Münchhausen feiert seinen 300. Geburtstag und mit ihm die Erfolgsgeschichte der Lüge

Der Ritt auf der Kanonenkugel hat Münchhausen weltberühmt gemacht. Nicht nur seine Zeitgenossen staunen über diesen wagemutigen Soldaten, der die Gesetze der Natur überlistet und auf einer Kanonenkugel über das Schlachtfeld in Richtung feindliche Festung fliegt. Auf halber Strecke bekommt er Zweifel und springt kurzerhand wie ein Voltigierreiter auf die entgegenkommende Kanonenkugel des Feindes über, um wohlbehalten wieder im eigenen Lager zu landen. Kann das wahr sein?

Die haarsträubenden Erlebnisse von Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen (1720-1797) als Soldat im Krieg gegen das Osmanische Reich wurden von verschiedenen Autoren ab 1761 niederschrieben. In Deutschland erschienen die Lügengeschichten des Münchhausen im Jahr 1785.

Seinem windigen Abenteuer auf der Kanonenkugel huldigen unzählige Zeichnungen und Verfilmungen (z.B. mit Hans Albers, D 1943). Niemanden stört es, dass die Geschichte komplett erfunden und erlogen ist. Die Lüge ist so herrlich unterhaltsam und befreit uns aus dem Alltagsgrau, dass wir sie gerne glauben. Und dem Lügner selbst vergeben wir allzu gerne seine Täuschung.

Don Quixote belügt sich selbst und wird so zum Ritter

Kein Wunder, dass Lügner sich zu Hauf in Büchern wiederfinden. Don Quixote, aus der Feder von Miguel des Cervantes (1605 veröffentlicht), könnte als großer Bruder vom Lügenbaron durchgehen. Auch dieser „Ritter von der traurigen Gestalt“ erfindet sich seine eigene Welt, in der er selbst der Held ist. Er ist süchtig nach Ritterromanen und bildet sich bald ein, selbst ein Ritter zu sein und zieht mit seinem gutmütigen Knappen Sancho Panza in die Welt aus, um Abenteuer zu suchen. Auf diesem Ritt kämpft Don Quixote für die Ehre edler Damen, die in Wirklichkeit Prostituierte sind, und gegen Riesen, die eigentlich Windmühlen sind. Die Welt muss sich der Wahrheit von Don Quixote anpassen – aus Wunschfantasie wird Realität. So verschwimmen die Grenzen zwischen Imagination, Selbsttäuschung und Lüge.

Die Erfolgsgeschichte der Lüge im Märchen

„Lügen haben kurze Beine!”, heißt es im Volksmund. Märchen beweisen das Gegenteil! Dort stecken die Lügenbeine in Stiefeln und bringen den Märchenhelden ganz nach oben. So in „Der gestiefelten Kater“. Dieser gut gekleidete Kater ist ein wahres Marketinggenie, von dem PR-Manager des 21. Jahrhunderts noch lernen können. Im Handumdrehen bzw. Zungeumdrehen schafft der pelzige Stiefelträger es, seinen Herrn vom armen Schlucker zum Großgrundbesitzer, Schlossherrn und Prinzgemahl zu erheben.

Zuerst bringt der Kater dem König Rebhühner als Geschenk seines Herrn, den er als “Graf” betitelt, obwohl dieser ein armer Müller ist. Zum Dank sendet der König dem falschen Grafen säckeweise Gold. Dann lässt der Miezemeister der Illusion den Müller nackt in einem See baden und versteckt dessen armselige Kleider. Als der König in seiner Kutsche vorbei gefahren kommt, erzählt der Kater ihm eine Räuberpistole und der König glaubt alles. Er kleidet den ausgeraubten Grafen in prächtige Gewänder und lässt ihn in sein Luxusgefährt einsteigen, wo auch die Prinzessin sitzt, die er alsbald heiraten wird. Zuletzt überlistet der Kater einen Zauberer und lässt den Müller in das ergaunerte Schloss einziehen. So wird der arme Müller schließlich König. Und alles dank Lüge und Täuschung – der PR-Kater würde es allerdings “List” und „Imagepflege” nennen.

Auch in „Das tapfere Schneiderlein“ werden unehrliches Verhalten und Angeberei belohnt. Der Schneider erschlägt sieben Fliegen mit einem handelsüblichen Tuchlappen. Diese Alltagstat bauscht er zur Heldentat auf, indem er sich einen Gürtel anlegt, den er mit der Aufschrift “Sieben auf einen Streich” bestickt. Diese Übertreibung im Dienste der Selbstvermarktung wird fortan sein Wahlspruch. Im Verlauf der Geschichte erliegt so mancher Gegner dieser vorgetäuschten Heldentat und prüft sie nicht auf ihren Wahrheitsgehalt.

Pinocchios lange Nase macht die Lüge sichtbar

In der italienischen Kindererzählung „Pinocchio“ (1883 von Carlo Collodi) ist der Bube aus Holz (dessen Name „Dummköpfchen“ bedeutet) zunächst ein sorgloser Schulschwänzer und Faulenzer. Immer wenn er lügt, wächst seine Nase. So kann er seine Ausreden nicht länger verbergen und muss sich schämen. Diese Sichtbarmachung der Lüge hat eine erzieherische Wirkung auf den Jungen, der sich im Laufe der Geschichte durch viele Prüfungen von einer Marionette in einen Menschen aus Fleisch und Blut verwandelt.

Warum wir auf die Lüge nicht verzichten können

Was passiert, wenn wir nicht mehr lügen dürften, muss Jim Carrey im Film „Der Dummschwätzer“ (Originaltitel: „Liar Liar“, USA 1997) leidvoll erleben. Von seinem enttäuschten Sohn dazu verflucht, 24 Stunden lang nicht lügen zu dürfen, stolpert Carrey von einem Fettnäpfchen ins nächste: Als Anwalt verliert er durch die erzwungene Ehrlichkeit einen Prozess und landet wegen Beleidigung des Richters selbst im Gefängnis. Auch im sozialen Umgang stößt er mit schonungsloser Ehrlichkeit seine Mitmenschen vor den Kopf – er nennt sie fett und hässlich – und muss sich unfreiwillig zu jeder Peinlichkeit bekennen (ja, er war der Furzer im Aufzug) und kann sich auf keine Ausrede mehr berufen, um lästige Verpflichtungen abzuschütteln.

Die ungeschönte Wahrheit quillt über seine Lippen wie ein Gift und selbst das größte Grimassieren kann ihm den Mund nicht verschließen. Die Qualen des Mannes zeigen uns: Die Lüge hat gute Seiten, denn sie ist eine Maske der Höflichkeit, die den Menschen einen freundlichen Umgang miteinander erlaubt. Die Lüge ist auch ein Schutzschild, das uns vor Scham und Strafe schützt.

Aber Läuterung muss sein, also lernt der notorische Lügner während seines Wahrheitsfluchs auch, worauf es im Leben ankommt, nämlich ehrliche Liebe und Fürsorge für Frau und Sohn.

Der Film führt uns vor Augen, wie grotesk und schwer erträglich das soziale Miteinander wäre, wenn wir immer ehrlich sein müssten. Die Lüge ist sozial akzeptiert und für den gesellschaftlichen Frieden erforderlich – wenn sie als Form von Höflichkeit, Diskretion und Diplomatie daher kommt.

Lügen erfüllen Sehnsüchte

Was aber fasziniert uns an Lügengeschichten wie die von Baron Münchhausen so sehr? Warum möchten die Menschen an dreiste Erfindungen glauben und lassen sich sehenden Auges einen Bären aufbinden? Die wirklich gute Lügengeschichte lebt davon, dass sie die Normalität aushebelt und die Illusion wie einen schönen Schleier über die öde Alltagswelt legt. Die Lüge als fantastisches Trugbild erfüllt die menschliche Sehnsucht nach Staunen und Wundern.

Froschputtel oder Aschenprinz – Mein Beitrag zum Poetry-Slam-Wettbewerb

Das StudierendenWERK Berlin hat den Wettbewerb “Mix it! Spoken Word & Slam” ausgeschrieben und ich habe die Herausforderungs angenommen. Die Slam Poeten präsentieren ihre Texte wegen Corona nicht in einer Live-Bühnenshow (die für den 23. April angesetzt war), sondern Online. Ein Publikum samt Abstimmung gibt es trotzdem und der oder die Sieger*in zieht ins Finale ein. Ihr dürft mir Hals-und-Reim-Bruch wünschen.

Hier könnt ihr euch das Video mit allen 8 Texten der Slam Poeten anschauen:

Wenn ihr nur meinen Beitrag ansehen möchtet, könnt ihr das auch auf meinem youtube-Kanal tun:

ABSTIMMEN (man kann 2 Stimmen für 2 Favorit*innen vergeben – ich hoffe, eine davon schenkt ihr mir, wenn euch mein Text gefallen hat) könnt ihr H I E R.

ENTSTEHUNGSGESCHICHTE

Irgendwann im März habe ich mir zu mitternächtlicher Stunde Gedanken zu einem möglichen Text gemacht und bin schnell auf eines meiner Lieblingsthemen gekommen: das Märchen. Was passt dazu? Die ewige Suche nach dem Traumprinzen. Aus eigener Online-Dating-Erfahrung kann ich so einigen Honig saugen. Also habe ich in einem Brainstorming (Sprich-) Wörter rund um diese Themen in meinem Inkubations-Journal gesammelt und dort einige Wochen reifen lassen.

Als der Abgabetermin näher rückte, habe ich die Textfragmente dann in ein Dokument eingetippt und einige Abende lang daran gewerkelt. Zunächst eine Struktur mit Strophen und Refrain (der sich 3 Mal wiederholt – wie es sich im Märchen gehört). Im Feinschliff habe ich mir den Text selbst vorgelesen und mit dem Diktiergerät zur Selbstkontrolle aufgenommen und an den Reimen gefeilt.

Schließlich war mein Text fertig. Voilà:

Froschputtel oder Aschenprinz

Bildschirm, Bildschirm in der Hand:

Wer ist der Schönste im ganzen Land?

Tinder hin und Tinder her

alles was ich begehr’

die Guten nach Rechts

die Schlechten nach Links

ob Froschputtel oder Aschenprinz

du bist mein Traumtyp stimmt’s?

