sprachen der Welt. Dabei konnte er mehr als eine althergebrachte Suche nach Schlagwörtern und Hashtags, denn schließlich war er ein „smarter Wissenschaftler“, wie er für sich warb. Der Wizard durchsuchte auch die Literaturverzeichnisse, Referenzen, Zitate, Querverweise, Verlinkungen, Peer-Reviews, User Bewertungen und auch wie oft ein Lernobjekt aufgerufen und von den Usern für ihre Collection „gesammelt“ wurde. Er tauschte außerdem Daten mit Online-Warenhäusern aus und wusste, wie oft welche Bücher und Medien heruntergeladen, gestreamed und gekauft wurden. So konnte er ermitteln, welche Texte und Medien aufeinander Bezug nahmen, welche besonders beliebt, unbeliebt oder heftig diskutiert wurden.

Kibe und Fiona fragten den Wizard nun nach Wissenschaftsliteratur zu Bildungsförderprojekten in Kenia. Sofort zeigte ihnen der Wizard eine Hashtag-Wolke und eine vernetzte Visualisierung von Publikationstiteln erschien wie von Zauberhand auf dem Bildschirm.

Fiona stutzte: „Häh? Diese drei Titel landen bei meiner Suche fast immer im Topptipp.“

Das liegt daran, dass der Wizard käuflich ist“, sagte Kibe. „Das ist genauso wie bei Amazon, da sind die guten Kundenbewertungen auch fake und gekauft.“

Echt? Solche Mechanismen kenne ich von Fantasyromanen im Online-Buchhandel. Gerade wird „Fifty shades of mist“ so zum Erfolg gehyped. Aber dass der Wizard der Unis auch so manipuliert wird? Das kann ich kaum glauben!“, wandte Fiona ein.

Ich habe letzten Sommer virtuell an einem MOOC [Massive Open Online Course] hier an der Ada Lovelace Universität teilgenommen“, erklärte Kibe. „Ich wollte mehr über wissenschaftliches Arbeiten lernen, weil das im Studiengang an meiner Heimatuni nicht vorkommt. Dabei habe ich gelernt, wie ich erkenne, welche Fachliteratur gute Qualität hat und ob sie seriös ist. Einige Autoren schreiben nämlich einfach das Forschungsergebnis rein, das ihre Auftraggeber haben wollen.“

Ah, du hast Recht! Das ist ja wie verstecktes Produktsponsoring!“, rief Fiona.

Und guck dir mal die Toppautoren zu Bildungsentwicklung in Kenia an“, sagte Kibe. „Das sind doch amerikanische Autoren, die das Leben in Kenia nur von außen kennen. Wenn du was Echtes über Bildungsprojekte lesen willst, dann lies Erfahrungsberichte von Einheimischen.“ Kibe zeigte Fiona zwei autobiografische Blogs auf seinem Smartphone. „Aber der Wizard kennt diese Art von Literatur gar nicht!“

Ja, mit all so künstlerischen Sachen wie Autobiografien, Romanen, Filmen und Serien hat der Wizard nichts am Hut, dieser alte Kulturmuffel“, sagte Fiona. „Und die Klatschpresse kennt er auch nicht, aber das spricht eigentlich für seinen guten Geschmack“, kicherte sie.

Fiona schaute auf die Uhr ihres Smartphones.

Jetzt müssen wir los zum Science Incubator in Berlin-Spandau. In einer halben Stunde fängt dort unser Workshop im Lernlabor von FUTURA an,“ sagte sie. „Die höheren Semester haben mir erzählt, dass man früher mit den U-Bahnen und Bussen von hier in Dahlem bis Spandau fast eine Stunde gebraucht hat. Jetzt nehmen wir einfach die Seilbahn, die ist super praktisch: umweltclean, leise und schnell! Bald soll es noch mehr davon in Berlin geben, denn der Smog und die verstopften Straßen nerven echt. Auch in den U-Bahnen ist es oft voll und stickig.“

Sie kamen bei der Seilbahnstation an. Dort wartete Nele auf sie, die Lernpsychologie studierte und zu ihrem interdisziplinären Workshopteam gehörte. Nele stürmte auf Fiona zu und sprudelte los:

Hast du schon das neuste Video von Estello gesehen?“ Sie zeigte Fiona auf InstaREAL wie der schöne Italiener auf dem roten Teppich in Cannes an der Seite der Pop Prinzessin Louane posierte.