Mit den Fingerchen tipp tipp tipp

mit dem Köpfchen nick nick nick

mal macht es BAM

mal heißt es SPAM

viele Kandidaten möglichst schnell

rundherum so geht das Dating Karussell

 

Ich bin nicht wählerisch und schon gar nicht grimmig

will nur in Frau Holles Wolken schweben

meine Träume ausschütteln und Schleier weben

für Mr. Perfect lasse ich mein Haar herunter und reiche ihm die Hand

und folge den Brotkrumen bis zu seinem Schloss aus Sand

 

BLING BLING – ein Match – und digitale Herzen schlagen höher

Nachricht von Strahlemann76:

„Knusper knusper süßes Mäuschen

bin bei deinem Foto ganz aus dem Häuschen“

In seinem Profil ist er nicht allzu bescheiden

kann mich an allerlei Informationen weiden:

„Bin ein toller Mann mit ganz viel drin und dran

völlig behaart wie König Drosselbart

nur ungepaart und sehr apart

im Café treffen wir uns zum Start

dann gerne schnickel-schnackel oder so was ist der Art“

 

Ach, das ist mir viel zu stoppelig und womöglich hoppelig

The search must go on!

 

Bildschirm, Bildschirm in der Hand:

Wer ist der Schönste im ganzen Land?

Tinder hin und Tinder her

alles was ich begehr’

die Guten nach Rechts

die Schlechten nach Links

ob Froschputtel oder Aschenprinz

du bist mein Traumtyp stimmt’s?

Mit den Fingerchen tipp tipp tipp

mit dem Köpfchen nick nick nick

mal macht es BAM

mal heißt es SPAM

viele Kandidaten möglichst schnell

rundherum so geht das Dating Karussell

 

Ich bin nicht wählerisch und schon gar nicht grimmig

ob Banker oder Denker

Bürohengst oder Nachtgespenst

Autofreak oder Fahrraddieb

Traumtänzer oder Schulschwänzer

will frei wählen ohne rasten und rosten

im Abo vom Apfel der Versuchung kosten

 

BLING BLING – ein Match – und digitale Herzen schlagen höher

Nachricht von Do-it-your-self-Nick:

„Hi Prinzessin, wo drückt dir der Schuh

lass uns verschwinden im Nu

hinter den sieben Bergen

in Federbetten statt in gläsernen Särgen

ich komme hoch zu Ross und mit Kondom

befreie dich vom Schneewittchen-Syndrom“

 

Ach, das ist mir viel zu viel zu offensiv und womöglich invasiv

The search must go on!

 

Bildschirm, Bildschirm in der Hand:

Wer ist der Schönste im ganzen Land?

Tinder hin und Tinder her

alles was ich begehr’

die Guten nach Rechts

die Schlechten nach Links

ob Froschputtel oder Aschenprinz

du bist mein Traumtyp stimmt’s?

Mit den Fingerchen tipp tipp tipp

mit dem Köpfchen nick nick nick

mal macht es BAM

mal heißt es SPAM

viele Kandidaten möglichst schnell

rundherum so geht das Dating Karussell

 

Ich bin nicht wählerisch und schon gar nicht grimmig

will Goldmarie heißen und das Pech vergessen

will mit dem bösen Wolf Kreide essen

mich mit Siebenmeilenstiefeln im Wettlauf messen

und wenn sich Dornen in Rosen verwandeln

kann ich mit Bock oder Gärtner anbandeln

 

BLING BLING – ein Match – und digitale Herzen schlagen höher

Nachricht von André Ass:

„Hi Kuschelmaus, traust du dich zu mir hinaus?

Ich bin ein toller Hecht, frag nur Meister Specht

Sollst kein armes Schneiderlein kriegen

kann Finanzriesen besiegen

Steine auspressen und Sterntaler aufwiegen

schenke mir deinen Kuss – das ist leider ein Muss

dann werde ich fröhlich unter den Fröschen dein König“

 

Ach, das ist mir viel zu viel zu historisch und allzu metaphorisch

The search must go on!

 

Mit den Fingerchen tipp tipp tipp

mit dem Köpfchen nick nick nick

mal macht es BAM

mal heißt es SPAM

viele Kandidaten möglichst schnell

rundherum so geht das Dating Karussell

 

BLING BLING – sieben auf einen Streich

ein Hallo von Mr. Lück

ein Ciao von Hans-im-Unglück

ein Hi von StatusX und liebe Grüße von Perhaps

Taufrisch (51) sendet sieben Bilder

Partylöwe (33) mag es offensichtlich wilder

Do-it-your-self-Nick hat Datenstau

und André Ass sucht keine Frau

Alles gibt es auf dem Single-Markt der

Online-Prinzen und der Tinder-Troubadoure:

tätowiert, manikürt, kultiviert, rasiert

manieriert, maskiert, blasiert, triebregiert

epiliert, motiviert, motorisiert, aphrodisiert

mal reserviert, mal erotisiert und selten gut frisiert

Ich bin nicht wählerisch und schon gar nicht grimmig

bin die Prinzessin, die jede Erbse im Rücken spürt

schlafe auf dutzend Matratzen so wie es mir gebührt

aber ist dein Apfel der Versuchung giftig

ist mir jede Ausrede recht und triftig

hilft auch kein Tischlein-Deck-Dich-Zauber

werden aus Topf und Deckel keine Turteltauber

und wenn der Brautschuh mir nicht gefällt

dann gebe ich schleunigst Fersengeld

Flirte inkognito und noch lange nicht in Weiß

Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Aschenputtel heiß

 

The search must go on!

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann daten sie noch heute!

 

Dann kam die nächste Herausforderung: Meine Performance auf Video aufzunehmen. Ich musste als Regisseurin, Kamerafrau und Stylistin in Personalunion in Aktion treten.

MITTWOCH, 22 April

Dazu habe ich am Vorabend der Einsende-Deadline mein Wohnzimmer in ein Filmset verwandelt, oder besser gesagt: händeringend nach einem geeigneten Hintergrund gesucht und mit verschiedenen Lichtquellen experimentiert. Schließlich habe ich mich für die bunten Holztüren meiner Kommode entschieden (vor die ich mich im Schneidersitz auf ein Kissen platzieren musste). Schwierig war es auch, für meine Spiegelreflexkamera (mit Videofunktion) mangels Stativ einen festen Standort in der richtigen Höhe zu finden – dazu musste mein Couchtisch herhalten. Nachdem ich drei Mal mein Outfit gewechselt hatte, saß ich also auf meinem Kissen (nachdem ich vorher auf den “Record”-Knopf gedrückt und eiligst vor die Kamera gehechtet bin) und habe meinen Text vom Smartphone abgelesen  (passt ja zu “Bildschirm Bildschirm in der Hand” in meinem Vortrag) – der mein Gesicht von unten in ein zartes Blaulicht tauchte. Dabei habe ich Blickkontakt mit der Linse gesucht und meinem stummen Beobachter möglichst animiert die Geschichte erzählt. Ich habe drei Durchgänge gemacht – beim Ersten brummte der Kühlschrank geltungssüchtig dazwischen – wobei ich beim Sprechen jedes Mal lebendiger wurde, so dass ich schließlich den dritten “Take” ausgewählt habe.

DONNERSTAG, 23. April

Am nächsten Tag erwartete mich eine wahre Daten-Odysee: Meine Kamera hat die Videos im MOV-Format aufgenommen, in sehr hoher Auflösung, d.h. es galt ein mega schweres Datenpaket von 2,55 GB  zu versenden. “We Transfer” und meine Dropbox traten in Streik – Datenvolumen zu hoch. Versuche, ein kostenloses Programm zum Konvertieren und Verkleinern zu finden, scheiterten. Schließlich gab mir die nette Ansprechpartnerin vom StudierendenWerk (die ich verzweifelt anmailte) den Tipp, es mit dem Schweizer Anbieter “we send it” zu versuchen. Ja, bis 5 GB möglich. Also Video hochladen und los… S E C H S Stunden später und unzählige ruppige Wiedererweckungen meines Laptops, der ständig in seinen Dornröschen-Sleepmodus verfiel, wenn ich ihn mal alleine ließ: “Das Video steht dem Empfänger zum Download zur Verfügung.” Seufz.

Aber der nächste Rückschlag nahte schon. Ich habe dann zum Test das Video selbst auf meinem eigenen (neu eingerichteten) YOUTUBE-Kanal hochgeladen (hat “nur” 3 Stunden gedauert). Das Ergenis: Das Video ist nicht lippensynchron: Je länger es läuft (8 min), desto mehr hängen Lippen und Mimik hinterher. Das kann man sich nicht anschauen! Wenn es beim Upload von den Leuten des StudierendenWERKS auch zu diesem Effekt kommt, dann kann ich mir meinen Slam an den Hut stecken.

Außerdem gibt es beim Abspielen einige Tonausfälle /Kratzer – auch wenn ich das Video von meinem PC abspiele, je nachdem mit welchem Player. UUUUUURRRRRRRGGGGGHHHHHH!!!! Die Technik hat sich gegen mich verschworen. Ich überlege ernsthaft, ein komplett neues Video aufzunehmen, vielleicht mit dem Handy und bei Tageslicht. Aber habe ich dazu die Energie?

OOOOOOHHHHHHMMMMMMMM.

FREITAG, 24. April

Ich finde nun doch ein Konvertierungssprogramm und starte ungezählte (okay, es waren 5) Durchläufe der Umwandlung in mp4, mit unterschiedlichem Erfolg (mal ist die Tonspur verhunzt, mal geht beim Schneiden der letzte Satz verloren). Endlich bekomme ich eine perfekte Version hin – sie wiegt nur noch schlanke 418 MB und alles läuft rund. Sogar das Hochladen auf youtube gelingt ohne Reibungsverluste. Dann nochmal über Wesendit senden (geht innerhalb von 30 Minuten durch). HAAAAALLLLEEEELUUUUUJJJAAAAAA!

Ich freue mich auf die Zeiten eines Live-Auftritts! 8 Minuten, statt 8 Stunden Technik-Qualen.

Blogparade: Osterei-Elfchen mit O + Ei

Liebe Osterfreundinnen und -freunde! Weil die Ostereiersuche in diesem Jahr wegen – ihr wisst schon – nur eingeschränkt stattfinden kann, dürft ihr euch umso freudiger auf Wörtersuche machen. Die Aufgabe lautet: Schreibe ein Elfchen rund um das Osterei mit contrainte, also mit einer selbst auferlegten sprachlichen Beschränkung: Ihr dürft nur Wörter mit den Vokalen “o”, “e” und “i” verwenden, d.h. “a” und “u” sind TABU.

Ich freue mich auf zahlreiche Beiträge von euch! Die Blogparade läuft bis Ostermontag. Wer keinen eigenen Blog hat, der kann seine Kreationen gerne hier als Kommentar posten.

Hier sind meine bunten Wörter-Eier:

Morgensonne

weckt Ostereitoberei

Tochter wie Sohne

entdecken froh im Wiesenversteck

Schokowonne

 

Einerlei

ob Henne

oder Meister Hoppel

eilen ostereischleppend herbei so

regenbogenfroh

 

Hochzeit

dem Wetter

befohlen vom Osterhimmel

weder Gewitter noch Regen

Eiersegen

 

Ooooohweiiiii

Meister Hoppel

in großer Not

im Polizeiverhör wegen Eierliköreigendosis

Hochprozentigdoppelhoppel

Die Parade ist los gehoppelt:

Wo versteckte
der Osterbote
meinen Schokopreis?
Dort schimmert er im Klee!

Ich beiße rein
und schmecke
ollen Eigelbschleim
wo ich Schokoschmelz erhoffte!

Ostern
Frische Wiesen
Hier ein Nest
Fröhlich singen die Kinder
Heiterkeit

Heiterkeit
Helle Vogelstimmen
Begleiten diese Lieder
Seeliges Kindheitsgedenken birgt Frieden
Innerlichkeit

Innerlichkeit
Mein Reichtum
Liebevoll coloriert honoriert
Keimzelle der Freude immer
Ressource

  • Bei Sonja sehnt sich die SchrEIberin nach österlichem Eis:

Oweih,
welch Schreiber-Ei!
Schriftstellers Ostergeschichten
Erfinden lesen schreiben zoomen
Dichten

Spielideen
selbst kreiert
Kein Corona Stoff!
Lieber coole tolle Osterelfchen
schneidern

Osterfest
Eier roh
oder doch kochen?
Pinseln bleu-rot flieder gelb
Osterheld!

Ostern
Kinder Ferienzeit
Kopf geht reisen.
Eier pinseln, Briefe schreiben.
Fröhlichkeit!

Spitzenwetter!
Trotz Kleingeld
ohne Cookie-Eis.
Wo bleibt mein leckerschlecker
Eis r e t t e r ?

 

Blogparade eindeutig-uneindeutig: Ambivalenter Abstand

Mein Schreibgefährte Urs hat zu einer Blogparade mit dem Thema: „eindeutig-uneindeutig: Ambivalenz schreiben“ eingeladen:  “Aus aktuellem Anlass empfinden wir wohl alle gerade höchst ambivalente Gefühle und unsere Haltung ist wahrscheinlich ziemlich eindeutig-uneindeutig. Ich starte deshalb eine Blogparade mit unterem Beitrag. (…) Bitte erkundet die Ambivalenz fiktional. (…) Eurer Widersprüchlichkeit seien keine Grenzen gesetzt!”

Hier ist meine Interpretation des Themas:

Ambivalenter Abstand

Ich soll Abstand achten

zu meinen Artgenossen

das Areal in Abschnitte schneiden

in angespannter Atmosphäre meinen Atem anhalten

in der Kassenschlange artig aufpassen

zu nah! – Alarm aus aufgerissenen Augen

besser ausweichen auf achtfache Armeslänge

Achtung: Ansteckungsgefahr*

 

Ich soll Abstand aushalten

zu meiner atemlosen Angst

pausenlos Analysen anschauen

Anschauungen analysieren

alles auf die schwere Schulter nehmen

kein Attest für Andersdenkende

Arrest für Auslauffreudige

Achtung: Ausdeutungsgefahr*

 

Ich soll Abstand ausloten

zu Aktienkursen im Abflug

die alarmierte Anleger hyperventilieren lassen

zu aufmüpfigen Anarchisten

die Ampeln ausblenden und in Ansammlungen saufen

zu aufgeschreckten Arbeitgebern

die Augen wischend Ausverkauf ausloben

Achtung: Abschreckungsgefahr*

 

Ich soll Abstand aufweichen

ausbrechen aus meiner Ausgeschlossenheit

mich ausgiebig austauschen

auf alternative Angebote aufspringen

von Fenstern und Balkonen Allianz ausrufen

mich abstrakt anschmiegen

an Auserwählte und Anonyme

Achtung: Auswederodergefahr*

 

Ich soll Abstand annullieren

mich meinen Angehörigen annähern

ein Albtraum für manche Angetraute und Angegraute

den Ausnahmezustand im Apartment aussitzen

mich paarweise oder alleine im Außen austoben

aus meiner Achtlosigkeit aussteigen

dem Amselgesang aufmerksam lauschen

Achtung: Ausschweifungsgefahr*

 

Ich soll Abstand abmessen

mit Augenmaß den Mittelweg anpeilen

navigieren zwischen Panik und Vernunft

allzeit aufrichtig Anstand zeigen

Anteil nehmen und dabei Abstand geben

Optimismus aufschwingen lassen

und meine Solidarität aufrüsten

Achtung: Außerstandesgefahr*

 

* angelegentliche Anmerkung der Autorin: Antrag auf Abschaffung des Attributs „-gefahr“ allseits allgemeingültig angenommen, ausgenommen in außerordentlichen Ausnahmesituationen

Selbst fotografiert am Bahnhof Frankfurt am Main – in Zeiten vor Corona
Die Grenzen sind klar gezogen…

Schnipseljagt-Blogparade: Corona-Blues

Meine Schreibgefährtin Mo hat zur Blogparade eingeladen – mit dieser inspirierenden Collage:

Aus diesem fabelhaften Wörterfundus ist mein folgendes Gedicht entstanden.

Corona-Blues

Alle reden über C – ununterbrochen

der Kosmos hat C ins Rollen gebracht

C dreht auf – explodiert – ziemlich lunar

findet den Menschen und den einsamen Wolf

 

Alle reden über C – ununterbrochen

ein Schimmer von wunderbarem Chaos

je nach Lichteinfall

Poet, knips das Licht an!

 

Alle reden über C – ununterbrochen

sammelt euch nicht – nein, gib mir fünf

lauter schräge Gestalten

Erwischt!

 

Alle reden über C – ununterbrochen

Traumtänzerin, Genie & Sinnsucher

sind empfindlich gestrandet

niemand wärmt unsere Seelen

 

Alle reden über C – ununterbrochen

Musik im Kopf – mach lauter!

letzter Aufruf an alle Kosmoskinder

Sprich mit mir!

 

Zum Abschluss noch ein Elfchen:

Vereinzelung

ist sicher

in meinem Innenraum

blicke hinein und hinaus

Seelenschau

Update 6. Dezember 2020:

Meinen Corona-Blues hatte ich beim XXIII. Gedichtwettbewerbs der BIBLIOTHEK DEUTSCHSPRACHIGER GEDICHTE eingesendet – und oh Wunder – unter mehr als 1000 Einsendungen ist mein Gedicht unter die TOP 100 gekommen, ich habe einen Sachpreis erhalten (einen schönen Lyrik-Band) und das Schönste:

Mein Corona-Blues ist in der Anthologie der Preisträger erschienen – inklusive CD, auf der alle Gedichte von Schauspielern interpretiert worden sind – von Katja Amberger und Mark Kuhn.

Hier also mein Gedicht – wunderbar interpretiert (wie ich es selbst nie könnte) zum Anhören:

Wie gefällt es euch?

 

Blogparade Lernwelten 2030

Wir laden dich herzlich zu unserer Blogparade vom 1. März bis 30. April 2020 ein! * Moderation durch die Autorinnen *

Was denkst du, wie dein Leben und Lernen in 10 Jahren in der digitalisierten Welt aussehen wird?

Die Kurzgeschichte “Lernwelten 2030” entwirft ein Zukunftsszenario zum Studieren an einer fiktiven deutschen Hochschule im Jahr 2030 im Kontext der Digitalisierung. Die Geschichte greift Trendprognosen und Themen aus dem aktuellen Diskurs rund um (virtualisierte) Lernarchitekturen, zukunftsweisende Lehr-Lernszenarien, heterogene Bildungsbiografien sowie die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf die Lebens- und Bildungswelt auf.  Mit der Kurzgeschichte möchten die Autorinnen Ulrike Arabella Meran und Dorit Havel diesen Themen ein menschliches Gesicht geben und die interessierte Community zur Diskussion über die Potenziale und Grenzen der Digitalisierung einladen.

So machst du mit: Schreibe auf deinem eigenen Blog einen Artikel oder einen Kommentar hier im Blog. Worüber du schreibst, steht dir frei  – lass dich von der Geschichte “Lernwelten 2030” inspirieren! Du kannst entweder in der Story bleiben und die Handlung weiterschreiben oder einen Text im Stil deiner Wahl schreiben (z.B. Essay, Gedicht, Collage). Wir freuen uns auf deinen Beitrag!

Hier ist die Parade unterwegs…

  • Den Anfang macht Sandra mit einer Fortsetzungs-Szene zu Kapitel 7, in der Fiona, Kibe und Micky über die Menschenkenntnis bei Menschen und K.I.’s diskutieren – wie unterschiedlich ist sie ausgeprägt, gehört Einfühlungsvermögen auch dazu und wie beeinflusst sie Verhalten und Entscheidungen?
  • Im Anschluss-Dialog zu Kapitel 7 von Elisa findet Fiona, dass die Einbeziehung von Emotionen, Handlungen und Denkweisen auf jeden Fall zur Menschenkenntnis dazu gehören. Kibe glaubt, dass eine K.I. in Zukunft den Menschen vielleicht doch übertreffen kann. Aber kann sie jemals unfehlbar sein?
  • Im dystopischen Zukunftsszenario von Urs ermächtigt sich die K.I. Micky selbst, indem sie sich einen Namen gibt. Seine menschlichen Schöpfer verlieren sich in intellektuellen Debatten über diese Namenswahl, während sie von ihren selbst programmierten Drohnen zu Gefangenen gemacht werden. Kann die archaische Spielkonsole Atari die Menschen aus dieser digitalen Diktatur befreien?
  • Im utopischen Gegenentwurf von Miss Novice trifft Kibe Fiona im Sommer 2032 in einer bäuerlichen Kommune auf dem Lande wieder. Hier gibt es Hounderblütensirup mit Brunnenwasser und eine alternative Schule. Kein WLAN? Kein Problem. Auch Kibe ist Lehrer geworden – aber wen unterrichtet er und worin?
  • Auch Sabine entführt uns ins Jahr 2032, allerdings in ein Raumschiff in ferne Galaxien. Womit hat sich Micky wohl infiziert und wird er dadurch menschlicher?
  • Mo lädt uns in ihrer Collage in die Welten des digitalen Lernens und der virtuellen Begegnungen ein.
  • Anne nimmt uns mit ins Altenheim im Jahr 2030 zur lesebegeisterten Agathe, die vom Pflegeroboter Pingu betreut wird – ihre Gespräche kreisen natürlich um Bücher, was kuriose Nebenwirkungen hat…
  • Henning führt das Gespräch zwischen Kibe und Fiona fort – warum zeigt Fiona eigentlich so wenig Mitgefühl für die Enttäuschung von Kibe? Dann geht Kibe ein Licht auf…
  • Elisa hat eine aussdrucksstarke Collage gestaltet, inspiriert von der Learning Library mit dem K.I. Wizard (Kapitel 4)  :

“Seit dem Zusammenschluss aller deutschen Unis zu einer virtuellen Deutschlanduniversität vor zwei Jahren, sind alle Studierenden an der gleichen, da einzigen, Uni eingeschrieben. Die Universitätsleitung hat kürzlich beschlossen, die Klausurergebnisse für alle transparent ins Intranet zu stellen, um den sozialen Druck unter Kommilitonen zu erhöhen, um sie zu besseren Leistungen anzuspornen.”