Ob die Gerüchte stimmen, dass zwischen den beiden was läuft?“

Nee, guck dir mal ihr Styling an. Fail! Sie passt gar nicht zu ihm“, rettete Fiona den Traum von Estellos Singlestatus.

Guck, gerade hat Estello auf meinen Kommentar geantwortet“, jubilierte Nele. „Giga! Er erinnert sich sogar, dass ich ihn gefragt hatte, was seine neue RoleXX alles kann!“ Nele sprach in ihr Smartphone: „Ah, deine Watch ist fly! Wenn du sie mir schenkst, muss ich mir nicht das hässliche Fitnessarmband von meiner Omi leihen“, setzte sie den Flirt fort.

Kibe fiel auf, wie mühelos dieser Influencer die Mädels um seine Finger wickelte.

Jetzt erst bemerkte Nele ihn.

Ah, hi, bist du Fionas Mentee Kibe? Ich hab dich schon als Black-Panther-Avatar in unserem SimSeminar gesehen. In Reality siehst du ja aus wie wir! Ich dachte, dass du einen Kimono trägst“, sagte Nele und klang enttäuscht.

Nein, Kimonos trägt man nur in Japan. In Kenia heißt unsere traditionelle Kleidung Kanga. Dieses Stofftuch ist mit einem farbigen Muster bedruckt … und oft auch mit einem afrikanischen Sprichwort“, erklärte Kibe geduldig. „Frauen wickeln sich die Kanga um den Oberkörper als Kleid und auch als Tragetuch für ihre Kinder. Männer wickeln sich die Kanga um die Taille. Heutzutage tragen die meisten Leute die Kanga aber nur zu besonderen Festtagen.“

Kibe zeigte Nele und Fiona ein paar Fotos auf seinem Smartphone.

Diese Fotos sind vom letzten Sommer, da fand in meinem Heimatdorf eine große Hochzeitsfeier statt, dafür haben einige ihre Kanga angezogen. Sogar ich. Ihr könnt hier sehen, dass der Stoff bei uns Kikuyu viel braune Farbe hat. Bei den Massai hat die Kanga mehr rote Muster.“

Das sieht echt nice aus“, fand Fiona. „Ich würde auch gerne mal eine Kanga tragen!“ Auch Nele war begeistert und abonnierte sofort den Hashtag #kanga auf InstaREAL.

Dann stiegen sie in eine Seilbahnkabine und schwebten hoch über die Stadt hinweg, sogar die Sonne zeigte sich. „Wow, das ist ein ganz anderes Feeling als die google Earth Simulation von Berlin“, sagte Kibe.

Foto von Huwani Zulu , frei nutzbar nach Pixabay License

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Die Autorinnen stellen sich vor

Titelbild: Foto von Gerd Altmann, frei nutzbar nach Pixabay License

Lernwelten 2030: Kapitel 3 – Ein Learning Center mit vielen Gesichtern

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 8. Februar 2030, 10 Uhr – Kibe lernt Fiona und den Campus kennen

Hallo Fiona“, sagte Kibe und schüttelte höflich ihre Hand. Sie standen sich zum ersten Mal leibhaftig gegenüber. „Sie ist zierlicher als ihr Avatar und ihre Augen leuchten viel wärmer“, schoss es Kibe durch den Kopf.

Toll, dass du endlich hier bist“, strahlte Fiona und umarmte ihn. „Karibu“, versuchte sich Fiona an einem Willkommensgruß auf Swahili. „Wie war deine Reise? Fühlst du dich im Wohnheim wohl?“

Kibe erzählte ihr, dass er sich in den letzten Tagen gut eingelebt hatte.

Du sprichst so gut Englisch und Deutsch“, bemerkte Fiona. „Wie hast du das gelernt?“

Meine Muttersprache ist Kikuyu, sie wird in der Gegend um Nairobi gesprochen. In Kenia gibt es ganz viele Volksstämme mit eigenen Sprachen. Damit wir alle miteinander reden können, lernen wir schon in der Grundschule Swahili und Englisch. Diese beiden Sprachen hört man auch im Radio, Fernsehen und Web. Deutsch habe ich mit Online-Tutorials gelernt.“ Kibe zeigte Fiona auf seinem Smartphone seinen Sprachtrainer und wie er auch bei seinem Learning Content Untertitel in verschiedenen Sprachen einschalten konnte.

Look, ich habe eine smarte Translation App, die gerade unser Gespräch mithört und mir sofort eine Übersetzung in Swahili zeigt“, sagte Kibe.

Dann kann ich ja losplappern“, lachte Fiona. „Komm, jetzt zeige ich dir unseren Campus. Hier gibt es ein paar Sachen, die du noch nicht vom SimCampus kennst.“

Sie standen gerade in der Mitte des Meet and Greet Foyers im belebten Learning Center.

Guck, hier im Open Space kannst du dir aussuchen, was du gerade brauchst. Wenn du was essen und mit Freunden chillen willst, dann ist das Café das Richtige. Du kannst dein Essen auch in die Lounge nebenan mitnehmen“, erklärte Fiona Kibe. „Wenn du was Unimäßiges mit anderen besprechen willst, gehst du lieber in die ruhigeren Lernareale.“

Fiona führte Kibe ein Stück weiter, sie gelangten in einen riesigen Raum, der von einer Glaskuppel überspannt war. Dort oben schwebten farbige Stoffbahnen wie Drachen am Himmel, sie fingen den Schall ein. Der Boden und die Wände waren mit dunklem Filz verkleidet, von dem sich die Sitzlandschaft mit ihren fröhlichen Farben abhob. Viele der überkopfhohen Sitzmöbel waren so arrangiert, dass sie kleine Häuser bildeten. Aus ihnen drang gedämpftes Gemurmel, viele Lernteams waren gerade aktiv.

Dieser Bereich wird The Village genannt, weil es eine Art Lerndorf ist“, erklärte Fiona leise. „Guck, hier hinter diesen Polsterwänden verstecken sich gemütliche Sitzbänke rund um einen Tisch, da können sechs Leute zusammenarbeiten. Auf den Schildern steht „Soundroom“, weil sie schallgeschützt sind, aber wir nennen die Dinger einfach Sofahütten. Sie haben kein Dach und es kommen Licht und frische Luft von oben rein. Natürlich gibt es außerdem Leselampen und eine Klimaanlage. Am schönsten finde ich, wenn es draußen dunkel wird und in der Glaskuppel ein Sternenhimmel aufgeht. Okay, die Sterne sind fake, aber das Feeling ist fab“, schwärmte Fiona.

Was Kibe am besten gefiel, waren die „Green Walls“, die überall zu sehen waren. Auf diesen Wänden wuchs echtes Moos. Kibe wusste, wie wichtig solche Mooswände waren, um die Luft in den Städten zu filtern und zu kühlen.

Im Sommer werden die Betonfassaden zum reinsten Backofen“, erzählte Fiona. „Deshalb wurden hier am Campus und in der Innenstadt so viele Mooswände und hängende Garten gebaut. Bei Neubauten nimmt man direkt viel Holz für drinnen und draußen, das sorgt für ein gutes Klima und verbraucht wenig Energie.“

In Kenia benutzen wir Holz schon seit vielen Jahren zum Bauen“, sagte Kibe.

Kibe berührte das samtige Moos und sog das würzige Aroma ein. „Das erinnert mich an die Wiesen daheim in der Regenzeit.“

Fiona fragte Kibe mit Feuereifer nach all den Pflanzen und Tieren, die in seiner Heimat, der Hochebene beim Mount-Kenya-Massiv, lebten.

Wo wir gerade von Natur reden: Komm mit in unseren Learning Forest“, sagte Fiona und führte Kibe in eine Halle, die mit ihren vielen Pflanzen, Bäumen und Vogelstimmen einen Wald vortäuschte. Aus hygienischen Gründen waren nur die Pflanzen im Freilichtinnenhof lebendig. Die Holzverkleidung der Wände und die Möbel waren aus Echtholz, wie Kibe an den Astlöchern und Ritzen sah. Sie gingen mit lautlosen Schritten über den grünen Filzteppich. Es gab hier in verschiedenen Nischen Sitzgruppen für Lernende und auch auf den Hochplateaus konnte man abgeschirmt sitzen. Fiona nannte sie Baumhäuser.