  • Tim beschäftigt sich in seinem EssayDigital ist die Welt, leer sind die Köpfe” aus studentischer Sicht mit der Frage “Wie sieht die Zukunft der Bildung an Hochschulen im digitalen Zeitalter aus?” und plädiert hinsichtlich des Einsatzes digitaler Techniken für “Schritte der Entschleunigung, Reflexion und Reduktion auf das Wesentliche” und dass “weniger Digital(kultur)technik in der Bildung  mehr wäre”.

 

Wir Autorinnen haben uns mal angeschaut, welche Wörter ihr Leserinnen und Leser in euren sämtlichen Kommentaretexten zu “Lernwelten 2030” (im Zeitraum Januar bis 30. April 2020)  am häufigsten verwendet habt (dazu gibt es ein Textanalysetool). Hier sind die häufigsten “bedeutungsvollen” Begriffe in einer Word Cloud dargestellt:

 

Für weitere interessierte Mitschreiber*innen:

Schreibimpulse für ein Weiterschreiben der Handlung (siehe Kapitel 7)

  • Wie könnte das Gespräch zwischen Fiona, Kibe und Micky weitergehen?
  • Kibe telefoniert mit seiner Mutter über SkypeMAX. Gibt er zu, dass er enttäuscht ist oder hält er für sie das Bild der heilen Welt aufrecht? Hat er vielleicht Heimweh?
  • Was postet Fiona auf Instagram / InstaREAL?
  • Stellt Fiona ihren Vater zur Rede? Du könntest eine Szene in der Küche beim Abendessen schreiben, vielleicht ist Micky auch eingeladen…

Denkanstöße 

  • Welche menschlichen Bedürfnisse sind unveränderlich und welche Kommunikations- und Lernpraktiken werden sich durch das verstärkte Agieren in einer augmentierten und virtuellen Realität verändern?

  • Welche Lernarchitekturen bieten die Hochschulen der Zukunft für ein Zusammenspiel aus physischen und virtuellen Lernräumen und Werkzeugen?

  • Wie sehen ein innovatives Learning Center und eine Bibliothek der Zukunft aus?

  • Wodurch zeichnen sich die vielfältigen Bildungsbiografien der Zukunft aus? Welche (über)fachlichen Kompetenzen benötigen Studierende für den künftigen Arbeitsmarkt und wie stellen Hochschulen die Weichen?

  • Werden ethische und pädagogische Leitprinzipen (z. B. hinsichtlich einer Persönlichkeitsentwicklung) künftig eher Ballast oder „Rettungsanker“ sein?

  • Welche (bildungsbezogenen) Handlungsfelder des Menschen werden künftig am meisten von der Digitalisierung und K.I. verändert werden?

  • Wird sich die Unterscheidbarkeit zwischen realen und virtuellen (künstlich intelligenten) Dingen und Menschen künftig verstärkt auflösen? In welchen Kontexten ist die Abgrenzung zwischen „echt“ und „fake“ überhaupt wichtig? 

Titelbild von Gerd Altmann, frei nutzbar nach Pixabay Licence

Lernwelten 2030: Kapitel 7 – Eine Frage der Menschenkenntnis

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 28. Mai 2030, 9 Uhr – Fiona Kibe und Micky Mentor diskutieren über die Vorteile und Defizite einer K.I. in der Studienberatung

Fiona und Kibe saßen zusammen mit Micky Mentor in einem Gruppenarbeitsraum am Campus. Micky hatte einen sehr hilfsbereiten Charakter. Gerade schenkte er Fiona frisch aufgebrühten Kaffee aus einem All-in-One-Pot in eine Tasse auf dem Beistelltisch ein – und verschüttete dabei die Hälfte.

„Stopp Micky!“, rief Fiona und sprang auf, damit der heiße Kaffee nicht auf ihr Bein lief. Mickys große Augen in seinem blass schimmernden Gesicht schauten sie unverwandt an, dann erklang seine freundliche helle Stimme:

„Hast du dich erschrocken, Fiona? Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Beratungsmodus“, sagte Fiona knapp und um Mickys Augen leuchteten blaue Lämpchen auf, die ein Augenblinzeln imitierten. Micky war nämlich ein Roboter.

Kibe konnte sich ein Grinsen nicht verkneife, als er mit einigen Papiertüchern die Sauerei auf dem Tisch aufwischte.

„Als Praktikant würde Micky seine Probezeit jedenfalls nicht überstehen – wo er noch nicht einmal Kaffee servieren kann,“ lachte Kibe. „Da waren die Soft Robots aus meiner Ausbildung in Nairobi geschickter. Dafür hat Micky ein niedlicheres Gesicht.“

„Immerhin hat er an meiner Stimme erkannt, dass mich seine missglückte Einschenk-Aktion erschreckt hat“, sagte Fiona. Auch sie war amüsiert. Der humanoide Roboter mit seiner Größe von 1,40 Metern, seinem hübschen hellen Gesicht mit den riesigen Kulleraugen, die Kameralinsen waren, erfüllte das Kindchen-Schema und löste einen mütterlichen Beschützerinstinkt in Fiona aus – besonders, wenn er so ungeschickt war. Man sah Micky nicht an, wie intelligent er war.

FUTURA hatte eine Künstliche Intelligenz entwickelt, der für jeden studentischen User die komplette Studienplanung übernahm mit individualisierten Lern- und Qualifikationszielen, Fortschrittskontrollen, Motivationsboosts und Beratungsgesprächen. Das Ziel war, auf diese Weise jeden Studierenden individuell zur perfekt passenden Berufsqualifikation hinzuführen. Sie hatten die Künstliche Intelligenz „Micky Mentor“ getauft. Nun wollten Fiona und Kibe Micky auf seine Beratungsfähigkeiten testen. Kibe rief auf dem Smartboard die 3D-Mindmap mit ihrer bisherigen Ideensammlung auf.

„Ich kann besser denken, wenn ich hier was handschriftlich auf die bunten Karten schreibe und zeichne“, sagte Fiona. Dann befestigte sie die neuen Karten am Smartboard.

„So können wir die Zusammenhänge besser visualisieren. Ich denke besser mit den Händen.“

„Denken mit den Händen oder Thinking with Hands ist eine Kreativmethode, die Workshops kreativer, innovativer und wirksamer macht!“, meldete sich Micky ungefragt zu Wort.

„Danke für die Definition“, sagte Fiona ironisch.

„Bitte sehr“, antwortete Micky, der Ironie nicht verstand, und blinzelte sie blauäugig an.

Fiona und Kibe testeten Micky Mentor nun in mehreren Durchläufen von Beratungsgesprächen und die K.I. gab schlüssige Antworten und machte plausible Vorschläge.

„Ich finde, ab sofort können wir Micky in echten Beratungsgesprächen einsetzen und selbst als stille Beobachter dabei sitzen“, sagte Kibe enthusiastisch.

„Du willst einfach in die Pilotphase gehen? Aber wir müssen uns vorher Gedanken machen, ob wir diese K.I. überhaupt auf Menschen loslassen dürfen! Vor allem das mit der Reaktion auf Emotionen kann ganz schön daneben gehen. Wenn ein Studierender in der Beratung Entscheidungen treffen soll, die seine oder ihre Zukunft prägen, dann sollte die Mentor-Instanz auch so etwas wie Einfühlungsvermögen und Lebenserfahrung mitbringen“, sagte Fiona skeptisch. Sie dachte an die Sprechstunde bei Professorin Lindenbaum und wie wohl und gut verstanden sie sich dort gefühlt hatte. Dieser lächerliche Roboter konnte da doch niemals mithalten. 

„Kommst du jetzt schon wieder mit deinen ethischen und pädagogischen Bedenken? In den Algorithmen, die FUTURA entwickelt hat, steckt doch die Lebenserfahrung aus den gesammelten Daten drinnen“, hielt Kibe dagegen.

„Aber diese Algorithmen müssen auch ethischen Prinzipien folgen. Diese müssen wir Menschen ihnen einprogrammieren“, sagte Fiona. „Dass die K.I. meine Lernaktivitäten auswertet und mir zum Beispiel fürs My-Path-Portfolio Vorschläge für meine nächsten Lerneinheiten macht, ist natürlich praktisch. Aber meine Lernbiografie gehört mir! Wenn die K.I. demnächst mein Leben steuern will, weil sie angeblich besser als ich weiß, welche Qualifikationen ich für meinen Traumjob sammeln muss, kriege ich Zweifel!“, gab Fiona vehement zu bedenken.

„Warum? Kein Mensch kann das alles so gut überblicken, was die K.I. weiß. Mit den vielen ‘Profilen’ aus den vorigen Bildungs- und Berufswegen kann die K.I. dich sehr wohl passgenau anleiten. Es hat sich in vielen Feldern bewährt, dass aus Daten der Vergangenheit Prognosen für die Zukunft getroffen werden“, sagte Kibe.

„Das mag sein. Aber ich habe ein Problem damit, wie diese Profile von den anderen Usern erstellt und ausgewertet werden. Guck dir doch nur an, wie die Algorithmen mit Daten zu Geschlecht und Ethnie der Lernenden umgehen. Wenn in der Vergangenheit vor allem „weiße Männer“ in den Chefetagen saßen, dann ist deren Bildungsweg zum Erfolg doch keine Blaupause für dich oder mich! Deshalb müssen wir uns gut überlegen, welche Algorithmen wir der K.I. geben, denn da steckt unsere Ethik drin!“ 

Kibe schwieg und dachte nach. Das Vibrieren seines Smartphones riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf die neu eingegangene Nachricht.