In der Mitte lag das „Lagerfeuer“, ein digitaler SmartCube, um den rundum Holzsitzbänke treppenförmig angeordnet waren. Gerade saß dort eine Gruppe von Studierenden, die sich Artefakte virtuell am SmartCube ansah und besprach. Einige riefen virtuelle Objekte auf ihren Smartphones auf, platzierten sie im Raum und umkreisten sie mit Blick aufs Smartphone im Gehen. Andere trugen Mixed-Reality-Brillen zum Ansehen der virtuellen Objekte, die den physischen Raum überlagerten.

Hier wird nicht nur gelernt. Wenn das fake Lagerfeuer brennt, liegen die Leute hier auch gerne rum und quatschen. Ich nenne das ganze Ding Finnische Sauna … weil es halt so aussieht“, scherzte Fiona. In ihr Smartphone sagte sie zu ihrer K.I. Assistentin: „KIM, bestell mir einen Aufguss mit Aroma ‚Fichtenwald‘, in 10 Minuten“.

Es dauerte etwas länger als sonst bis KIM antwortete, erst musste sie Fionas Standort über GPS orten und einige Informationen im Netz suchen:

Du befindest dich im Lovelace Learning Center. Dieses Gebäude verfügt nicht über eine Sauna. Das nächste Saunacenter befindet sich in der Schützallee Nummer 6. Die Entfernung beträgt 3,2 Kilometer. Soll ich dir den Weg zeigen?“

KIM, das war ein Witz! Merk dir das“, versuchte Fiona, KIM zu erziehen.

Kibe hatte den Dialog amüsiert verfolgt. „Mein K.I. Assistent kapiert auch einige Sachen nicht, deshalb nenne ich ihn Kevin“, sagte Kibe und beide brachen in Gelächter aus.

Sie gingen ein Stück weiter. In einigen Zonen gab es verschließbare gläserne Räume.

Wenn du es noch leiser haben willst, kannst du in einen Gruppenarbeitsraum gehen, den musst du aber vorher übers Campusbuchungssystem reservieren“, erklärte Fiona. „Es gibt eine große Auswahl von solchen Räumen am Campus in verschiedenen Größen und Ausstattungen.“

Sie standen gerade vor einer Glaswand und blickten in einen Gruppenarbeitsraum, in dem vier Studierende an einem großen Smartboard standen.

Stört es euch nicht, wenn jeder reingucken kann?“, fragte Kibe.

Dafür gibt es einen Trick: Wenn du den Privatsphäre-Modus aktivierst, verwandelt sich die Scheibe in Milchglas, das ist irgendwie ein chemischer Prozess“, sagte Fiona. Sie zeigte ihm diese Funktion und Kibe staunte, als sich die Scheibe wie von Zauberhand verwandelte und der gläserne Raum aussah, wie mit Zuckerguss überzogen.

Wir nennen diesen Modus auch „Zuckerberg-Filter““, erklärte Fiona und zwinkerte Kibe zu.

Dann führte Fiona Kibe in die zweite Etage des Learning Centers, den Creative Floor.

Komm, ich zeig dir den Idea Market. Dort kann jeder seine Projekte und Ideen mit Postern, Exponaten und multimedialen Showcases vorstellen. Wenn man die Projektleute persönlich treffen will, geht man dort zur „Meet and Talk Time“, die fängt jetzt gleich um 12 Uhr an“, erzählte Fiona.

Sie gingen zum Stand von Fionas deutschtürkischen Freunden Nesrin und Serkan, sie studierte Kulturwissenschaften und er Pädagogik. Sie warben dort für ihre multimediale Märchenausstellung „Gretel trifft Aladin“. Sie handelte davon, wie die Grimm‘sche Märchenheldin einst mit Aladin die Wunderlampe in der Welt von 1001 Nacht suchte und ein Knusperhaus fand. Fiona hatte an der virtuellen Schnitzeljagd mitgearbeitet. Diese Erlebnisausstellung war im Exhibition and Performance Space am Campus zu erleben. In dieser Mehrzweckhalle mit Auditorium fanden alle Kunstprojekte statt. Das Märchenprojekt war eine Zusammenarbeit mit einer Berliner Schauspielschule, die dort einmal im Monat „Hänsel und Gretel“ als Theaterstück aufführte.

Morgen sehe ich mir die Ausstellung an, ich bin sehr gespannt!“, sagte Kibe.

Willst du wissen, wo solche Ideen entstehen?“, fragte Fiona.

Kibe ahnte die Antwort: „Dafür wäre das Creative Mashup Board gut!“

Er kannte dieses Board aus vom SimCampus. Sie gingen in den Nebenraum, wo ein wandfüllendes Whiteboard mit einer riesigen Bild-und-Wort-Collage hing. Dort am Mashup Board konnten alle Studierenden ihre Ideen anschreiben, anmalen und alles Mögliche wie Fotos, Poster, Zeitungsartikel oder Stoffe mit Magneten befestigen und mit Wollfäden Querverbindungen zeigen. Auch QR-Codes mit Links zu Online-Content waren zu sehen.

Im letzten Sommer hatten Kibe und Fiona an einer virtuellen „Utopiewerkstatt“ teilgenommen. Dort hatte die Dozentin die Collage zum Thema Zukunftsträume abfotografiert und in eine virtuelle Kreativleinwand eingebunden. Die Studierenden hatten dann digitale Artefakte und Texte ergänzt.

Das Mashup Board wurde von einer Studierendengruppe betrieben. Jeder konnte Diskussionsthemen aufschreiben und mitmachen. Am ersten Tag jeden Monats wurde das Whiteboard geleert. Fiona hatte vor ein paar Tagen diese Frage aufgeschrieben:

Dein Prof hat dich mit einer old school Powerpoint-Präsentation beauftragt. Nun stehst du im Seminarraum vor lauter Leuten mit zero Motivation. Was tun?“ Dazu gab es schon viele bildreiche Beiträge. Fiona machte ein Foto von dem aktuellen Stand und fügte es in ihr My-Path-Portfolio ein.

Ein Stück weiter befand sich ein großer Maker Space, dazwischen lag The Beach, ein Entspannungsareal mit sandfarbenem Boden und Strandkörben. Hier machten Fiona und Kibe nun eine Pause und aßen vegane Frühlingsrollen aus dem Snackautomaten. Dann saßen sie schweigend in ihren Strandkörben und beide war in ihr InstaREAL vertieft. Kibe stellte ein 360-Grad-Video mit immersion effect ein, das er im Learning Forest gemacht hatte und bekam sofort 77 Likes von ein paar Freunden und vielen Fremden. An seine Mutter sendete er ein happy Selfie von sich und Fiona. „Wir sehen aus wie alte Freunde. Dabei haben wir uns erst vor zwei Stunden in Real Facetime kennengelernt … seltsam“, dachte er.

Plötzlich fühlte er sich erschöpft von den vielen neuen Eindrücken und sehnte sich nach dem vertrauten Blick aus seinem Fenster daheim auf die glitzernden Gletscher des Mount-Kenya-Massivs. Hier beim künstlichen „Beach“ standen die Strandkörbe vor einem Panoramafenster und Kibe ließ nun seinen Blick über die Parklandschaft des Campus‘ wandern. Dunkle Stämme und Zweige ragten wie Geistergestalten aus Nebelschwaden hervor. „Wie lange wird es wohl dauern, bis ich in dieser neuen Umgebung den Durchblick haben werde?“, fragte er sich.

Als nächstes gingen sie in den Study Complex, der neben dem Learning Center lag. Dort gab es Seminarräume für Lehrveranstaltungen, Gruppenarbeitsräume, Project Labs, einige Büros für die Professorinnen und Professoren und einen großen Co-Working Space. Nur wenige der Lehrenden hatten hier ein eigenes Büro, die meisten arbeiteten im Home Office und kamen nur für Seminare, Besprechungen und gemeinsame Projektarbeiten auf den Campus.

Ihren Lieblingsort hatte Fiona als großes Finale des Rundgangs aufgehoben: den Rooftop Garden.

Wenn der Dachgarten nicht gerade Winterschlaf macht, blühen hier ganz viele Blumen und man kann sich sonnen oder im Schatten saggen“, erzählte Fiona. „Im Gewächshaus werden das ganze Jahr über Gemüse und Kräuter für unsere Cafeteria angebaut. Meine Öko-Gruppe hat erreicht, dass die Cafeteria an zwei Tagen ein rein vegetarisches Angebot hat. Wir Studis können an unserer Uni echt was bewirken. Und hier in der beheizten Orangerie gibt es diese Kokonsessel, ein Geheimtipp, wenn man in Ruhe was arbeiten will. Es gibt auch Leute, die dort gar keine Unisachen lernen, sondern in Fantasyromanen schmökern…“, sagte Fiona und ihre Augen funkelten schelmisch.