 

„Was ist das denn?! Dein Vater hat mich für die Praktikumsstelle bei FUTURA abgelehnt? Dabei hatte er mich doch selbst eingeladen!“, rief Kibe. „Und was soll diese Gap Analysis? Da steht: „Um die ausgeschriebene Stelle anzutreten, müssen Sie diese fehlenden Qualifikationen erwerben…“ 

„Dass du rausgefiltert wurdest, wundert mich nicht. Mein Vater setzt für die Bewerbungsauswahl die K.I. „Select the Best“ ein“, erklärte Fiona. „Da siehst du mal, wie schlecht dich diese Algorithmen eingeschätzt haben! Gerade hast du noch ihr Loblied gesungen.“

„Dein Vater vertraut also mehr auf diese K.I., als auf seine eigene Menschenkenntnis. Er hatte mir doch gesagt, dass ich mich in seinem Workshop bewährt hatte“, stellte Kibe verbittert fest.

„Menschenkenntnis wird definiert als das Vermögen, andere Menschen richtig zu beurteilen,“ sagte Micky und schaute Kibe treuherzig aus seinen Kameraaugen an. Fiona und Kibe starrten den Roboter überrascht an. Während ihrer Diskussion hatten sie völlig vergessen, dass die K.I. jedes ihrer Worte mithörte und auf Schlüsselwörter reagierte.

„Micky, wer hat die bessere Menschenkenntnis, ein Mensch oder eine K.I.?“, fragte Kibe und fixierte das freundliche Robotergesicht mit wütend zusammen gezogenen Augenbrauen.

„’Menschenkenntnis ist das einzige Fach, in dem man ständig unterrichtet wird’. Das ist ein Spruch von Alberto Moravia. Möchtest du weitere Zitate aus der Literaturdatenbank zur Menschenkenntnis oder Hintergrundinformationen zu Alberto Moravia?“, fragte Micky. Als Kibe nicht antwortete, fuhr die Roboterstimme gleichmütig fort:

„K.I. steht für Künstliche Intelligenz. Diese bezeichnet den Versuch, bestimmte Entscheidungsstrukturen des Menschen nachzubilden, indem zum Beispiel ein Computer so gebaut und programmiert wird, dass er relativ eigenständig Probleme bearbeiten kann. Im Verständnis des Begriffs Künstliche Intelligenz spiegelt sich die aus der Aufklärung stammende Vorstellung vom „Menschen als Maschine“ wider, dessen Nachahmung sich die sogenannte starke KI zum Ziel setzt: eine Intelligenz zu erschaffen, die das menschliche Denken mechanisieren soll, bzw. eine Maschine zu konstruieren und zu bauen, die intelligent reagiert oder sich eben wie ein Mensch verhält.“

Micky blinzelte wieder blauäugig und wartete auf weitere Fragen oder Befehle. Kibe schnaubte frustriert.

„Auf Oder-Fragen kann Micky immer noch nicht antworten,“ stellte Fiona fest.

„Hast du denn eine Antwort auf meine Frage?“, sagte Kibe und schaute Fiona herausfordernd an, seine Augen glänzten. Im Gegensatz zu Micky erkannte sie, dass dieses Glänzen Tränen der Enttäuschung waren.

Hier endet die Gesprächsaufzeichnung. Wie könnte das Gespräch weitergehen? Wir möchten Sie, liebe Leserinnen und Leser, dazu einladen, diese Szene weiterzuschreiben und zu diskutieren.

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Lernwelten 2030: Kapitel 6 – Lernerfahrungen und Vorbilder

Berlin Spandau: Innovation Hub der Firma FUTURA – 8. Mai 2030

I. Fiona und Kibe im Workshop von Dozent Steven Frankenfels – 11 Uhr

Können wir endlich zum praktischen Teil kommen?“, dachte Kibe und unterdrückte ein Gähnen. Seit zwei Stunden saß er mit Fiona, Nele und neun weiteren Studierenden im Stuhlkreis im Innovation Hub der Firma FUTURA in Berlin-Spandau. Der Workshop des Professors für Lernpsychologie fand dort statt, weil die Studierenden an einem Kooperationsprojekt zwischen der Universität und der IT-Firma mitarbeiteten. In den letzten Tagen hatten die Studierenden im virtuellen Lernraum die 3D-Darstellung der neuen K.I.-LearnerPads mit Notizen versehen. Nun sollten sie Forschungsfragen entwickeln.

Kibe rollte auf seinem Drehstuhl näher an Fiona heran und flüsterte ihr zu:

Immer wenn dieser Prof unsere Diskussion moderiert, dauert es so lange. Nach seiner Pädagogik ist es scheinbar streng verboten, klare Antworten auf unsere Fragen zu geben.“

Ja, er ist nur dann zufrieden, wenn er alle Klarheiten beseitigt hat“, wisperte Fiona. „’Umgehen mit Unsicherheit’ nennt er das.“

Ich würde lieber was Brauchbares für meine spätere Arbeit lernen“, dachte Kibe.

Dann kam der Co-Dozent Steven Frankenfels in den Raum und zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er begrüßte die Studierenden mit einem strahlenden Lächeln. Fiona sah, wie er beiläufig die RoleXX an seinem Handgelenk berührte und wusste, dass er den Aufnahmemodus seiner smarten Uhr aktiviert hatte. Nach dem Seminar würde er eine genaue Auswertung seiner Performance erhalten. Anhand der Stimmaufnahme erstellte das Gerät ein Profil seiner Emotionen und eine Animation zeigte ihm, wann seine Stimme in der optimalen „Teaching Modulation“ – die durch ein Expertenteam an Psychologen und 1000 Testpersonen ermittelt worden war – gewesen war und wann nicht. Er benutzte seit einigen Monaten diese in seiner Firma entwickelte „Your Voice Your Choice“ Selfcoaching-App und hatte seine Stimmmodulation erfolgreich damit trainiert.

In seinem maßgeschneiderten Dreiteiler aus chinesischer Zuchtseide sah er aus, als sei er eben den Hochglanzseiten eines Manager Magazins entsprungen. Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Artisten zwischen den Stühlen, bezog jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer ein, nichts schien ihm zu entgehen. Fiona hatte schon oft erlebt, wie ihr Vater sein Charisma zu seinem Erfolg einsetzte. Erst kürzlich hatte ihm seine Nominierung als „Visionary of the Year“ einen lukrativen Deal als Markenbotschafter für den neusten autonom fahrenden BMW eingebracht.

Frankenfels erklärte den Studierenden nun den Arbeitsauftrag und dann testeten sie die K.I.-LearnerPads. Dafür setzten alle ihre Mixed-Reality-Brillen auf, mit denen sie sehen konnten, wie die virtuellen Lernobjekte den physischen Raum überlagerten. Sie spielten ein interaktives Lernszenario durch und probierten dabei aus, wie die K.I. nicht nur auf die Spracheingaben, sondern auch auf die Gesichtsmimik der Lernenden reagierte und sie psychologisch auswertete.

Fiona fand es seltsam, ihren Vater als Dozenten zu haben. Sie hatte das Gefühl, sie würde von ihm besonders kritisch beobachtet. Aber sie war auch fasziniert davon, ihn in Aktion zu erleben. Er kam ihr vor wie ein Trapezkünstler in der Manege, der sein Publikum immer wieder zum Staunen brachte. Ihr fiel auf, wie schnell er zwischen den Welten wechselte. Im einen Moment zeigte er Kibe etwas in der Mixed Reality, im nächsten regelte er Geschäftliches. Dazu sprach er leise in seine intelligente Smartphone App „Director“ und gab so seinem Assistenten Lasse Anckarström Arbeitsaufträge. Für manche Eingaben musste er nur in einem bestimmten Rhythmus auf ein Sensorfeld tippen. Das funktionierte wie bei alten Morsezeichen, hatte Frankenfels seiner Tochter erklärt. Vom Morsen hatte Fiona noch nie gehört.

Fiona schmunzelte, als sie entdeckte, dass ihr Vater die neuen Sneakers der Marke „Nature Lover“ trug. Ihr zuliebe hatte er seine Lederschuhe gegen dieses klimaneutral und vegan hergestellte Produkt eingetauscht.

Plötzlich stand Steven Frankenfels neben seiner Tochter.

Wieso hältst du dich bei der Teamarbeit immer im Hintergrund? Du solltest hier Erfahrungen als Team Leader sammeln“, sagte er und Fiona fühlte sich wie ein Schulmädchen aus der letzten Reihe.

Papa, es ist doch giga unfair, wenn ich meinem Team die Lösungswege verrate, die du mir gestern erklärt hast. Damit mache ich ihnen das Learning by Testing kaputt.“

Das sind deine Mitbewerber im Business, du musst jeden Vorteil nutzen“, sagte ihr Vater mit gesenkter Stimme, die seinen Unmut verriet. Die RoleXX an seinem Handgelenk blinkte rot auf – offensichtlich war Frankenfels von seiner stimmlichen Optimalmodulation abgewichen. Fiona verkniff sich eine trotzige Antwort, schließlich war ihr Vater auch ihr Dozent und da konnte sie sich nicht alles herausnehmen. Schon wendete sich ihr Vater mit einem eleganten Schwung ab und sprach wohl moduliert mit einem ihrer „Mitbewerber“.

Soll er doch sagen, was er will! Ich gehe mit meinen Mitstudis so um, wie ich es richtig finde“, dachte Fiona und zwirbelte eine Haarlocke um ihren Zeigefinger. Diese kleine Marotte hatte ihr Vater ihr nicht abgewöhnen können.

Fiona dachte an den Workshop bei Professorin Lindenbaum, in dem sie erst gestern einige gute „Peergroup Learning“-Techniken ausprobiert hatte. Genau so wollte sie ihr Team beim Lernen anleiten. Auch wenn sie dann vielleicht nicht die Lorbeeren einheimste, die ihr Vater von ihr erwartete.

II. Kibe holt Rat bei Steven Frankenfels ein und erzählt von seinem Bildungsweg – 8. Mai 2030 – 14 Uhr

Nach dem Workshop ging Kibe zu seinem Dozenten Steven Frankenfels in die Sprechstunde, um ihn zu seinem geplanten Startup „Boost Kenya“ um Rat zu fragen.

Frankenfels war in den vergangenen Wochen bereits aufgefallen, dass der junge Kenianer viele gute Ideen in die Workshops einbrachte und sich zum Einsatz der Lerntechnologien im Alltag Gedanken machte. Er fragte Kibe nach dessen Berufserfahrung.

Als ich mit 18 mit der High School fertig war, dachte ich nicht daran, an eine Uni zu gehen. Keiner in meiner Familie hat das gemacht“, erzählte Kibe. „Mein älterer Bruder arbeitet bis heute in Nairobi in einer Firma, die Soft Robots herstellt. Das gefällt ihm gut. Also habe ich dort eine Ausbildung als Mechanical Engineer gemacht. Zuerst war es echt was Neues, am Fließband Seite an Seite mit den Robotern zu arbeiten. Die waren aber nicht besonders gesprächig, sie konnten nur präzise Handgriffe“, sagte Kibe lächelnd. „Unsere gebauten Soft Robots waren natürlich viel schlauer. Und ich wollte dann immer mehr wissen, wie man so eine Künstliche Intelligenz herstellt.“

Frankenfels hörte interessiert zu. Kibe kam sich wie in einer Prüfung vor und strengte sich an, seine Qualitäten herauszustellen. Er erzählte, wie er nach vier Arbeitsjahren genug gespart hatte, um ein IT-Bachelorstudium an der Murang’a University of Technology aufzunehmen. Dort gab es aber zu wenige Dozenten, da die Ehrgeizigen abwanderten. Deshalb füllte Kibe diese Lücken, indem er sich mit YouTube-Tutorials und MOOCs weiterbildete. Was anfangs eine Notlösung war, zeigte sich bald als Türöffner für ihn.

Dann habe ich am MIT einen „MicroMasters“ zu den Grundlagen von Künstlicher Intelligenz geschafft. Das war ganz schön anstrengend, aber damit konnte ich mich für das Stipendium hier in Berlin bewerben“, sagte Kibe.

Und was ist Ihr Konzept für Ihre Startup Firma?“, fragte Frankenfels.

Das Bildungssystem in Kenia hat Lücken. Dann ist es eine riesige Chance, wenn man an Online-Kursen an anderen Schulen und Unis teilnimmt. Das habe ich selbst erlebt“, erzählte Kibe enthusiastisch. „Und dafür muss der digitale Zugang geschaffen werden.“

Kibe erklärte, dass es in Nairobi eine Stiftung gab, die Tablets an Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten verlieh, die sich Bildung sonst nicht leisten könnten. Das Problem war, dass sie mit der digitalen Ausrüstung dann allein gelassen wurden. Kibe hatte vor, für diese Tablets einen künstlich intelligenten Tutor zu entwickeln, der die Lernenden in Kenia bei selbständigen Lernphasen inhaltlich unterstützte.

Natürlich brauche ich auch Menschen vor Ort als Tutoren, die das Ganze begleiten. Für diese Tutoren könnten wir Weiterbildungsworkshops organisieren. Das lässt sich vielleicht über Spenden finanzieren, die wir mit einem „Harambee“-Event sammeln.“

Das klingt nach einem tragfähigen Konzept. Als Kreativdirektor Ihres Startups müssen Sie nicht der Experte in allen Details sein“, sagte Frankenfels, „aber Sie müssen alle Fäden zusammenführen, Konzepte entwerfen und die Aufgaben an die passenden Experten geben. Sie begeistern Ihr Team am besten für Ihre Ideen, wenn Sie ihm Spielräume zum Ausprobieren geben.“

Mir ist schon aufgefallen, wie gut die kreativen Teams bei FUTURA zusammenarbeiten. Ich könnte bei Ihnen viel für mein eigenes Startup lernen“, sagte Kibe. Er gab sich einen Ruck, schließlich war ihm beigebracht worden, dass man persönliche Connections für seine Karriere nutzen sollte.

Ihre Tochter Fiona hat mir erzählt, dass es bei FUTURA einige Praktikumsplätze gibt. Ich würde mich gerne darauf bewerben“, sagte Kibe hastig.

Das können Sie gerne tun“, sagte Frankenfels erfreut. „Aber auf unsere Stellen bei FUTURA bewerben sich so viele, dass unsere K.I. „Select the Best“ [SeB] eine Vorauswahl trifft und herausfiltert, wer Facetime für einen Pitch bei mir bekommt. Dabei wertet SeB für jeden Bewerber die gesamte bisherige Bildungs- und Beschäftigungsvita aus und erstellt so ein Qualifikationsprofil. Das wird dann mit dem Idealprofil verglichen, das wir für diese Stelle haben. Sie wissen sicherlich, dass es den Datenpool „Stories of Failure and Success“ gibt, in dem Algorithmen unzählige Berufsvitas auswerten und so beziffern können, welche Personen in welchen Job-Positionen erfolgreich sind und sein werden. Unsere SeB zieht sich aus diesem Pool die Idealprofile für unsere Stellen raus. So finden wir zuverlässig die Besten für jedes gewünschte Anforderungsprofil.“

Kibe schwieg eingeschüchtert. „Wie soll ich in so einem harten System je einen Job bekommen?“, dachte er. „Wie können diese Algorithmen wissen, wie viele Hürden ich genommen habe, um das zu erreichen, was Anderen in den Schoß gefallen ist?“

Aber manchmal fallen mir helle Köpfe auf und ich lade sie direkt zum Pitch ein“, fügte Frankenfels mit freundlicher Stimme hinzu. „Bei Ihnen, Kibe, sehe ich Potenzial. Wenn Sie Interesse an einem Praktikum bei FUTURA haben, können Sie Ihr Bewerbungsportfolio an meinen Assistenten Lasse Anckarström mailen.“ Frankenfels zeigte Kibe seine digitale Visitenkarte und Kibe scannte die Kontaktdaten mit seinem Smartphone ab.

Das mache ich sofort! Vielen Dank für diese Chance!“, sagte Kibe und konnte sein Glück kaum fassen. Kibe ging mit leuchtenden Augen aus dem Gespräch mit Frankenfels. Mit diesen neuen Gedanken und Möglichkeiten nahm sein Weg in die Zukunft Gestalt an.

III. Steven Frankenfels hat einen neuen Werbeauftrag für die Kunstfigur „Estello“ und entscheidet über Kibes Bewerbung als Praktikant – 18. Mai

Steven Frankenfels hatte im Innovation Hub seiner Firma FUTURA gerade die neuen K.I.-Features seiner RoleXX getestet. Nun ging er zu einem „Private Meeting Cube“, schloss die Tür und aktivierte den Privatsphäre-Modus, der die Glaswände in Milchglas verwandelte, und skypte mit Andy von der Social Media Marketing Agentur, die sich auf das Erschaffen von Influencer-Kunstfiguren spezialisiert hatte.

Hallo Andy, Danke für den Report zu meinem vorigen Auftrag. Die Reihe mit Estello in Cannes ist wirklich gut gelaufen: 7.000 neue Abonnenten auf InstaREAL. Das Red Carpet Video hatte fast eine Millionen Viewer“, stellte Steven fest.

Ja, bei den Kommentaren dazu gab es auch einen Rekord. Das Flirting Update bei unserer Estello-K.I. hat sich ausgezahlt“, sagte Andy. „Wenn Sie weitere Red Carpet Live Appearances buchen wollen, reserviere ich unser Model Marco für diese Termine.“

Ja, ich buche drei Mal Red Carpet mit Marco für die nächsten sechs Wochen. Was sagen Ihre Datenkraken zum aktuellen Interessenprofil unserer Zielgruppe? Was eignet sich für die Daily Posts von Estello?“

Die Typen ‘Fashion Fail’ und ‘Backstage Peek’ haben sich in den letzten zwei Wochen ausgereizt. Upcoming Favorites sind ‘Homestorys’ und ‘Urban Gardening’ mit Frühlingsblumen“, empfahl Andy.

Gut, dann machen Sie in den nächsten Tagen eine mehrteilige Homestory, in der Estello mit intelligentem Support seiner RoleXX seinen Dachgarten bepflanzt. Die Details überlasse ich Ihnen. Ich schicke Ihnen gleich den Text zu den Features, die beworben werden sollen“, schloss Steven Frankenfels den Auftrag ab.

Schon stand der nächste Termin an. Pünktlich zu ihrem Meeting kam Lasse Anckarström, der persönliche Assistent von Frankenfels, in den Cube. Der junge Schwede hatte sich innerhalb von zwei Jahren bei FUTURA in diese Position hochgearbeitet. Frankenfels schätzte die Zielstrebigkeit, mit der Anckarström bereits als Student die passenden Qualifikationen für diesen Job erworben hatte. Unter dem langen blonden Haar, das Anckarström in einem trendigen Knoten trug, steckte ein präzise arbeitender Verstand.

Nun besprachen sie, welche FUTURA Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich auf welche anstehenden Projektaufgaben beworben hatten.

Die eine Praktikumsstelle ist noch unbesetzt. Das hier sind die Bewerbungsportfolios der drei besten Kandidaten, die SeB ermittelt hat“, briefte Anckarström seinen Chef.

Wie hat mein Student Kibe Ndung‘u abgeschnitten?“, fragte Frankenfels.

Moment, ich schaue nach“, sagte Anckarström. „Beim Abgleich mit dem Idealprofil für diese Stellenausschreibung hat er nur 69 Prozent erzielt. Seine Zusatzpunkte für „Personal Recommendation“ haben ihn auf 89 Prozent hochgebracht, aber damit liegt er auf Platz 5 im Ranking.“

Hm. Dann klappt es diesmal nicht. Bitte schicken Sie ihm die übliche Gap Analysis, damit er weiß, an welchen fehlenden Qualifikationen er bis zu seiner nächsten Bewerbung arbeiten muss“, entschied Frankenfels.

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Lernwelten 2030: Kapitel 5 – Wege entstehen im Gehen

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 22. Februar 2030, 14 Uhr – Fiona in der Studienberatung bei Birgit Lindenbaum, Professorin für Pädagogik

Fail, ich komme zu spät“, dachte Fiona als sie zum Büro von Professorin Lindenbaum hetzte. Auf ihrem Smartphone blinkte auf, dass ihr Termin zur Studienberatung vor zwei Minuten angefangen hatte. Auch die Lichtanzeige an Lindenbaums Tür leuchtete grün. Aber die Tür war noch geschlossen. „Glück gehabt!“ Fiona wusste, dass die Professorin die Wartenden immer selbst hereinbat, man musste warten, bis sie die schwere Holztür öffnete. Ihr Büro befand sich im ältesten Universitätsgebäude, das kürzlich modernisiert wurde. Fiona hatte gehört, dass Professorin Lindenbaum ihr bewährtes Refugium gegen jegliche Eingriffe verteidigt hatte. Die meisten der anderen Büros wurden gerade in Co-Working-Spaces und Multifunktionsräume umgebaut.

Fiona ließ sich in den Sitzsack fallen und ihr Blick fiel auf die Decke über ihr. Dort schwebte dank einer Animation ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken, der gar nicht zum grauen Winterhimmel draußen passte. „Wie der Himmel wohl gerade in Afrika aussieht?“, fragte sich Fiona. Hoffentlich würde die Professorin sie dabei unterstützen, dass ihr Traum von Kenia Wirklichkeit werden würde. Sie wollte die Schulen dort mit eigenen Augen sehen, in die Gesichter der Menschen blicken, den Geruch der Luft, der Erde und des Essens in sich aufnehmen.