Foto von Dorit Günther: LEO Universität Kassel, 2019
Foto von geralt, frei nutzbar nach Pixabay License

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Die Autorinnen stellen sich vor

Titelbild: Foto von Dorit G.: Bibliothek der FU Berlin, 2017

Lernwelten 2030: Kapitel 2 – Zukunftsträume fliegen von Berlin nach Afrika

Deutschland: Berlin Dahlem, Fionas Zuhause – 4. Februar 2030, 6:55 Uhr Fiona frühstückt mit ihrem Vater und geht zum Campus

Fiona träumte wieder von diesem Baum, der sich wie ein wütender Riese aus dem Betonboden der Universitätsbibliothek erhob. An seinen knorrigen Armen hingen anstelle von Laub die Seiten alter Bücher. Er fegte seine Äste durch die leeren Regale und Tischreihen und seine Buchblätter fielen zu Boden wie welkes Laub. Sie lief hilflos auf dem Blätterteppich aus bedruckten Seiten umher und versuchte, den Wüterich zu besänftigen. Sie war verantwortlich für die Rettung des Bücherbaums, er war der letzte seiner Art! Trommelnde Bongos rissen sie aus ihrem Traum und sie setzte sich ruckartig im Bett auf. Blinzelnd orientierte sie sich im Zimmer. Auf dem wandfüllenden Display neben ihrem Bett war die Sonne in der afrikanischen Savanne bereits aufgegangen und einige Giraffen näherten sich der Wasserstelle. Täuschend echt war auch die Wärme, die aus dieser Savanne ins Zimmer strahlte. Obwohl die ThermoSkin vor ihren Fenstern heruntergefahren war, wusste sie, dass Berlin noch im Dunkeln lag. Das Trommeln kam nun näher, wurde lauter.

Lass mich schlafen“, murmelte Fiona in Richtung von KIM, aber diese schien sie nicht zu hören, denn die Bongos hörten nicht auf. „Ruhe“, rief Fiona nun energisch, aber wirkungslos. Sie tastete nach ihrem Smartphone. Kein Wunder, dass ihre SmartAssistentin KIM sie nicht hörte, denn deren Sprachsensor war tief vergraben unter dem Quilt, an dem Fiona gestern Abend genäht hatte.

Schluss mit den Bongos, ich stehe jetzt auf“, sagte sie zu KIM. Augenblicklich befahl KIM dem Soundsurroundsystem des Zimmers, den Bongoweckruf auszuschalten. Seit Fiona vor zwei Jahren auf der Abiturfeier ihrer Waldorfschule bei der Bongo-Aufführung mitgespielt hatte, liebte sie den Klang der Bongos. Sie sind der Ruf Afrikas, fand Fiona.

Guten Morgen, Schlafmütze, mach dich fertig für die Uni“, sagte die Stimme von KIM im Strict Mummy-Klangmodus, den Fiona ausgewählt hatte. „Okay, KIM. Bereite mir mein Frühstück Fresh2 vor, fertig in 40 Minuten.“

Sie ging ins Bad, wo KIM vor einer Viertelstunde die Bodenheizung angeschaltet hatte. Die Lichtsensoren erkannten den Badezimmergast und die Lampen strahlten Weißlicht auf Fionas Netzhaut zur Anhebung ihres Serotoninspiegels für eine energiereiche Morgenstimmung. Während die warmen Ströme der Regenwalddusche Fiona auf Kopf und Schultern plätscherten, dachte sie an den Baum mit seinen Blättern aus Buchseiten in ihrem Traum. Der war echt seltsam. An ihrer Universität gab es gar keine klassische Bibliothek mehr, stattdessen sorgten Buchattrappen in der Learning Library für eine nostalgische Lernatmosphäre. Alle Bibliotheken dieser Welt standen ihr offen, sie musste nur die virtuellen Türen auf ihrem Smartphone oder auf einem der Displays am Campus öffnen und eintreten. KIM und der K.I. Wizard der Mediathek halfen ihr, alles Gesuchte schnell zu finden.

Während Fiona ihre widerspenstigen Locken stylte, las KIM ihr die Termine des Tages vor. Fiona sagte: „KIM, reserviere einen Gruppenarbeitsraum für 6 Personen im Study Complex C und lade meine Lerngruppe WaldiForever ein. Uhrzeit: zwischen 12 und 16 Uhr, Dauer: 75 Minuten. Automatischen Abgleich mit den Kalendern der Teilnehmenden aktivieren.“

Die Raumreservierung war erfolgreich. Zwei der vier Eingeladenen haben bereits zugesagt“, sagte KIM ihr kurz darauf im Stimmmodus Happy Helper. Seit dem neusten K.I.-Update konnte die smarte Assistentin auch auf Emotionen in Fionas Stimme reagieren. Gerade brachte Fiona ihr bei, auf gefühlsaufgeladene Ausdrücke und Stimmlagen zu reagieren. Wenn Fiona wütend klang, sagte KIM etwas Beschwichtigendes. Wenn Fiona niedergeschlagen klang, lieferte KIM etwas Aufmunterndes. Giga witzig, fand Fiona. Nur Ironie kapierte KIM nie.

Als Fiona in die Wohnküche kam, saß ihr Vater Steven schon am wabenförmigen Tisch, den Blick auf das Display seines All-in-One-Pads gerichtet, ausgestattet mit K.I. Features aus seiner Firma. Er las Nachrichten, ein Sensor erkannte die Bewegung seiner Pupillen und folgte seiner Lesegeschwindigkeit, ein Wischen auf dem Pad war so nicht mehr nötig. Das war sehr praktisch, wenn man während des Lesens essen wollte. Ihr Vater brauchte dafür aber ohnehin nur eine Hand, denn sein Frühstück nahm er in Form eines Healthy-Drinks zu sich, der alle nötigen Nährstoffe perfekt auf ihn zugeschnitten lieferte. Das war das Richtige nach seinem Fitnessprogramm am frühen Morgen.

Fiona nahm den bei KIM bestellten Fair Trade Kakao und den frisch gepressten Orangensaft aus der SmartKitchen-Maschine. Sie verschlabberte etwas vom Saft und ROB surrte herbei, um die kleine Lache vom Boden aufzuwischen. Der Reinigungsroboter sah wie ein kleines Ufo aus, hatte aber Allüren wie ein Kater, fand Fiona. Wenn er im Schlafmodus war, stupste sie ihn gerne mit der Fußspitze an, dann miaute er beleidigt.

Wie läuft es im Studium?“, fragte Steven seine Tochter und blickte von seinem Pad auf.

Alles im grünen Bereich.“ Was sollte diese Frage von ihrem Vater? Nachdem sie ihm die Zustimmung abgerungen hatte, in diesem Semester das kostenpflichtige Zusatzmodul „Nachhaltige Entwicklungsstrategien für Bildung in Schwellenländern“ belegen zu dürfen, hatte sie ihm widerwillig die Funktion PPP (Peek for proud parents) freigeschaltet. Nun bekam ihr Vater automatisch jeden Monat eine Zusammenfassung ihrer angesammelten Credit Points und Warnmeldungen, wenn sie den Level von 70 Prozent Lernbeteiligung unterschritt.

Ich habe dich für das Praktikum im Juli bei uns in der Big Data Abteilung eingelogged“, sagte er. Ihr Vater leitete die Softwareentwicklungsfirma FUTURA und wollte, dass sie in ein paar Jahren in seine Fußstapfen treten würde.

Danke, Papa“, murmelte Fiona und holte sich eine Maismilch im Softpack und Quinoaflocken aus dem Schrank.

Du könntest schon etwas begeisterter klingen“, sagte ihr Vater.

Sorry, ich hab meinen Enthusi-Modus noch nicht eingeschaltet“, gab sie mürrisch zurück.

Sie ließ ein paar Quinoaflocken auf den Boden fallen, damit ROB etwas zu tun hatte.

Das wird halt zeitlich eng, wenn ich im Sommer für drei Wochen zu Lena nach Kenia fliege“, warf Fiona ein.