Jetzt vibrierte KIM und zeigte an, dass es schon zehn Minuten nach Terminbeginn waren. Fiona wippte ungeduldig mit dem Fuß und das Granulat im Sitzsack knirschte unter ihrer Bewegung. Um 14:12 Uhr öffnete sich die Tür und die Professorin erschien im Türrahmen. Mit ihrer schmalen hohen Gestalt und den langen, weiß schimmernden Haaren, die offen über die Schultern hinabfielen, erinnerte die Professorin sie an eine Elbenkönigin aus den Fantasyromanen, die Fiona so liebte.

Kommen Sie bitte herein, Fiona“, sagte Birgit Lindenbaum mit ihrer warmen Stimme und lächelte mit kirschrot geschminkten Lippen. Fiona folgte der Professorin in deren Büro. Sofort wurde sie umfangen von diesem Zauber aus Ruhe und Bodenständigkeit. Der Duft von würzigem Tee und das Plätschern eines kleinen Salzsteinbrunnens auf der Fensterbank neben den rankenden Zimmerpflanzen, deren Namen Fiona nicht kannte, ließen ein wohliges Gefühl in ihr aufkommen. Fiona nahm an dem altehrwürdigen Holztisch Platz.

Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte die Gastgeberin und Fiona nickte.

Es ist ein Matcha Tee aus Japan, ich habe ihn zwölf Minuten ziehen lassen“, sagte die Professorin und deutet auf eine kleine Sanduhr, „und dabei meine Teemeditation gemacht.“

Eine Teemeditation?“, fragte Fiona erstaunt.

Während der Tee zieht, schaue ich ihm dabei zu – und keine Terminbimmelei kann mich davon abhalten. Nur wer gute Pausen macht, kann danach produktiv arbeiten. Keine Sorge, ich habe eine ganze Stunde für Sie reserviert, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.“ Die Professorin lächelte sanft und nippte an ihrem Tee. Fiona pustete in die grüne Flüssigkeit, deren Dampf sich warm auf ihre Wangen legte. Ihre Augen wanderten durch das Büro, das mit exotischen Dingen ausgestattet war. Am Boden lagen Wollteppiche mit geheimnisvollen Zeichen, vielleicht Kalligraphie? An den Wänden hingen bemalte Masken. Woher sie wohl stammten? Fionas Blick blieb an einem wunderschönen Foto von einem Baum mit rosafarbenen Blüten hängen.

Haben Sie das selbst fotografiert?“, wollte sie wissen.

Ja“, sagte die Professorin. „Ich war zum O-Hanami – dem Kirschblütenfest – in Japan. Mit einem Foto kann man die ganze Schönheit und den Duft leider nicht einfangen.“

Fiona hätte die Professorin gerne zu jedem dieser Einrichtungsstücke gefragt, wo es herkam und was es bedeutet. Fiona wurde klar, wie wenig sie von der Welt wusste. Ja, sie konnte sich Millionen von Kunstschätzen und Landschaften virtuell anschauen, aber das waren doch nur leblose Nullen und Einsen.

Waren Sie schon mal in Afrika?“, platzte es aus Fiona heraus. Die Professorin schaute sie aufmerksam aus ihren graublauen Augen an.

Nein, in Afrika nicht. Aber ich habe einige Jahre in Japan gelebt. Dort habe ich Bildungskonzepte entwickelt, die sich auf individuelle Lernwege zuschneiden lassen“, sagte Birgit Lindenbaum. „Interessieren Sie sich für Afrika?“

Ja, sehr, aber ich war noch nie dort. Meine Cousine Lena ist gerade als Lehrerin in Kenia. Sie hat mir erzählt, dass man vieles erst richtig versteht, wenn man dort ist. Zum Beispiel hat ein deutscher Sponsor für diese Grundschule iPads und XR-Brillen liefern lassen, aber einige Schulkinder haben noch nicht mal richtige Brillen fürs tägliche Leben! Außerdem können sich die wenigen Lehrerinnen gar nicht um alle Kinder kümmern“, sprudelte Fiona hervor.

Es fehlen auch gute Unterrichtsmaterialien“, fuhr sie fort. „Und der Stoff ist wirklich nur Basiswissen, damit können die jungen Leute im internationalen Wettbewerb nicht mithalten. Und wer kein Geld für ein gute, private High School hat, kann es nur mit besonderem Talent und Ehrgeiz auf eine Uni schaffen. Aber Kenia hat viele Seiten. Mein Lernpartner aus Kenia hat mir von seinem Studium an der Murang’a University erzählt. Ich war erstaunt, wie modern sie dort ausgestattet sind. Aber für sein Stipendium hier in Deutschland war viel Eigeninitiative nötig“, erzählte Fiona.

Ja, das gilt für alle jungen Menschen, egal, wo auf der Welt. In der heutigen Zeit müssen Sie fachlich fit sein, aber auch Ihre Bildungsbiografie aktiv selbst gestalten“, sagte Birgit Lindenbaum.

Ehrlich gesagt fällt mir das mit der Selbststeuerung manchmal schwer. Ich hätte gerne mehr Input von meinen Dozenten. Ich habe das Gefühl, ich gehe gerade in die falsche Richtung…“, gab Fiona zaghaft zu.

Birgit Lindenbaum schwieg. Sie schrieb mit ihrem Füller etwas auf ein dickes Stück Papier und reichte es Fiona.

‘Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen.’ Von Antonio Machado, Gedicht XXIX im Zyklus Kastilianische Landschaften, 1912“, las sie.

Muss ich das kennen? Fiona kramte in ihrem Gedächtnis. Jetzt bloß nichts Falsches sagen.

Äh … schönes Briefpapier“, sagte Fiona.

Das ist von Hand geschöpftes Papier aus Japan“, sagte Lindenbaum lächelnd. Dann reichte sie Fiona aus dem Regal ein Buch, das sehr alt aussah, mit einem Einband aus Leder.

Das hier ist die Übersetzung der „Campos de Castilla“ Gedichte vom Spanischen ins Deutsche von Fritz Vogelsang. Ich habe ein Faible für Lyrik mit etwas Kitsch“, lächelte Lindenbaum. „Sie können ja mal hineinschauen. Wenn Ihnen die Gedichte gefallen, können Sie das Buch behalten … bis es eine neue Leserin findet. Auch Bücher wollen wandern.“

Fiona nahm das wundersame Buch. Beide schwiegen, der Zimmerbrunnen plätscherte.

Es gehört zum Leben, nicht alle Antworten zu kennen“, sagte Birgit Lindenbaum. „Oft lohnt es sich, einen erfahrenen Menschen zu fragen. Was genau ist heute Ihr Anliegen, Fiona?“

Also es geht um die Entscheidung, welche Seminare ich im kommenden Semester belegen soll“, sagte Fiona. Die Professorin rief auf ihrem Notebook das Studierendenprofil von Fiona auf, dort hatte Fiona aus ihrem My-Path-Portfolio ihre bisherigen Studienleistungen und Kompetenzprofile freigeschaltet.

Wie Sie sehen, habe ich in den letzten drei Semestern Module zu Lernpsychologie und Economy & Strategy im Projektmanagement belegt und auch Kompetenzen für K.I. Education Systems erworben“, erklärte Fiona.

Warum denken Sie denn, dass dieser Weg Sie in die falsche Richtung führt, Fiona?“

Ich möchte etwas mit Bildungsentwicklung in Kenia machen. Und mir wird immer klarer, dass es für gute Bildungskonzepte Planerinnen braucht, die Knowhow in Lerntechnologien haben, sich aber auch mit Pädagogik und Projektmanagement auskennen. Aber wenn ich mir die aktuellen Stellenausschreibungen anschaue, finde ich dieses Profil nicht wieder. Vielleicht stelle ich mir auch etwas Unrealistisches vor?“, sagte Fiona.

Das haben Sie gut erkannt. Die Berufsfelder und Technologien entwickeln sich rasant weiter. Sie müssen sich so qualifizieren, dass Sie gut gerüstet sind für die neuen Berufsprofile, die sich heute abzeichnen. Aus meiner Erfahrung mit Bildungsprojekten kann ich Ihnen sagen, dass Sie als medienpädagogische Bildungsmanagerin auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt gefragt sein werden“, sagte Lindenbaum.

Ja? Giga!“ rief Fiona erleichtert. „Und in einem bin ich mir seit meinem Praktikum an einer Berliner Grundschule sicher: Mir liegt das Arbeiten mit Kindern. Ich denke, dass ich eine gute Lehrerin werden kann. Dafür fehlen mir aber bisher die pädagogischen Qualifikationen.“

Dann sind Sie bei mir doppelt an der richtigen Adresse“, sagte Birgit Lindenbaum, die nicht nur Studienberaterin, sondern auch Pädagogikprofessorin war. „Gibt es denn im Sommersemester ein pädagogisches Modul, das Sie gerne belegen würden?“

Ja, Ihr Kurs zur pädagogischen Anleitung von Peergroup-Learning interessiert mich sehr. Ich habe dazu Ihre Podcasts angehört.“

Da Sie das Einführungsmodul verpasst haben, kann ich Ihnen einen Quereinstieg mit einer Aufnahmeprüfung anbieten. Dafür schalten Sie mir bis zum 15. März eine Portfolio-Präsentation frei. Darin stellen Sie mir Ihre bisherigen Projekte innerhalb und außerhalb der Universität vor. Als Motivationsschreiben hätte ich gerne, dass Sie Ihren Traumberuf beschreiben und welche Kompetenzen Sie dafür weiterentwickeln möchten.“

Ja, das mache ich gerne, vielen Dank!“, strahlte Fiona.

Professorin Lindenbaum nickte und tippte das Besprochene mit flinken Fingern in ihr Notebook ein.

Als Fiona die Studienberatung leichten Schrittes verließ, sah sie ihren zukünftigen Weg in schillernden Farben vor sich liegen.

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Lernwelten 2030: Kapitel 4 – Virtuelle Wörterwelten: Wissenschaft und Magie

Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 12. Februar 2030, 11 Uhr – Fiona und Kibe besuchen die Learning Library

Warum werden überhaupt Regale aufgestellt, wenn die Bücher fake sind?“, fragte Kibe. Er stand mit Fiona in der Learning Library und hielt eine Buchattrappe aus Pappe in der Hand. Der große Raum wurde von Holzregalen in Bereiche unterteilt, in denen Studierende an Arbeitstischen saßen und leise an ihren Pads arbeiteten. Viele Finger flogen über die Flüstertastaturen der Notebooks. Manche Studierende machten sich Notizen auf Papier.