Dass deine Cousine mit ihren kenianischen Schülerinnen Mangobäume pflanzt in allen Ehren – aber du qualifizierst dich für anspruchsvollere Arbeiten mit Education SmartSystems. Steck deine Energie lieber da rein“, mahnte ihr Vater. „Mit Bildung hilfst du den strukturschwachen Ländern am effektivsten. Deshalb ist FUTURA genau das Richtige für dich.“

Trotzdem bringt das smarte Education Zeug nichts, wenn vielen Menschen immer noch die einfachsten Dinge fehlen!“, meldete sich Fionas Temperament.

Der digitale Markt in Afrika ist fest in den Händen der großen Player“, sagte Steven.

Diese scheiß Datenkapitalisten stürzen sich bestimmt nicht aus Menschenliebe auf Afrika!“, rief Fiona.

Ruhig Blut, Fiona“, schaltete sich KIM ein und begann, „Don’t worry, be happy“ aus Fionas Playlist abzuspielen. „Du nervst“, sagte Fiona in Richtung ihres Smartphones und KIM machte die Musik leiser. Dann musste Fiona doch grinsen, die gute Laune des Retrosongs sprang einfach über.

Ihr Vater nahm den Faden wieder auf: „Jedenfalls bietet unser neues FUTURA Projekt SmartEduTech in Peking die besten Perspektiven für junge Upstarter – auch für dich!“

Papa, jetzt fang nicht schon wieder mit Peking an!“, stöhnte Fiona.

Wir werden sehen“, lenkte ihr Vater ein. Während Fiona ihr Müsli aß und aus dem Fenster hinaus träumte, betrachtete Steven seine Tochter mit Vaterstolz. Mit ihren wilden, kastanienbraunen Locken und den schelmischen Grübchen sah Fiona kindlicher aus, als die Kajalumrahmung der Augen und der pinke Lipgloss glauben machen wollten. Es kam ihm vor, als sei es erst gestern gewesen, als die vierjährige Fiona auf seinen Schultern geritten war und jauchzend an seinen Haaren gezogen hatte, um das ungestüme Zebra zu lenken.

Auf Stevens Pad poppte eine Meldung auf: Das Elektroauto in der Garage war fertig aufgeladen. Seine Augen befahlen dem digitalen Assistenten, das Auto vorfahren zu lassen. Heute hatte er ein face-to-face Meeting im Co-Working-Lab der Universität.

Soll ich dich im Auto mitnehmen?“, fragte er.

Nein, ich gehe lieber zu Fuß. Ich muss unterwegs noch einen Projektbericht ins My-Path-Portfolio einsprechen.“

Fiona machte sich auf den Weg und diktierte im Gehen ein paar Sätze in das digitale Portfolio. Dann öffnete sie dort ihren smarten Zeit- und Lernplaner und verschob einen Task, den sie am Vortag nicht erledigt hatte, auf den übernächsten Tag.

Mist, das schiebe ich ständig vor mir her“, murmelte sie, was sie sofort bereute, denn KIMs Spracherkennung reagierte auf solche „Prokrastinationssätze“ und meldete sich nun in ihrer Rolle als Study Coach:

Fiona, was höre ich da?“, sagte KIM in ihrer strengen Stimme. „Dein Portfolio meldet mir, dass du den Task „EconomyTest“ zum dritten Mal nicht erledigt und verschoben hast. In deiner Activity Schedule hast du heute einen Free Slot zwischen 13:45 und 14:30 Uhr. Soll ich den Task „EconomyTest“ in diesem Slot einbuchen?“

Nein“, sagte Fiona laut und blockierte die Study-Coach-Funktion, bevor KIM widersprechen konnte.

Der Weg zum Campus führte Fiona nun durch ein kleines Waldstück. Hier steckte sie ihr Smartphone weg, lauschte in die winterliche Stille und sog den natürlichen Duft der Fichtennadeln ein. Der Kunstschnee auf den Tannenzweigen funkelte im Sonnenlicht und unter ihren Stiefeln knirschte das weiße Pulver – das war ein Klangeffekt, an dem die Hersteller vom „Winterzauber“ lange getüftelt hatten. In Fionas Kindheit gab es noch richtig kalte Winter und echten Schnee in Berlin. Jetzt musste sie die Winter-Illusion mit Erinnerungen ausfüllen.

Fotos von geralt, frei nutzbar nach Pixabay Licence

Schnee, Sun, Junge Fichte, Schneeverwehung

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Die Autorinnen stellen sich vor

CC: Titelbild: Foto von congerdesign auf Pixabay