Ich finde das gemütlich – in dieser Atmo komme ich in Lesestimmung. Und es ist leise“, sagte Fiona. „Pass auf, was gleich um 11 Uhr passiert.“

Ein leiser Gong durchbrach die Stille, die Lichtstimmung änderte sich und es kam Bewegung in den Raum. Einige Studierende verließen ihre Stillarbeitsplätze, andere kamen herein, suchten sich alleine oder in Tandems Plätze und ein leises Murmeln und Rascheln erfüllte den Raum.

Von 7 bis 11 Uhr ist nämlich Stille-Phase angesagt und zwischen 11 und 17 Uhr ist Dialog-Phase, dann ist leises Reden erlaubt. In den Abendstunden ist es dann wieder stiller. Hörst du jetzt dieses busy buzzing? Das klingt wie lauter Arbeiterinnen in einem Bienenstock, findest du nicht? Wenn ich höre, wie die anderen hier fleißig in allen Nischen arbeiten, krieg ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich hier nur herum sagge!“

Kibe lauschte und nickte. Sie machten einen Rundgang durch die Learning Library. Es gab keinen zentralen Lesesaal, wie Kibe es aus klassischen Bibliotheken kannte, sondern viele verschiedene Zonen, die um die Lichthöfe herum angeordnet waren. Während Kibe sich umschaute, lehnte es sich gegen eines der Bücherregale, das plötzlich nachgab, Kibe strauchelte und fand dann geschickt sein Gleichgewicht wieder.

„Was ist das denn für eine wackelige Fehlkonstruktion?“, fragte er.

„Das ist extra so gemacht. Man kann das Regal auf den Rollen verschieben und sich so eine Nische bauen. Siehst du?“, zeigte Fiona ihm den Kniff. „Das mache ich gerne, da drinnen hab ich meine Ruhe und keiner guckt mir über die Schulter. Außerdem kann ich mir eine mobile Leselampe mit reinnehmen.“

Zusätzlich gab es als Leseräume einige Kaminzimmer, wo ein künstlicher Kamin und weiche Ohrensessel für Gemütlichkeit sorgten. Dort waren die Still- und Dialogphasen genau andersherum geregelt als in den anderen Zonen. Gerade abends saßen die Studierenden hier gerne zum Plaudern beisammen.

Dann gingen Kibe und Fiona zu einem der großen Touchscreens, der ihnen die virtuelle Mediathek „ShowMe“ zeigte. Kibe loggte sich ein und schon stand er im dreidimensionalen Foyer eines futuristischen Wolkenkratzers. Schon oft hatte er diesen Raum über sein Smartphone betreten, hatte das Wegesystem durchschritten und Lernobjekte angeschaut. Wenn ihn etwas interessierte, berührte er das Sternicon, dann fand er das Lernobjekt in seinem persönlichen „My Collection Space“ wieder. Noch nie war er an die Grenzen dieses Raums gestoßen, hinter jeder Flurbiegung, hinter jeder Tür fand er neue Medien.

Immer zur Stelle war der virtuelle Suchhelfer Wizard. Der Avatar dieser Künstlichen Intelligenz sah nach Kibes Look-Anpassung wie Shuri aus, der hilfreichen und schönen Schwester vom Superhelden König T’Challa aus seinem Lieblingsfilm Black Panther. Der Wizard verarbeitete zu den gängigen Forschungsthemen alle wissenschaftlichen Textveröffentlichungen und Lernmedien in den meistgesprochenen Sprachen der Welt. Dabei konnte er mehr als eine althergebrachte Suche nach Schlagwörtern und Hashtags, denn schließlich war er ein „smarter Wissenschaftler“, wie er für sich warb. Der Wizard durchsuchte auch die Literaturverzeichnisse, Referenzen, Zitate, Querverweise, Verlinkungen, Peer-Reviews, User Bewertungen und auch wie oft ein Lernobjekt aufgerufen und von den Usern für ihre Collection „gesammelt“ wurde. Er tauschte außerdem Daten mit Online-Warenhäusern aus und wusste, wie oft welche Bücher und Medien heruntergeladen, gestreamed und gekauft wurden. So konnte er ermitteln, welche Texte und Medien aufeinander Bezug nahmen, welche besonders beliebt, unbeliebt oder heftig diskutiert wurden.

Kibe und Fiona fragten den Wizard nun nach Wissenschaftsliteratur zu Bildungsförderprojekten in Kenia. Sofort zeigte ihnen der Wizard eine Hashtag-Wolke und eine vernetzte Visualisierung von Publikationstiteln erschien wie von Zauberhand auf dem Bildschirm.

Fiona stutzte: „Häh? Diese drei Titel landen bei meiner Suche fast immer im Topptipp.“

Das liegt daran, dass der Wizard käuflich ist“, sagte Kibe. „Das ist genauso wie bei Amazon, da sind die guten Kundenbewertungen auch fake und gekauft.“

Echt? Solche Mechanismen kenne ich von Fantasyromanen im Online-Buchhandel. Gerade wird „Fifty shades of mist“ so zum Erfolg gehyped. Aber dass der Wizard der Unis auch so manipuliert wird? Das kann ich kaum glauben!“, wandte Fiona ein.

Ich habe letzten Sommer virtuell an einem MOOC [Massive Open Online Course] hier an der Ada Lovelace Universität teilgenommen“, erklärte Kibe. „Ich wollte mehr über wissenschaftliches Arbeiten lernen, weil das im Studiengang an meiner Heimatuni nicht vorkommt. Dabei habe ich gelernt, wie ich erkenne, welche Fachliteratur gute Qualität hat und ob sie seriös ist. Einige Autoren schreiben nämlich einfach das Forschungsergebnis rein, das ihre Auftraggeber haben wollen.“

Ah, du hast Recht! Das ist ja wie verstecktes Produktsponsoring!“, rief Fiona.

Und guck dir mal die Toppautoren zu Bildungsentwicklung in Kenia an“, sagte Kibe. „Das sind doch amerikanische Autoren, die das Leben in Kenia nur von außen kennen. Wenn du was Echtes über Bildungsprojekte lesen willst, dann lies Erfahrungsberichte von Einheimischen.“ Kibe zeigte Fiona zwei autobiografische Blogs auf seinem Smartphone. „Aber der Wizard kennt diese Art von Literatur gar nicht!“

Ja, mit all so künstlerischen Sachen wie Autobiografien, Romanen, Filmen und Serien hat der Wizard nichts am Hut, dieser alte Kulturmuffel“, sagte Fiona. „Und die Klatschpresse kennt er auch nicht, aber das spricht eigentlich für seinen guten Geschmack“, kicherte sie.

Fiona schaute auf die Uhr ihres Smartphones.

Jetzt müssen wir los zum Science Incubator in Berlin-Spandau. In einer halben Stunde fängt dort unser Workshop im Lernlabor von FUTURA an,“ sagte sie. „Die höheren Semester haben mir erzählt, dass man früher mit den U-Bahnen und Bussen von hier in Dahlem bis Spandau fast eine Stunde gebraucht hat. Jetzt nehmen wir einfach die Seilbahn, die ist super praktisch: umweltclean, leise und schnell! Bald soll es noch mehr davon in Berlin geben, denn der Smog und die verstopften Straßen nerven echt. Auch in den U-Bahnen ist es oft voll und stickig.“

Sie kamen bei der Seilbahnstation an. Dort wartete Nele auf sie, die Lernpsychologie studierte und zu ihrem interdisziplinären Workshopteam gehörte. Nele stürmte auf Fiona zu und sprudelte los:

Hast du schon das neuste Video von Estello gesehen?“ Sie zeigte Fiona auf InstaREAL wie der schöne Italiener auf dem roten Teppich in Cannes an der Seite der Pop Prinzessin Louane posierte.

Ob die Gerüchte stimmen, dass zwischen den beiden was läuft?“

Nee, guck dir mal ihr Styling an. Fail! Sie passt gar nicht zu ihm“, rettete Fiona den Traum von Estellos Singlestatus.

Guck, gerade hat Estello auf meinen Kommentar geantwortet“, jubilierte Nele. „Giga! Er erinnert sich sogar, dass ich ihn gefragt hatte, was seine neue RoleXX alles kann!“ Nele sprach in ihr Smartphone: „Ah, deine Watch ist fly! Wenn du sie mir schenkst, muss ich mir nicht das hässliche Fitnessarmband von meiner Omi leihen“, setzte sie den Flirt fort.

Kibe fiel auf, wie mühelos dieser Influencer die Mädels um seine Finger wickelte.

Jetzt erst bemerkte Nele ihn.

Ah, hi, bist du Fionas Mentee Kibe? Ich hab dich schon als Black-Panther-Avatar in unserem SimSeminar gesehen. In Reality siehst du ja aus wie wir! Ich dachte, dass du einen Kimono trägst“, sagte Nele und klang enttäuscht.

Nein, Kimonos trägt man nur in Japan. In Kenia heißt unsere traditionelle Kleidung Kanga. Dieses Stofftuch ist mit einem farbigen Muster bedruckt … und oft auch mit einem afrikanischen Sprichwort“, erklärte Kibe geduldig. „Frauen wickeln sich die Kanga um den Oberkörper als Kleid und auch als Tragetuch für ihre Kinder. Männer wickeln sich die Kanga um die Taille. Heutzutage tragen die meisten Leute die Kanga aber nur zu besonderen Festtagen.“

Kibe zeigte Nele und Fiona ein paar Fotos auf seinem Smartphone.

Diese Fotos sind vom letzten Sommer, da fand in meinem Heimatdorf eine große Hochzeitsfeier statt, dafür haben einige ihre Kanga angezogen. Sogar ich. Ihr könnt hier sehen, dass der Stoff bei uns Kikuyu viel braune Farbe hat. Bei den Massai hat die Kanga mehr rote Muster.“

Das sieht echt nice aus“, fand Fiona. „Ich würde auch gerne mal eine Kanga tragen!“ Auch Nele war begeistert und abonnierte sofort den Hashtag #kanga auf InstaREAL.

Dann stiegen sie in eine Seilbahnkabine und schwebten hoch über die Stadt hinweg, sogar die Sonne zeigte sich. „Wow, das ist ein ganz anderes Feeling als die google Earth Simulation von Berlin“, sagte Kibe.

Foto von Huwani Zulu , frei nutzbar nach Pixabay License

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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia

Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur

Personen und Schauplätze

Die Autorinnen stellen sich vor

Titelbild: Foto von Gerd Altmann, frei nutzbar nach Pixabay License